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Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘

Thomas Faist, Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2022, 400 S., gb., 32,00 €
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Published/Copyright: July 21, 2023
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Thomas Faist, Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck 2022, 400 S., gb., 32,00 €


Die Geschichte der Soziologie seit dem 19. Jahrhundert ist geprägt von der „sozialen Frage“. Seit der Erfindung der Landwirtschaft und der Entstehung urbaner Zivilisationen gibt es in allen menschlichen Gesellschaften strukturell verfestigte soziale Ungleichheit. Erst das Gleichheitsversprechen der bürgerlichen Revolutionen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts hat die Schleier quasi-natürlicher oder religiös begründeter Ideologien soweit zerrissen, dass soziale Ungleichheit zu einer nicht mehr abweisbaren Frage geworden ist. Seitdem grundiert die Selbstreflexion über die Ursachen sozialer Ungleichheit und Möglichkeiten zu ihrer Überwindung gesellschaftspolitische Diskurse ebenso wie die Gesellschaftstheorien der Sozialwissenschaften. Gegen die frühen anarchistischen und marxistischen Antworten auf diese Frage, die als Lösung auf die Überwindung der staatlichen Ordnung abzielten, hat sich seit Ende des 19. Jahrhunderts jene Antwort durchgesetzt, die den Nationalstaat nicht mehr nur als Instrument von Klassenherrschaft betrachtet, sondern auch als Institution und Arena, in der mit den Mitteln von Politik und Recht soziale Ungleichheit und ihre Folgen bekämpft werden können. Das gilt jedenfalls für den europäischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat, unter anderen Vorzeichen aber auch für den Entwicklungsstaat in den ehemaligen Kolonien des globalen Südens.

In den Debatten um soziale Ungleichheit und sozialstaatliche Lösungen spielte Migration von Anfang an eine prominente Rolle – man denke etwa an die Analysen von Marx und Engels zur irischen Arbeiterklasse in England oder jene von Max Weber zu den polnischen Landarbeitern in Preußen. Migration taucht dabei jedoch vor allem unter dem Blickwinkel der Unterschichtung und Konkurrenzierung einer einheimischen Arbeiterschaft durch Zuwanderung auf. Gesellschaftstheorien und politische Positionen bleiben meist auf die Perspektive eines „methodologischen Nationalismus“ (Wimmer & Glick Schiller, 2002) beschränkt, der Migration nicht als das betrachtet, was sie ihrer Natur nach ist: ein grenzüberschreitendes Phänomen, das durch diese Grenzen getrennte Gesellschaften mit transnationalen Netzwerken überspannt und verbindet.

Thomas Faists Opus Magnum überwindet diesen beschränkten Blick systematisch und bahnbrechend. Versuchte man diese 400 Seiten lange Synthese der wichtigsten Debatten in der neueren Migrationsforschung in einem Kernsatz zusammenfassen, so könnte dieser lauten: Migration verwandelt die soziale Frage von einer nationalen in eine transnationale. Der Titel des Buchs weckt daher vielleicht falsche Erwartungen: „Exit. Warum Menschen aufbrechen. Globale Migration im 21. Jahrhundert.“ Es geht hier nicht lediglich um eine Analyse der individuellen Motive für Abwanderung oder der strukturellen „Treiber“ von Migration (auch wenn diese im ersten Abschnitt ausführlich diskutiert werden), sondern grundlegender darum, wie Migration die soziale Frage in Herkunfts- und Einwanderungsländern transfomiert und transnationalisiert.

Faists Buch gehört nicht in das Genre jener wissenschaftlichen Monographien, die eine provokante These gegen den Mainstream ihrer Disziplin ausbuchstabieren. Es versucht auch nicht, den beschriebenen sozialen Wandel durch eine Fülle empirischer Fakten und Daten zu belegen. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Diskursen und deren Aufklärung über Einsichten aus der Migrationsforschung. Der Umfang der Literatur, die dafür herangezogen und anschaulich verdichtet wird, ist beachtlich. Was sich der Rezensent erhofft hätte, wäre vielleicht doch häufiger die eigene Stimme des Autors zu vernehmen und auch schärfere Kritik an rivalisierenden Zugängen und analytischen Sackgassen.

Gegen Ende des Bandes präsentiert Faist Thesen zur Rolle der Migrationsforschung in der Öffentlichkeit. Er unterscheidet dabei zwischen drei Arten von Wissen, die von der Forschung produziert werden: instrumentelles Wissen von Expert:innen in der Politikberatung, problemorientiertes Wissen von Advokat:innen und „Normunternehmer:innen“, die sich in den Dienst zivilgesellschaftlicher Bewegungen stellen, und „orientierendes Wissen“ der öffentlichen Intellektuellen, deren Ziel die Reflexion und die Erstellung neuer mentaler Landkarten ist (S. 311). Was aber ist die Aufgabe, die Faist sich selbst gestellt hat? Sicherlich nicht jene der Handlungsanleitung für staatliche Politik und auch nicht jene einer kritischen Migrationsforschung, die normativ Position gegen staatliche Immigrationskontrolle bezieht. Das Buch ist aus der größeren Distanz sozialwissenschaftlicher Reflexion geschrieben und verknüpft einen Überblick über aktuelle Ansätze und Einsichten in der Migrationsforschung mit strukturellen Analysen der sozialen Frage und ihrer staatlichen Bearbeitung. Es wendet sich eher ans akademische Publikum als an die breite Öffentlichkeit. Aber die Zielvorgabe ist durchaus jene, die Faist öffentlichen Intellektuellen zuordnet: reflexives Orientierungswissen zu vermittlen und durch Erschließung neuer Perspektiven Diskursverschiebungen anzustoßen.

Der inhaltlich wohl gewichtigste und originellste Beitrag ist die Analyse der „Politik der sozialen Frage“ im zweiten Teil des Buchs. Faist versteht hier Migrationspolitiken als Konsequenzen staatlicher Antworten auf die soziale Frage. Dabei sind Migrationspolitiken im weitesten Sinn gemeint; diese umfassen nicht nur die Regulierung grenzüberschreitender Wanderungsbewegungen, sondern auch Integrationspolitiken in Einwanderungsländern und Diasporapolitiken von Herkunftsländern. Der Clou der Analyse liegt darin, dass die idealtypischen staatlichen Regime und deren Zielsetzungen (der Wettbewerbsstaat, der Entwicklungsstaat, der Rechtsstaat, der Sicherheitsstaat, der nationale bzw. transnationale Staat) nicht jeweils bestimmten Ländern zugeordnet werden – im Sinne einer international vergleichenden Kategorisierung von Staaten wie in Esping-Andersens bekannter Typologie von Wohlfahrtsstaaten (Esping-Andersen, 1990). Stattdessen versteht Faist diese Regimetypen als widersprüchliche Orientierungen für staatliches Handeln, die in der Regel gleichzeitig von unterschiedlichen Akteuren verfolgt werden. Er gruppiert Regime in Paare, die wie die entgegengesetzten Pole von Magneten ein Spannungsfeld für unausweichlich konflikthafte Migrationspolitik erzeugen. Zum Beispiel sind die liberal-demokratischen Einwanderungsstaaten des globalen Nordens sowohl Wettbewerbsstaaten, die um Migrant:innen als Humankapital konkurrieren, als auch Wohlfahrtsstaaten, die Arbeitskräfte mit sozialen Rechten ausstatten und vor externer Konkurrenz schützen wollen – Faist nennt dies das „Wohlfahrtsparadox“. Sie sind gleichzeitig Rechtsstaaten, die universelle Menschenrechte institutionalisieren und Nationalstaaten, für die Migration als potenzielle Bedrohung kultureller Homogenität und nationaler Sicherheit erscheint – das „Rechtsstaatsparadox“ (S. 237). Faist erweitert hier einen Ansatz, der zuvor ähnlich von James Hollifield (2004) und James Hampshire (2013) vorgestellt wurde, zu einem Analyseraster, der sowohl auf Einwanderungs- als auch Auswanderungskontexte anwendbar ist und den Zusammenhang zwischen Migrationspolitik und staatlichen Antworten auf die soziale Frage entschlüsselt.

Faist identifiziert über die Tiefenebene struktureller Widersprüche hinaus auch jene Akteure, die jeweils eine Seite der Paradoxien als Partialinteresse an staatlicher Migrationspolitik artikulieren: Unternehmer:innenverbände vertreten die Migrationspolitik des Wettbewerbsstaats, Migrant:innenorganisationen und internationale Gerichte die rechtsstaatliche Orientierung, Gewerkschaften jene des Wohlfahrtsstaats und Kulturkonservative die Priorität des nationalen Sicherheitsstaats. Konvergenzen bei der Befürwortung größerer Öffnung von Einwanderungsstaaten zwischen den ersten beiden bzw. Schließung zwischen den letzten beiden Paarungen von Akteuren führen jedoch selten zu politischen Koalitionen, weil diese quer zur Spaltung zwischen Rechts und Links stehen (S. 268). Die „strange bedfellows“ der Migrationspolitik (Zolberg, 2006) sind selten gewillt, das politische Bett zu teilen.

Ein nächster Analyseschritt, auf den Faist als Soziologe weitgehend, aber nicht gänzlich verzichtet, wäre es, auch normativ die Akteursperspektive einzunehmen und zu fragen, welche Migrationspolitiken denn liberale Rechtsstaaten und demokratische Wohlfahrts- oder Entwicklungsstaaten verfolgen, bzw. für welche Politiken staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure eintreten sollten. Aus dieser Handlungsperspektive verwandeln sich einige der von Faist skizzierten Paradoxien in Dilemmata. Diese als solche anzuerkennen und danach zu fragen, wie sie politisch bearbeitet werden können, wäre notwendig um festgefahrene Polarisierungen in gesellschaftspolitischen und sozialwissenschaftlichen Debatten zu überwinden (Bauböck et al., 2022).

Faists Buch enthält jedoch durchaus handlungsleitende Normen und politische Vorschläge. Im Vordergrund steht hier das Desideratum einer „fairen Migrationspolitik“. Was dies bedeuten könnte, erläutert er am Beispiel des „Triple-Win Projekts“ der Rekrutierung von philippinischen Pflegekräften durch Deutschland (S. 207–214). Trotz der Kritik, wie solche Projekte soziale Ungleichheit in Herkunfts- und Aufnahmeländern reproduzieren oder sogar verstärken können, kommt der Autor zum Schluss, dass sie das Spannungsverhältniss „zwischen marktliberaler Verwertung von Humankapital“ und „einer entwicklungsstaatlichen Perspektive, die auf eine regulierte Kommodifizierung unter Einhaltung von Sozial- und Menschenrechten der Migrant:innen zielt“ (S. 210) bearbeiten. „Von fairer Migration ... könnte allerdings erst dann gesprochen werden, wenn all drei Seiten gebührend berücksichtigt werden würden“ (S. 210). Was bisher fehlt, sei eine „eigenständige Stimme“ der Migrant:innen im Prozess der Aushandlung und Implementierung von Arbeitsmigrationsabkommen. Faists Schlussfolgerungen decken sich hier mit jenen von Bauböck und Ruhs (2022), die das normative Dilemma temporärer Arbeitsmigrationsprogramme als eines zwischen Grundsätzen binnenstaatlicher und globaler sozialer Gerechtigkeit begreifen.

Das Prinzip der „Einbeziehung aller betroffenen Interessen“ taucht in den abschließenden Thesen wieder auf – einerseits als Appell an die Migrationsforschung, die Perspektiven aller Beteiligten an Migrationsprozessen in die Analyse mit einzubeziehen (S. 313) und andererseits im politischen Vorschlag eines „weltweiten Parlaments für Migration und Flucht“, in dem „nicht nur die Regierungen von Herkunfts- und Zielländern und internationale Organisationen, sondern auch Migrant:innen selbst und von ihnen gebildete zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse berücksichtigt werden“ (S. 317).

Als Denkanstoß und Orientierungshilfe sind solche Ideen hilfreich, aber sie offenbaren auch eine Lücke zwischen der in Faists Buch dominanten Sozialstrukturanalyse und einer handlungsorientierten normativen Argumentation. Die migrationspolitischen Akteure (staatliche, zivilgesellschaftliche und internationale) operieren in einem politischen Feld, in dem sie institutionelle Spielregeln und Kräfteverhältnisse zwischen ihnen und anderen Akteur:innen berücksichtigen müssen, wenn sie ihre Ziele erreichen wollen. Das gilt auch für jene, die die transnationale soziale Frage egalitär und demokratisch beantworten wollen.

In vielen hochentwickelten Zielländern für Migration in Europa und Nordamerika haben sich in den letzten Jahrzehnten die Bedingungen für relativ offene und sozial inklusive Migrationspolitik deutlich verschlechtert. National- und sicherheitsstaatliche Anliegen dominieren die innenpolitische Agenda. Eine solche Einengung des politischen Diskurses und Handlungsspielraums hat auch mit einer neuen Brüchigkeit demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen zu tun, die von innen her durch elektorale Erfolge und Machtbeteiligung oder -ergreifung rechtsnationaler Parteien ausgehöhlt werden. Dieses Phänomen der „demokratischen Rezession“ (Diamond, 2015), d. h. der abnehmenden Zahl stabiler liberaler Demokratien, ist auch ein Resultat zunehmender politischer Polarisierung demokratischer Gesellschaften in Fragen der Migrationspolitik. Die von Faist analysierten Spannungen zwischen Wettbewerbs-, Wohlfahrts-, Rechts- und nationalem Sicherheitsstaat artikulieren sich nicht mehr primär als Konflikte zwischen Interessenverbänden wie Gewerkschaften und Unternehmerorganisationen, sondern werden zum Fokus innenpolitischer Konfrontationen. Das Migrationsthema trennt auch nicht mehr nur weltanschauliche politische Lager, sondern spaltet zunehmend Gesellschaften in jüngere, gebildetere und mobilere Bürger:innen auf der einen Seite, deren mentaler Bezugsrahmen eher europäisch als national ist, und ältere und sesshaftere Bevölkerungsgruppen, die Migration, Diversität und europäische Integration als Bedrohung traditioneller Lebenswelten wahrnehmen, vor der sie nur starke und geschlossene Nationalstaaten schützen können.

Eine ähnlich pessimistische Diagnose kann auch für die Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen gestellt werden. Die Offenheit von Staaten für Migration hängt nicht nur von ihrer internen Orientierung ab, sondern auch von regionalen und globalen internationalen Beziehungen. Die Epochen größter Offenheit in den Staaten des globalen Nordens waren jene von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg und vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Beginn des neuen Jahrtausends. In diesen Perioden wurden Kriege zwischen diesen Staaten erfolgreich eingehegt – bei gleichzeitiger imperialer Expansion, kolonialer Gewalt bzw. postkolonialer ökonomischer Ausbeutung im Verhältnis zum globalen Süden. Wenn wir nun in eine neue Epoche der Rivalität zweier Supermächte eintreten und diese neue Sicherheitsallianzen und Blockbildungen auslöst, so könnten sich die Bedingungen für multilaterale und globale Öffnung für und Regulierung von Migration zum wechselseitigen Nutzen der beteiligten Staaten und Migrant:innen deutlich verschlechtern.

Die binnenstaatliche Dynamik der demokratischen Rezession und die internationale Dynamik der neuen Sicherheitslage verstärken einander wechselseitig. Sie bewirken nicht nur, dass die Aussichten auf rationale Diskurse und entsprechende multilaterale Regulierung von Migration schwinden, sondern erschweren auch die wichtigste Aufgabe, die sich die internationale Staatengemeinschaft gesetzt hat: das Erreichen der globalen Klimaziele. Thomas Faist eröffnet den dritten Teil seines Buchs mit einem Überblick über die Debatten zum Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration. Er zeigt, wie sich diese Diskussion von einem Fokus auf den Entzug der Lebensgrundlagen für vulnerable Gruppen in eine optimistischere (neoliberale) Betonung von Resilienz und Adaptation durch Migration verschoben hat. Faist plädiert für eine „dritte Generation“ der Debatte, in der soziale Ungleichheit sowohl als Ausgangspunkt für klimabedingte Migration gesehen wird, als auch als deren Ergebnis. Während urbane Bevölkerungen tendenziell mehr Chancen zur Adaptation durch Migration haben, verfügen vom Klimawandel betroffene Landbevölkerungen im globalen Süden oft nicht über die notwendigen Ressourcen oder landen als Migrant:innen in Schuldknechtschaft und Zwangsarbeit (S. 294). Die transnationale soziale Frage taucht daher in der Klimakrise an zentraler Stelle auf und auch die Bearbeitung der öko-sozialen Frage hängt laut Faist von den Dynamiken staatlicher Regime ab, die im zweiten Teil des Buchs analysiert wurden (S. 296–300).

Auf alarmistische Szenarien der Klimaforschung reagieren Migrationsforscher:innen meist, indem sie die sozialen Netzwerkdynamiken von Migration betonen und darauf verweisen, dass der Klimawandel in erster Linie verstärkte Binnenmigration auslöst und weniger internationale Wanderungsbewegungen. Die Folgen der steigenden Durchschnittstemperaturen werden von den am stärksten Betroffenen oft nicht ursächlich mit dem Klimawandel in Zusammenhang gebracht. Und dessen Migrationseffekte sind, wie Faist betont, meist indirekte durch die Verstärkung anderer Migrationstreiber, wie etwa gewaltsame ethnische Konflikte zwischen nomadischen Viehzüchtern und Getreidebauern in Afrika. Aus diesen Gründen lehnt Faist, wie auch das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, die Einführung einer eigenen Kategorie von „Klimaflüchtlingen“ ab. Abgesehen davon, dass dies die ohnehin prekäre Solidarität der Staatengemeinschaft mit Geflüchteten überbelasten könnte, wäre die Feststellung des Klimawandels als Ursache erzwungener Migration im Einzelfall ebenso schwierig wie die Festlegung von Aufnahmepflichten von Staaten in einer Krise, für welche diese kollektive Verantwortung tragen.

Was jedoch, wenn die Perspektive der Klimawissenschaften auch für die Migrationsforschung neue Herausforderungen bereithielte? Faists Diskussion des Zusammenhangs zwischen Klimawandel und Migration beruht implizit auf Annahmen, die man einem „mittleren Szenario“ zuordnen könnte. Das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf nicht mehr als 1,5 Grad ist kaum mehr erreichbar. Was nun droht, ist eine Zunahme sowohl von rasch einsetzenden Wetterkatastrophen als auch langsam einsetzender Umweltzerstörung durch Dürreperioden und den Anstieg des Meeresspiegels. Die Folgen dieser Phänomene für Migration sind überwiegend lokale. Gegen die Befürchtung der Klimaforschung, dass es bei den CO2 Emissionen zu einer Überschreitung von Kipppunkten kommt, mag man optimistisch auf ökonomische Kipppunkte hoffen, die klimaschädliche Technologien rasch unrentabel machen. Der globalisierte Wettbewerbsstaat alleine wird dafür jedoch kaum ausreichen. Was es für die Erreichung der global vereinbarten Klimaziele bräuchte, wäre eine neue Ordnung im internationalen Staatensystem.

Grob verallgemeinernd ließe sich sagen, dass nach 1945 die zentrale normative Herausforderung für das Staatensystems darin bestand, Frieden in der Konfrontation der Blöcke im Kalten Krieg zu sichern. Nach 1990 lag die wichtigste Aufgabe darin, Entwicklung im Globalen Süden durch Globalisierung zu ermöglichen. In der Zukunft wird es die entscheidende Aufgabe sein, die Klimakatastrophe abzuwenden, abzumildern oder Anpassungen an sie zu ermöglichen. Der Unterschied zu den beiden früheren Epochen seit dem Zweiten Weltkrieg liegt darin, dass es jetzt um ein Ziel geht, das einen Strukturwandel der Staatenordnung erfordert. Frieden wurde durch internationale und zwischenstaatliche Abkommen erreicht, Globalisierung durch international koordinierte Deregulierung nationaler Märkte. Die Klimaziele sind dagegen ein globales Kollektivgut, das nur durch kollektives Handeln der Staatengemeinschaft erreicht werden kann. Dafür ist deren dezentralisierte Struktur souveräner Nationalstaaten denkbar ungeeignet. Die durch die Rivalität der Großmächte USA und China und die Aggressionspolitiken regionaler Mächte wie Russland ausgelöste neue Sicherheitsdynamik könnte schlimmstenfalls auch internationale Kooperation zur Abwendung der Klimakatastrophe gefährden.

Ein deutliches Verfehlen dieser Ziele und eine Erderwärmung von 3 bis 4 Grad könnte auch bisherige Annahmen zu den Migrationseffekten obsolet machen. Wenn es nicht mehr „nur“ um das Verschwinden pazifischer Inselstaaten geht, sondern die weltweite Überflutung von Küstenregionen mit Millionenmetropolen und nicht mehr „nur“ um forschreitende Desertifikation der Sahelzone, sondern Unbewohnbarkeit breiter Kimazonen nördlich und südlich des Äquators, dann könnte es statt zur von Faist diskutierten Adaptation durch Exit auch zu einem massenhaften Exodus in kontinentale Hinterländer und kühlere Klimazonen kommen – mit unabsehbaren sozialen und politischen Folgen. Es ist nicht Aufgabe der Migrationsforschung, solche „realistischen Dystopien“ im Detail auszumalen oder gar zu prognostizieren. Aber sie sollte diese auch nicht ausklammern und ihre motivierende Kraft, die sich in der Klimabewegung zeigt, unterschätzen.

Thomas Faists Buch schließt mit einer Reflexion über die Funktion von Grenzen. Gegen die Utopie der radikalen Öffnung politischer Grenzen und die nationalistische Behauptung von Souveränität durch Grenzschließung betont er, dass Grenzen sowohl trennen als auch verbinden und „überhaupt erst die (friedliche) Koexistenz von zwei oder mehr sozialen Einheiten erlauben.“ Voraussetzung dafür sei jedoch, „dass die Akteur:innen ungefähr gleichen Status besitzen“ (S. 331). Diese Leitidee von Grenzen als Membranen ließe sich nicht nur auf die transnationale soziale Frage anwenden, sondern auch auf eine notwendige Transformation des Staatensystems, um die drohende Klimakatastrophe abzuwenden und Migration im Interesse aller Beteiligten global zu regulieren.

Literatur

Bauböck, R. & Ruhs, M. (2022). The elusive triple win: addressing temporary labour migration dilemmas through fair representation. Migration Studies,10, 528–52.10.1093/migration/mnac021Search in Google Scholar

Bauböck, R., Mourão Permoser, J., & Ruhs, M. (2022). The ethics of migration policy dilemmas. Migration Studies,10, 427–41.10.1093/migration/mnac029Search in Google Scholar

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Online erschienen: 2023-07-21
Erschienen im Druck: 2023-07-31

© 2023 Rainer Bauböck, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Die Transnationale Soziale Frage. Anmerkungen zu Thomas Faists ‚Exit‘
  6. Staatsbürgerschaft und die Transnationalisierung der sozialen Frage. Eine Reflexion über Thomas Faists Buch „Exit“
  7. Die Neubestimmung der sozialen Frage im Licht globaler Migration
  8. Essay
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  15. Anne K. Krüger, Soziologie des Wertens und Bewertens. Bielefeld: Transcript 2022. 200 S., kt., 20,00 €
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  17. Vincent Gengnagel, Im Dienste ihrer Exzellenz. Der Beitrag der Sozial- und Geisteswissenschaften zur europäischen Vergesellschaftung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 305 S., br., 39,95 €
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  19. Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., 26,00 €
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  32. Rezensentinnen und Rezensenten des 2. Heftes 2023
  33. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2034/html
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