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Matthias Meitzler, Norbert Elias und der Tod: Eine empirische Überprüfung. Wiesbaden: Springer VS 2022, 128 S., kt., 29,99 €

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Published/Copyright: July 21, 2023
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Rezensierte Publikation:

Matthias Meitzler, Norbert Elias und der Tod: Eine empirische Überprüfung Wiesbaden: Springer VS 2022, 128 S., kt., 29,99 €


Die Thanatosoziologie ist noch immer eine randständige ‚Bindestrichsoziologie‘, die sich aber in den letzten Jahren sowohl hinsichtlich der theoretisch-konzeptionellen Zugriffe auf das Thema Lebensende als auch hinsichtlich der empirisch untersuchten Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Umgangs mit Sterben, Tod und Trauer zu einem recht produktiven Feld entwickelt hat, inkl. jüngster Institutionalisierungsversuche im Fach in Form eines thanatosoziologischen Arbeitskreises innerhalb der DGS. Die immer reger werdende soziologische Beschäftigung mit dem Thema liegt nicht zuletzt daran, dass sich der sozio-kulturelle Wandel im Zuge fortschreitender Modernisierung hier gleichsam wie in einem Brennglas identifizieren und aufzeigen lässt. Somit hat die Thanatosoziologie eine gegenwartsdiagnostische Funktion mit gesellschaftstheoretischer Bedeutung, die über das vermeintlich enge eigentliche Forschungs- und Diskussionsfeld hinausreicht. In diesen Kontext ist auch das Buch von MatthiasMeitzler einzuordnen. Grundidee ist das Vorhaben, Norbert Elias als Klassiker der (Thanato-)Soziologie mit aktueller Forschung zum Lebensende zusammenzubringen, „nach seiner Aktualität [zu] befragen“ (S. 18) und dabei eine zeitdiagnostische mit einer gesellschaftstheoretischen Perspektive zu verbinden – so zumindest lesen sich die Hinweise, die der Verfasser selbst zur Zielstellung seines Buches gibt (S. 12, 19).

Insgesamt besteht das Buch aus neun Kapiteln, wobei die ersten vier die Darstellung von Elias‘ Werk und soziologischer Perspektive zum Schwerpunkt haben, die folgenden vier aus der ‚empirischen Konfrontation‘ bestehen und das letzte Kapitel ein resümierendes Fazit bietet. Für den Einstieg (Kap. 1) wählt Meitzler Elias‘ Einlassungen zur „Zivilisationsgeschichte des Tötens“ (S. 11) und legt damit den Grundstein für die soziologische Perspektive auf Gesellschaft im Allgemeinen und das Lebensende im Besonderen als historisch variable, sozio- und psychogenetisch begründete Realisationen von gesellschaftlichen Wirklichkeiten. Gegenstand des vorliegenden Buches sind dann genau solche modernen „Figurationen des Todes“ (S. 12). Dabei geht es heute weniger um das Töten als soziale Praxis (wobei sich das am Beispiel der Debatte um die Beihilfe zur Selbsttötung als gesellschaftliches Problem gut diskutieren ließe), sondern insbesondere um das Sterben (eines anderen) als Erfahrung (der Weiterlebenden) und den Tod als Bewältigungsaufgabe für die trauernden Hinterbliebenen. Im Zuge der Skizzierung der Entwicklung und des aktuellen Stands der Thanatosoziologie (Kap. 2) bekräftigt Meitzler die soziologische Relevanz einer Beschäftigung mit gesellschaftlichen Fragen rund um das Lebensende, da sich hier vor allem auch verschiedene Aspekte zu Gesellschaft und sozialem Wandel ableiten und bearbeiten lassen, wie z. B. die aufgelöste Selbstverständlichkeit einer vermeintlich ‚naturhaften Eindeutigkeit‘ der Grenze zwischen Leben und Tod sowie die Pluralisierung des Lebensendes angesichts eines individualisierten Verhältnisses von Leben, Sterben, Tod und Trauer. Damit wird heute mehr denn je deutlich, „dass nicht die Toten, sondern die Lebenden das Sterblichkeitsproblem bewältigen müssen“ (S. 17). Im Anschluss wird Elias‘ wissenssoziologische Perspektive entfaltet (Kap. 3), die gerade für das Lebensende interessant erscheint, weil sich hier die grundlegende Frage stellt, welches Wissen zur Legitimation und praktischen Ausgestaltung von Sterben und Tod gesellschaftlich überhaupt in Anschlag gebracht werden kann. In diesem Kapitel finden sich darüber hinaus interessante Hinweise zum diversen ‚Todesbezug‘ in Elias‘ Arbeiten, der im Anschluss unter der zivilisationstheoretischen Perspektive mit Fokus auf das themenbezogene Hauptwerk „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“ (1982) nochmals genauer aufgegriffen wird (Kap. 4). Für seine Relektüre knüpft Meitzler zentral an die dort von Elias entwickelte Zeitdiagnose, genauer: Zeitkritik an, in der er eine Verdrängung von Sterben und Tod aus dem Alltag und der gesellschaftlichen ‚Geschäftigkeit‘ konstatiert, die in der Abschiebung der Sterbenden „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“ (Elias, 1982, S. 38) kulminiert. Insgesamt weisen die ersten vier Kapitel hier und da einige Redundanzen auf, wichtiger jedoch erscheint folgender Hinweis zum analytischen Vorgehen: Meitzler geht es, wie er selbst vermerkt, neben dem Abgleich der eigenen Erkenntnisse mit der damaligen Zeitdiagnose von Elias auch darum, die „Anschlussfähigkeit des Elias’schen Theoriegebäudes für empirische Analysen konkreter Gegenwartsphänomene aufzuzeigen“ (S. 19). Letzteres erscheint als die für die Weiterentwicklung der Thanatosoziologie ertragreichere der beiden Zielstellungen des Buches und ist in den Ausführungen auch durchaus an verschiedenen Stellen erkennbar. Schade ist, dass dieser Aspekt insgesamt eher unterbelichtet bleibt und über allgemeine Interpretationsangebote und vereinzelte Theoriebezüge kaum hinaus geht. Das Potenzial hätte ggf. noch besser ausgeschöpft werden können, wenn für die empirische Überprüfung der Zeitdiagnose und mehr noch für die Analyse aktueller Phänomene mit Elias die wissens- als figurations- und prozesssoziologische Perspektive im Sinne einer konzeptionellen Heuristik systematisch fruchtbar gemacht worden wäre.

Die empiriebasierte Überprüfung der Aktualität der Elias’schen Zeitdiagnose unternimmt Meitzler dann anhand zahlreicher Studien aus den Bereichen Bestattungskultur und Trauer bzw. Erinnerungsarbeit, an denen er selbst beteiligt war. Insofern liegt hier für manche Themenbereiche aus dem Spektrum Lebensende ein reicher Empiriefundus vor, was die Relektüre des soziologischen Klassikers besonders interessant und lohnend erscheinen lässt. Andere Themenbereiche, die für die Relektüre angeführt werden, vor allem der bei Elias im Zentrum stehende Umgang mit Sterbenden, ist hingegen vom Autor selbst empirisch weniger gut unterfüttert. Die Analyse hätte hier durch einen erweiterten Einbezug des aktuellen Forschungs- und Diskussionsstandes bereichert werden können. Zu den Kapiteln im Einzelnen: Auch wenn die Reihenfolge der empirischen Beispielfelder etwas willkürlich erscheint, bieten sie den Leser:innen instruktive Hinweise auf eine aktuelle Kultur des Todes. Mit Blick auf Trauerpraktiken (Kap. 5) kann z. B. gezeigt werden, dass angesichts von Pluralisierung und Individualisierung die klassische Grabstätte zugunsten persönlicher Erinnerungspraktiken, -materialisierungen (z. B. Aschediamanten) und -lokalisierungen (z. B. Urne im Wohnzimmer) an Relevanz verloren hat. Meitzler spricht hier von der „Delokalisierung“ (S. 44) von Trauer. Man könnte auch sagen, die Trauer verlagert sich zunehmend ins Private, weiter ‚hinter die Kulissen‘ des gesellschaftlichen Lebens. Gleichzeitig diffundiert privatisierte Erinnerungs- und Trauerarbeit aber in unterschiedlicher Form und gleichsam multilokal in den öffentlichen Raum (z. B. Ghost Bikes, Unfallkreuze, Internet) bis hin zu Parkfriedhöfen, die freizeitliche Entspannung mit Totengedenken amalgamieren (Kap. 7). Solche spannenden, (scheinbar?) paradoxen Entwicklungen müssten über die Feststellung einer „Pluralität des Trauerns“ (S. 46) hinaus noch weiter vertieft werden. Welche Rückschlüsse lassen sich hier zu Akzeptanz und Integration vs. Verdrängung und Verschwinden von Tod und Trauer ziehen? Was sagt es aus, wenn Friedhöfe heute als „Oasen der Entschleunigung“ (S. 69) beworben werden? Werden Todesorte damit wirklich „zurück in die ‚Mitte des Lebens‘“ (S. 69) geholt oder nicht eher in neuer Form verdrängt, weil als Lebensorte umgedeutet? Ist anhand der vom Verfasser genannten Beispiele statt von einer Verdrängung im Elias’schen Sinn eher von einer Entgrenzung bzw. Hybridisierung von Leben und Tod im öffentlichen und im privaten Raum zu sprechen? In einem zweiten Beispielbereich (Kap. 6) begegnet Meitzler der Elias’schen These der Sprachlosigkeit als Symptom der Tabuisierung von Sterben und Tod – und hier erneut mit Blick auf Trauernde (und nicht z. B. auf Sterbebegleitung). Selbst von dieser alltagsweltlichen Sprachlosigkeit betroffen, scheinen Hinterbliebene die These zu bestätigen und zugleich zu widerlegen, weil sie im Rahmen von Interviews über ihre Trauer reden. Zur Einordnung dieses Befundes wäre auf unterschiedliche Rahmen legitimer ‚Todes-Kommunikation‘ als institutionalisierte Sprechweisen zu verweisen, wonach es auf das soziale Setting (Privatgespräch vs. Interview) ankommt, ob und wie über Trauer gesprochen werden kann oder nicht. Im dritten Beispielfeld (Kap. 7) wird auf aktuelle Trends in der Begräbniskultur Bezug genommen. Hier beschreibt und reflektiert der Verfasser ebenfalls sehr anschaulich bspw. interessante Entwicklungen einer individualisierten Grabgestaltung – obwohl man beim Lesen über das verkürzte Verständnis von Individualisierung stolpert, wenn diese in der Interpretation mit Individualität und Einzigartigkeit in eins gesetzt wird (S. 76), was zumindest nicht der, im Buch auch referenzierten, soziologischen Verwendung des Konzepts im modernisierungstheoretischen Kontext nach Ulrich Beck entspricht. Im letzten Beispielfeld (Kap. 8) geht Meitzler auf den zentralen Aspekt der Elias’schen Zeitkritik ein, den Umgang mit Sterbenden. Dieses Mal nicht entlang eigener Empirie, sondern unter Rückgriff auf selektive Literaturbelege skizziert der Verfasser das einsame Altsein, das zu einem ebenso einsamen Sterben in stationären Pflegeeinrichtungen führe (S. 88), während die Hospizbewegung zwar Veränderung im Umgang mit Sterben und Sterbenden bewirkt habe, aber nicht vermöge, den „konventionellen ‚Sterbeinstitutionen‘ Klinik und Pflegeheim ernsthafte Konkurrenz zu machen“ (S. 92). Dass es seit längerem Debatten und Anstrengungen rund um die hospizliche Begleitung bspw. auch in der stationären Altenpflege gibt und es mithin primär um die Frage der Institutionalisierung und organisationalen Umsetzung von Hospizkultur und Palliativkompetenz in unterschiedlichen Settings geht, müsste hier genauso ergänzt werden wie die Effekte der Hospizbewegung auf den gesellschaftlichen Diskurs zum Lebensende. So wäre bspw. die vom Verfasser angemerkte (kritische Debatte um die) Einsamkeit der Sterbenden in Zeiten von Corona gerade vor diesem Hintergrund als Indiz für eine veränderte Vorstellung eines angemessenen Umgangs mit Sterben(den) zu lesen. Zum Schluss (Kap. 9) resümiert Meitzler seine Erkenntnisse im Sinne einer ambivalenten Positionierung zur Elias’schen Zeitdiagnose mit dem Fazit: „Weil sich die Figurationen der Menschen untereinander gewandelt haben, sind neue Bedingungen und Orte des Sterbens entstanden“ (S. 100) und diese gelte es, vor dem Hintergrund des jeweiligen historischen Kontextes differenzierter in den Blick zu nehmen, wofür Elias „zahlreiche Anschlussmöglichkeiten“ bereithält (S. 101).

Insgesamt bietet das Buch eine fundierte und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit der Elias’schen Thanatosoziologie und eine durchaus instruktive und gewinnbringende Diskussion zu deren Aktualität im zeitdiagnostischen Vergleich. Insbesondere die interpretative Verknüpfung der Forschungen zu unterschiedlichen Themen rund um das Lebensende (genauer: zum Umgang mit Tod) sind als konstruktiver Versuch einer Integration der inzwischen immer vielfältiger werdenden Thanatoforschung positiv zu werten. Dabei wirft Meitzler mit seinem Buch viele Fragen auf und regt seine Leserschaft zum Nach-, Mit- und Weiterdenken in Richtung einer auf den Schultern von Elias stehenden gesellschaftstheoretischen Fruchtbarmachung der Forschung zum Lebensende an.

Literatur

Elias, N. (1982). Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-07-21
Erschienen im Druck: 2023-07-31

© 2023 Stephanie Stadelbacher, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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