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Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., 26,00 €

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Published/Copyright: July 21, 2023
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Rezensierte Publikation:

Johannes F. Burow, Beieinander an getrennten Orten. Leibliche Interaktionen in Videokonferenzen. Baden-Baden: Nomos 2022, 99 S., kt., Preis 26,00 €


Als diese Rezension im März 2023 verfasst wurde, sind fast alle Maßnahmen, die die COVID-19-Pandemie mit sich gebracht hat und die das Infektionsgeschehen eindämmen sollten, aufgehoben. Ein wesentlicher Teil dieser Maßnahmen bestand in dem, was missverständlicher Weise als „social distancing“ bezeichnet wurde und die räumliche Distanz von Menschen zum Ziel hatte. Eine der Folgen dieser räumlichen Distanz war, dass viele Menschen sowohl im privaten als auch beruflichen Leben mit ihren Mitmenschen vor allem im Rahmen von Videokonferenzen interagiert haben. Diese Interaktionsform hat die Soziologie zu neuen Fragestellungen inspiriert. Das vorliegende Buch reiht sich da ein und bietet eine soziologische Perspektive auf Videokonferenzen an. Es geht dabei einer sehr spezifischen Fragestellung nach: Wird in Videokonferenzen leibliche Nähe hergestellt und wenn ja, wie? Sein Autor, Johannes F. Burow, behauptet, dass die bestehenden soziologischen Interaktionstheorien nicht in der Lage seien, überörtliche und medial vermittelte Kommunikation zu analysieren und meint, dass sie nicht erforschen können, wie örtlich distanzierte „leibliche Kommunikationen und Dynamiken während Videokonferenzen zutage treten“ (S. 36). Diese Forschungslücke will Burow schließen. Auf den ersten Blick bespielt das Buch damit eine der Lebenspraxis vieler Menschen nahestehende Fragestellung. Wie das allerdings häufig bei soziologischen Büchern ist, löst sich diese Nähe während der Lektüre auf.

Nach einer etwas oberflächlichen, den deutschen Soziologiebetrieb fokussierenden Literaturrevue stellt Burow seine theoretische Perspektive vor: die Neophänomenologie von Hermann Schmitz sowie die darauf aufbauende Neophenomenologische Soziologie nach Robert Gugutzer. In Schmitzens Leibphänomenologie „ist der Leib das, was man von sich selbst spürt, im Gegensatz zu dem Körper, der das ist, was man von sich sieht oder tastet, also sinnlich wahrnimmt“ (S. 23, Herv. i. O.). Schmitz entwirft ein Alphabet des Leibes, das manchmal wie ein etwas hilfloser Versuch wirkt, die Komplexität des (Mikro-)Sozialen zu fassen. Da geht es um Weite und Enge, Intensität und Rhythmus u.v.m. und man kann sich unter all dem schon etwas vorstellen – trotzdem bleibt alles recht weit davon entfernt, selbst in einer soziologisch informierten, verständlichen Alltagssprache integriert werden zu können. Wer das Schmitzsche Vokabular und die entsprechende Grammatik nicht kennt, dem erschließt sich der gesamte Erklärungsraum dieser Theorie nicht. Hinzu kommt, dass das hier besprochene Buch schlichtweg zu kurz angelegt ist, um die umfassende Begriffsarchitektur so darzustellen, dass sie auch jene, die nicht bis zum Hals in der Neophänomenologie stecken, vollumfänglich verstehen können.

Bis zu diesem Punkt ist zudem keine signifikante soziologische Herangehensweise erkennbar, da es sich beim vorgestellten Leibverständnis um intrapersonelle Phänomene handelt. Durch die Einführung des Atmosphärenbegriffs (S. 26) ändert sich dies erfreulicherweise schlagartig. Atmosphären sind nach Schmitz „Stimmungen[, die sich] im Raum ergießen und nicht von einzelnen Personen empfunden werden, sondern eher zwischen ihnen und um sie herum und von dort auf sie einwirken“ (S. 26). Sie existieren also zwischen Menschen im Raum. Dieserart Atmosphären können einzelne Menschen ergreifen, sodass sie leiblich werden, dass sie also gespürt werden. Menschen hätten aber auch die Möglichkeit, sich dem zu widersetzen (S. 27). Atmosphären können einen „Quasi-Leib“ (S. 27) bilden, das ist eine Art überpersoneller Leib, der gleichsam gemeinsam spürt – und gespürt wird. Einige Beispiele illustrieren und plausibilisieren dieses Verständnis von Atmosphären (gemeinsames Singen, Nationalstolz, religiöse Andachten). Am Ende des Theoriekapitels stellt Burow seinen Arbeitsbegriff vor: den „Leiberspace“ (S. 31). Im Gegensatz zum Cyberspace entstünden in Videokonferenzen keine Parallelwelt sondern „übergreifende Quasi-Leiber oder Atmosphären zwischen den Usern“ (S. 54), welche das übergreifende „unbewusste leibliche Empfinden“ (S. 34) der User:innen in Videokonferenzen ermöglichten. Genauso wie zwischen Menschen in Face-to-Face-Situationen Atmosphären und ein übergeordneter, überpersoneller Quasi-Leib entstehen kann, ist dies auch für Videokonferenzen der Fall. Die spezifischen Ausprägungen, Probleme, Grenzen und Potenziale dieses Online-Quasi-Leibs werden mit dem „Leiberspace“ geschickt und verständlich auf den Begriff gebracht.

Auf die Lösung des Problems, wie ein derart operationalisierter Leibbegriff empirisch erforscht werden kann, war der Rezensent sehr gespannt! Denn wenn der Leib das nicht sinnlich Wahrnehmbare, sondern das (nichtsinnlich?) Spürbare ist, und empirische Methoden letztlich auf sinnliche Wahrnehmungen angewiesen sind, ergibt sich ein Problem. Burow entscheidet sich kurzerhand für eine klassische Interviewstudie. Zwar berichtet er auch von einem „ethnographischen Feldzugang“ und von „ethnographischem Erleben“ (S. 39), wobei unklar bleibt, was damit gemeint ist. Eine Ethnographie ist mehr, als dass Forschende das untersuchte Phänomen irgendwann selbst auch mal erlebt hätten. Auch sind nicht das ethnographische, sondern das „halb-strukturierte narrative Leitfaden-Interview“ (S. 40) für Burow das Erhebungsverfahren der Wahl. Es wurden fünf Personen, mehrheitlich aus dem Bekanntenkreis des Autors, interviewt. Da von einem sehr einfachen Feldzugang berichtet wird (S. 42), ist unklar, warum die Fallzahl so gering gehalten wurde. Sind Videokonferenzen wirklich so simple und banale Situationen, dass schon bei so wenigen Fällen die Variations- und Verdichtungsmöglichkeiten der einzelnen Konzepte ausgeschöpft werden können?

Überraschend ist nach der ausführlichen Vorstellung der theoretischen Herangehensweise (Neophänomenologie, Alphabet des Leibes etc.) auch die Wahl der Grounded Theory als Auswertungsmethode der empirischen Daten. Bislang hat der Rezensent Grounded Theory als die abduktive Herstellung von Theorie aus empirisch gewonnen Daten verstanden, die eine (mindestens angestrebte) theorielose Herangehensweise voraussetzt. Doch Burow erfindet eine Zwischenstufe, degradiert die Grounded Theory und behauptet, dass sie lediglich eine „vorläufige Theorie“ (S. 46) herstellt, die dann in eine gleichsam übergeordnete soziologische Theorie (im vorliegende Falle in die Neophänomenologie) eingeordnet wird. Grounded Theory-Purist:innen stehen spätestens jetzt die Haare zu Berge.

Das macht aber nichts, denn der Rezensent zählt sich nicht zu diesen, sondern freut sich auf die im Ergebnisteil vorgestellten Erkenntnisse der Studie. Diese können wie folgt zusammengefasst werden: Videokonferenzen produzieren zwar Probleme bei der Herstellung von leiblicher Nähe, die in Face-to-Face-Situationen nicht auftreten. Es existieren aber erfolgreiche Wege, Übungen und Praktiken, die diese Probleme abmildern oder auch lösen. Daher entstehen auch in Videokonferenzen Atmosphären (im oben beschriebenen Sinne), es entstehen also Stimmungen und Emotionen zwischen den Interaktionspartner:innen, die auf leibliche Nähe hinweisen. Näher am neophänomenologischen Vokabular formuliert zeigt sich, dass „es erfolgreiche Wege gibt, um Einleibungen während Videokonferenzen zu unterstützen und auch wechselseitige antagonistische Einleibungen zu ermöglichen. Es [wird] offenbar, dass trotz der ortsräumlichen Distanz und trotz vieler technischer und leibkommunikativer Probleme im vitalen Antrieb zwischen den Leibern einer Videokonferenz Spannung und Schwellung abwechselnd hin und her wechseln können – dass leibliche Interaktion stattfinden kann“ (S. 75).

Die mit der Studie herausgearbeiteten Grenzen und Probleme leiblicher Kommunikation sind wenig überraschend – alle, die schon mal an einer Videokonferenzen teilgenommen haben, kennen sie: Probleme mit der Internetverbindung, Vermischung von Privatem und Beruflichem etc. (S. 48–52) Vier interessante, weil überraschendere Ergebnisse sollen hier noch behandelt werden:

Erstens wird gezeigt, dass in Videokonferenzen nicht alle Sinne in gleichem Maße verwendet werden können, wie dies in Face-to-Face-Situationen möglich ist. Dies wird als Mangel an „Tiefe der Atmosphäre“ (S. 57) beschrieben; Emotionen werden nicht in dem Ausmaß gespürt, wie dies aus Situationen unter Anwesenden bekannt ist, wobei auch Stille eine Rolle spielt (S. 58). In der Kommunikation fehlen die Feinheiten, sie ist auf Worte und eine beschränkte Gestik beschränkt und durch die Technik determiniert. Das alles führt dazu, dass Emotionen schwieriger wahrzunehmen und zu deuten sind. Es fehlt an emotionaler Tiefe. Dies illustriert Burow anhand von Beispielen aus der Sorgearbeit (z. B. Trauer, Mitleid) sehr gut.

Zweitens findet Burow trotz der klaren räumlichen Ferne der Interagierenden, Unsicherheiten beim Sprechen über Ort und Raum vor (S. 54). Das Erleben eines gemeinsamen Raumes, die räumlichen Einleibungen und der gemeinsame „Leiberspace“ stehen in einem Widerspruch zu der geographischen Ferne der Interagierenden. Dieser Widerspruch ist sprachlich nicht einfach aufzulösen und führt zu Unsicherheiten.

Drittens werden einleibende Blicke als wichtiges Instrument zur Herstellung von Nähe in Face-to-Face-Situation genannt. Ein bedeutender Vorteil von Videokonferenzen gegenüber dem Telefonat ist, dass Blicke grundsätzlich möglich sind. Doch sind diese schwieriger zu deuten, da die Blickrichtung aus technischen Gründen unklar ist (S. 61). Dazu gehören auch Phänomene wie das absichtliche Abstellen der Videofunktion am Computer um Nähe zu vermeiden bzw. um eine Verweigerung der Teilname am „Leiberspace“ zu signalisieren.

Und viertens wird gezeigt, dass die fehlende leibliche Nähe und die Distanziertheit auch großes Potenzial besitzt, nämlich in solchen Situationen, in denen leibliche Nähe unerwünscht ist oder aus Gründen des Schutzbedürfnisses Vorteile bietet.

Neben den oben beschriebenen diskussionswürdigen Punkten des Forschungsdesigns und der methodologischen Umsetzung, bleibt die Frage nach der Erweiterung oder Präzisierung der neophänomenologischen Soziologie auf halbem Wege stehen. Zwar bietet die Studie mit der Entdeckung des „Leiberspaces“ einen interessanten begrifflichen Ansatzpunkt, um eine theoretische Anpassung vorzunehmen. Eine Systematisierung desselben bleibt allerdings aus.

Abschließend ist noch der Umfang des Buches bemerkenswert. Mit gut 80 Seiten Text (ohne wissenschaftlichem Apparat), ist es für ein soziologisches Buch eher kurz, für einen wissenschaftlichen Artikel jedenfalls zu lang. Es wäre interessant gewesen, zu erfahren, wie es zur Wahl dieses ungewöhnlichen Formats gekommen ist. Der Rezensent findet es jedenfalls nachahmenswert.

Online erschienen: 2023-07-21
Erschienen im Druck: 2023-07-31

© 2023 Werner Reichmann, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2019/html
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