Startseite Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
Artikel Open Access

Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?

Zu Robert Gugutzers Rezension „Verächter des Leibs – Verfechter des Fleisches“ (2022) in der Soziologischen Revue, 45(2), S. 171–180.
  • Jörg Michael Kastl EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 6. Dezember 2022
Veröffentlichen auch Sie bei De Gruyter Brill

Rezensierte Publikation:

Zu Robert Gugutzers Rezension „Verächter des Leibs – Verfechter des Fleisches“ ( 2022 ) in der Soziologischen Revue, 45(2), S. 171-180.


Einleitung und Gegendarstellung

Robert Gugutzer hat mir in seiner Rezension meines Buches „Generalität des Körpers“ vorgeworfen, ich würde Hermann Schmitz als Nationalsozialisten verunglimpfen, dagegen „über die politische Gesinnung des wiederholt genannten Heidegger“ kein einziges Wort verlieren (Gugutzer, 2022, S. 176). Das trifft zwar nicht zu (vgl. Kastl, 2021, S. 77). Um aber keinen Zweifel zu lassen, habe ich meine diesbezügliche Position noch mal plakativ in der Überschrift formuliert. Wie man sieht, ist für mich der Fall Heidegger klar. Dass Heidegger ein Nationalsozialist war, darüber kann heute kein Zweifel mehr bestehen. Diskutiert werden kann allenfalls, wie lange er das war, in welchem Sinne und mit welchem Selbstverständnis. Was Schmitz betrifft, so werfe ich, wie man sieht, eine Frage auf.

Der „Skandal“, um den es hier geht (Gugutzer, 2022, S. 173 f.), ist aus meiner Sicht nicht das Leibkonzept Schmitz’ als solches. Über das kann man – unabhängig von den politischen Orientierungen seines Autors – kontrovers diskutieren und mit dem weiterarbeiten, was man daran für überzeugend hält. Das genau tue ich in meinem Buch. Der Skandal kann also auch nicht darin liegen, auf faktische Anschlüsse und Anschlussmöglichkeiten an neofaschistische Deutungsstrukturen hinzuweisen. Dass diese bestehen, wurde bereits kurz nach Erscheinen des Buches in mindestens zwei Rezensionen registriert und analysiert (Heubel, 2003; Landkammer, 2000). Sie wurden von den Schmitzianern ebenso totgeschwiegen wie das Hitlerbuch selbst. Es wird, wenn überhaupt erwähnt, in einer Weise verharmlost und selektiv rezipiert, die in der Tat an die anfängliche Verdrängung, Umdeutung und Bagatellisierung der Rektoratsrede oder anderer Äußerungen und Texte von Heidegger erinnert. Mit Schmitz weiterzuarbeiten, erfordert aber – ebenso wie bei Heidegger – sich darüber bewusst zu sein, dass man teilweise mit gefährlichem Material hantiert. Um diese Art von Umsicht geht es.

Die Redaktion der Soziologischen Revue hat der Ausgabe 2/2022 – vorsorglich? – eine merkwürdig ausführliche Reflexion über Probleme der Textgattung „Rezension“ und des Umgangs damit vorausgestellt. Zitiert wird darin unter anderem eine Position, nach der es „keinen guten Eindruck“ erwecke, „wenn sich ein kritisierter Autor zu einer Replik hinreißen lasse“ (Schulz-Schaeffer, 2022, S. 165). Ich teile diese Ansicht nicht. Repliken als Austausch von Argumenten sind vielmehr, auch und gerade unter Einbezug stilistischer Register der Verschärfung und Zuspitzung, von Lessing bis Luhmann ein probates und angemessenes Medium von (soziologischer) Aufklärung.

In diesem Sinne möchte ich auf Robert Gugutzers Rezension so sachlich wie möglich eingehen und zeigen, dass und wo diese meine eigentlichen Argumente übergeht. Das ist das Hauptanliegen des folgenden Textes. Das Nebenanliegen hat einen, sagen wir, juristischen Charakter. Robert Gugutzers Rezension enthält rufschädigende Falschbehauptungen. Gegen diese muss ich mich, jenseits des wissenschaftlichen Austausches, schlicht zur Wehr setzen. Keine Sorge, diese „Gegendarstellung“ geht ganz schnell, hier ist sie:

  1. (1) Im Text Gugutzers wird behauptet, mir ginge es „allein darum Schmitz als Neofaschisten zu denunzieren“ (Gugutzer, 2022, S. 175), um eine „Diskreditierung der Person Hermann Schmitz“, ihm „eine nationalsozialistische Gesinnung zu unterstellen“ (Gugutzer, 2022, S. 176). Diese Aussagen sind falsch. Richtig ist vielmehr: mein Buch enthält keine Aussage über politische Einstellungen, Aktivitäten oder Zugehörigkeiten von Hermann Schmitz als Person oder die Behauptung einer nationalsozialistischen oder neofaschistischen Ausrichtung seiner Philosophie insgesamt. Die von Gugutzer zitierten und kritisierten Formulierungen (Kastl, 2021, S. 79, S. 334) beziehen sich vielmehr allein auf überprüfbare und benannte Argumentationen in dem Buch „Adolf Hitler in der Geschichte“ (Schmitz, 1999).

  2. (2) In der Rezension Robert Gugutzers wird behauptet, ich hätte „Waldenfels quasi vollständig ignoriert“ (S. 173). Diese Aussage ist falsch. Ausdrücklich geht es dem Buch als Ganzes – für die Soziologie – um einen Brückenschlag zwischen einer von Waldenfels vertretenen (Sozial-)Phänomenologie auch Merleau-Pontyscher und einer wissenssoziologischen Perspektive Schützscher Prägung (z. B. Kastl, 2021, S. 33; S. 134). In meinem Buch als solche ausgewiesene Argumentationen von Bernhard Waldenfels haben für dessen gesamte systematische Ausrichtung eine grundlegende Bedeutung (Kastl, 2021, S. 244–247).

Phänomenologische Probleme mit „Leiblichkeit“ à la Schmitz

Gugutzer greift an meinem Buch eingestandenermaßen ein Seitenthema heraus. Schmitz’ Leibkonzept hat darin nur die Funktion eines die Argumentation konturierenden Kontrastfalls. Das zeigt bereits eine einfache Statistik. Bei rund 330 Textseiten Umfang taucht der Name Schmitz auf 24 Seiten auf. Auf lediglich 4 Seiten der 24 ist die Rede von einer Anschlussfähigkeit des Schmitzschen Leibkonzepts an rechte Ideologeme, wofür, wie Gugutzer zu Recht feststellt, in der Tat das Hitlerbuch der entscheidende Beleg ist. Die anderen 20 Seiten sind einer von diesem Komplex unabhängigen Auseinandersetzung mit Schmitz’ Leibkonzept gewidmet. Auf 9 dieser 24 Seiten greife ich Argumente von Schmitz (auch) positiv anschließend auf. Schon von daher ist nicht nachzuvollziehen, wie Robert Gugutzer belegen will, es ginge mir „allein darum“ „Schmitz als Neofaschisten zu denunzieren“ (Gugutzer, 2022, S. 175).

Auf meine Argumente in der Sache geht Gugutzer nicht ein bzw. er verzerrt sie bis zur Unkenntlichkeit. Diese sind primär phänomenologisch und zunächst nicht politisch. Schmitz’ Leibkonzept beruht m. E. auf einer phänomenologisch nicht haltbaren und naturwissenschaftlich falschen Prämisse, nämlich, dass das Spüren des/am eigenen Körper(s) ein nicht sinnliches oder sogar übersinnliches Phänomen sei. „Leib“ ist für Schmitz das, was wir von uns selbst unter Abzug der Beiträge der „fünf Sinne“ bzw. der „Sinneswerkzeuge“, der „sinnlichen Wahrnehmung“ generell auf unmittelbare Weise erfahren (vgl. Kastl, 2021, S. 71; Schmitz, 2011, S. 5; 1965, S. 5). Für Schmitz ist die in der Medizin und (Neuro-)Biologie selbstverständliche Tatsache proprio- und interozeptiver Sinnesorgane unmaßgeblich (Schmitz, 2011, S. 5). In für ihn „leibliche“ Empfindungen wie Schmerz, Angst, Wollust, Hunger, Durst, der „Ergriffenheit von Gefühlen“, Bewegungen wie Atmen, Zittern, Kauen gehen – per Prämisse – keine Beiträge von Sinnesorganen ein, Wahrnehmung spielt dafür keine Rolle. Vielmehr wird die Erfahrung von „Leiblichkeit“ von „Wahrnehmung“ und anderen Bewusstseinsphänomenen abgetrennt, als eigenständige Variante der Raumerfahrung gefasst und durch die von Gugutzer zitierte Formel überhöht: „Leiblich ist, dessen Örtlichkeit absolut ist. Körperlich ist das, dessen Örtlichkeit relativ ist. Seelisch, was ortlos ist.“ (Schmitz, 1965, S. 6). Dieser Formel schreibt Gugutzer das Prädikat „unnachahmlicher Klarheit“ zu (Gugutzer, 2022, S. 174). Ich hatte diese Formel gerade wegen ihrer m. E. eklatanten Unschärfe bewusst nicht zitiert, um im Rahmen einer Kurzdarstellung nicht noch größere argumentative Umwege machen zu müssen.

Denn was ist daran klar? Was, bitte, soll eine „absolute Örtlichkeit“ sein? Erfahrung von Örtlichkeit und Räumlichkeit ist per se relational, ohne eine Differenz, Relation und – ja – auch Relativität von Hier und Dort nicht vorstellbar, auch dann, wenn diese nicht im Vordergrund der Erfahrung steht, sondern unthematisch bleibt. Etwas, dem dieser Aspekt völlig fehlt, „örtlich“ oder „räumlich“ zu nennen, ist genau genommen eine sinnlose Äußerung. Mit dem Konzept „absoluter Örtlichkeit“ scheint mir weit eher das schwarze Loch der Neophänomenologie bezeichnet, in dem unverzichtbare phänomenologische Differenzen und Differenzierungen verschwinden und im Einerlei eines angeblich elementaren „Spürens“ aufgelöst werden. An Schmitz eigenen Deskriptionen kann man zeigen, dass er dieses „absolut“ in Wirklichkeit gar nicht einlösen kann (Kastl, 2021, S. 75). Wenn er beispielsweise Angst als ein „gehindertes ‚Weg!‘“ beschreibt (z. B. Schmitz, 1965, S. 6), dann geht es, wie immer vorthematisch, auch um die Erfahrung einer Relation zwischen der gerade nicht absoluten, sondern absolut kontingenten Örtlichkeit, dem Hier/Jetzt, dem Innen/Außen meines Körpers, dem ich nicht „entkommen“ kann, an und in dem ich spüre und „betroffen“ bin, und einem wie immer diffus antizipierten Dort. Schmitz gibt in der einseitigen Betonung einer angeblichen „absoluten“ Raumdimension des Spürens wichtige phänomenologische Errungenschaften wie die Analyse vorthematischer Erfahrung, des Feldcharakters von Bewusstsein und damit insbesondere auch den wichtigen Aspekt impliziter Zeitstrukturen preis.[1]

Gerade für die für Schmitz wichtigen motorischen Körperschemata ist konstitutiv, dass dabei komplexe, dynamische Grammatiken räumlich-örtlicher wie zeitlicher Differenz(ierung)en und Relation(ierung)en im Körperaußen wie im Körperinnen erworben und beherrscht werden und zwar, ohne dass diese Relationierungen in ihrer Gesamtheit thematisch werden (müssen). Wer beispielsweise ein Musikinstrument wie Querflöte spielt, weiß was ich meine. Wie mühsam und zeitaufwändig auch immer, man kann sich diese Relationierungen durchaus ins Bewusstsein rufen, thematisch machen, was ich wo am und im Körper gleichzeitig mit was sonst noch allem „spüren“ muss, damit z. B. der Klangeindruck eines „Tropfens“ meiner Töne entsteht. Spüren hat auch mit Spuren und ihrer Wahrnehmung zu tun.[2] Schmitz verkennt, dass der holistische Charakter der ihn faszinierenden Gegenstände komplexe differentielle Felder voraussetzt (Kastl, 2021, S. 225 ff.; S. 256).

Seine überaus künstliche Definition hat kaum etwas mit der historischen Semantik von „Leib“ zu tun, sehr viel dagegen mit der Totalisierung von Affekt(ion)en und Emotionen. Problematisch ist daran, dass er diesen Erfahrungsbereich von sinnlicher Wahrnehmung und der Analyse von Bewusstseinsphänomenen isoliert und dadurch irrationalistisch überhöht. Damit spricht er nicht nur dem, was er „Leiblichkeit“ nennt, die Insignien von Wahrnehmung und Bewusstsein ab, sondern im Umkehrschluss auch den (exterozeptiven) Wahrnehmungen die Erfahrungsdimension „unmittelbarer Selbstgegebenheit“. Das alles widerspricht nicht nur der alltäglichen, phänomenologischen und klinischen Erfahrung, sondern auch natur- und kognitionswissenschaftlichen Erkenntnissen. Das ist ein Gegenentwurf zu Merleau-Pontys These vom Primat der Wahrnehmung und deshalb war Schmitz für mich interessant. Meine zentrale Kritik lautete demgemäß, dass es sich bei der Abkopplung von Körper- (bzw. Leiberfahrung) von den Leistungen der „fünf Sinne“, von sinnlicher Wahrnehmung insgesamt, um eine künstliche, kontraintuitive, insofern unphänomenologische Operation handelt (Kastl, 2021, S. 71, S. 73 ff.), die zu einer unangemessenen Isolierung wie zugleich einer „Entgrenzung, Totalisierung und Expandierung“ eines Komplexes der Affektivität und der Betroffenheit führt (Kastl, 2021, S. 76).

Romantisch ist das nicht wegen der Körper-als-Subjekt-Formeln, wie sie z. B. in der Körpersoziologie, bei Bourdieu oder auch beim frühen Merleau-Ponty zu finden sind. Gugutzer unterstellt mir eine solche Argumentation, übersieht aber, dass ich in Bezug auf Schmitz ausdrücklich von einer anderen, „deutschen“ „Spielart“ romantischer Körperkonzepte ausgehe (Kastl, 2021, S. 76). Diese beruht auf der Figur einer „expansiven, dynamischen Innerlichkeit, die sich – ähnlich Schopenhauers Willen – zur Wirklichkeit an-sich erklärt“ (Kastl, 2021, S. 76). Das ist keine willkürliche Zuschreibung meinerseits, sondern knüpft an eine geradezu hymnische Bezugnahme Schmitz’ auf Schopenhauer an. Auch Schmitz’ „Leiblichkeit“ will die „Welt als Vorstellung“ aufbrechen und greift dazu ausdrücklich Positionen der „Gegenaufklärung“ auf (z. B. Schmitz, 1999, S. 386).

Leiblichkeit und die Verfehlungen des abendländischen Geistes

Hier setzt meine wissenssoziologische Analyse der Schmitzschen Semanteme an und formuliert einen weitergehenden (politischen) Totalisierungs-Verdacht. Sie wird in Gestalt des Hitlerbuchs von Schmitz fündig. Hier findet diejenige Verknüpfung des Konzeptes der „Leiblichkeit“ mit einer geschichtsphilosophischen und politischen Perspektive statt, die ich mit der Formel einer „neofaschistischen Leibmythologie“ charakterisiert habe (Kastl, 2021, S. 79, S. 334). Da Gugutzer die von mir angeführten Belegstellen für diese These herunterspielt oder gar nicht erst zur Kenntnis nimmt, möchte ich mich im Folgenden darauf konzentrieren, Teile von Schmitz Argumentation, auf die ich mich beziehe, ausführlich wiederzugeben und zu zitieren. Die Leser:innen mögen in Schmitz’ Buch selbst nachlesen, wenn sie mir nicht glauben (in der Tat kann man manches nicht glauben!). Sie mögen dann begründet beurteilen, wie plausibel oder unplausibel meine These ist. Alle im folgenden angeführten Seitenangaben ohne Nennung des Autors beziehen sich auf Schmitz 1999.

Im Mittelpunkt von Schmitz’ geschichtsphilosophischer Diagnose steht eine von ihm behauptete Verkettung von „Verfehlungen des abendländischen Geistes“. Auch Gugutzer beruft sich darauf (Gugutzer, 2022, S. 174). Diese „psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Verfehlung“, so Schmitz, „zersetzt den Menschen gemeinsame Situationen in Konstellationen privater Innenwelten, verleugnet die räumliche Ergossenheit leiblich ergreifender Gefühle und verkennt mit dem Leib auch die leibliche Kommunikation. Sie erzeugt dadurch die autistische Verfehlung [...] und schafft den Boden für die dynamistische [...]. “ (S. 37). Die „autistische Verfehlung des abendländischen Geistes“ bestehe in der „Zersetzung implantierender Situationen“ (S. 55). Darunter versteht Schmitz „einpflanzende Situationen, in denen die persönliche Situation so tiefe Wurzeln schlägt, dass sie nicht leicht und wenn überhaupt, nur allmählich und mit erheblichen Wunden herausgerissen werden kann“ (S. 24). Als Beispiele für solche Formen der „Verwurzelung“ nennt Schmitz Tradition, frühe Sozialisation, und insbesondere die Verwurzelung in (Volks-) Gemeinschaft und deren geschriebene und ungeschriebene Gesetze („Nomos“, vgl. S. 30 f.). Implantierend sind diese Situationen eben dadurch, dass sie sich immer schon „leiblich“ als Komplex gemeinsamer und kollektiv geteilter und geformter Gefühle, Atmosphären, Stimmungen, affektiver Betroffenheit vermitteln (vgl. S. 339).

Schmitz geht von einem Modell abendländischer Geistes- und Realgeschichte als einem sich zuspitzenden Verhängniszusammenhang von Leib- (und damit Selbst-)Vergessenheit aus. Den historischen Kulminationspunkt dieser Entwicklung stellt das Phänomen „Adolf Hitler in der Geschichte“ dar. Hitler erscheint einerseits als Symptom, ja stellenweise geradezu als fehlgeleitetes Opfer der von Schmitz diagnostizierten Verfehlungsverkettungen der abendländischen (Geistes-)Geschichte. Zugleich wird er als jemand präsentiert, der diese Verfehlungs- und Verhängnisgeschichte erkennt, ihr begegnen, die Welt davon „heilen“ will. Hitler blickt also durch die Brille von Schmitz’ Philosophie in die Welt und hat – bei allen ihm zugleich bescheinigten Übertreibungen eines „destruktiven Dynamismus“ (S. 403) – dadurch sinnvolle, verstehbare und plausible Handlungsziele vor Augen, wie die Überwindung und „Heilung“ (S. 391) der „autistischen Verfehlung“, sprich die „Regeneration implantierender Situationen“ (S. 386), etwa durch die Wieder-Einsetzung von Familie, (Volks-)Gemeinschaft und Generationenfolge samt entsprechender „Festkultur“ (S. 335-340, S. 395). Anders gesagt: Hitler hat Schmitz vorweggenommen, Schmitz versteht Hitler und weiß, was dessen wirkliche Antriebe sind, aber auch wo seine Übertreibungen liegen.

Hierin liegt die Erklärung für den von den Rezensenten Heubel (2003) und Landkammer (2000) registrierten auffallend empathischen und apologetischen Tonfall Schmitz’ gegenüber Hitler. Gugutzer benutzt diesen als Argument der Entkräftung meiner Kritik. Es handle sich ja nur um eine Rekonstruktion aus Hitlers Sicht (Gugutzer, 2021, S. 176). Er überspielt damit den Umstand, dass sich bei dieser Art identifizierender Rekonstruktion Hitlers Fehldeutungen einstellen, die im besten Fall unglaubwürdig, in den meisten Fällen aber historisch und sachlich nachweislich falsch sind.

Hitler und Schmitz, Schmitz und Hitler

Dazu gehört etwa die Annahme, in Hitlers Konzept der Volksgemeinschaft liege ein semantischer Kompromiss zwischen „implantierender Gemeinsamkeit“, Kollektivität und (Achtung vor der) Individualität vor (Gugutzer, 2022, S. 17). Schmitz wiederholt diese Formel gebetsmühlenhaft: „Die Volksgemeinschaft, die Hitler als das Erbe der Frontgemeinschaft vorschwebt, ist nicht als homogener Brei konzipiert [...] sondern genügt dem Ideal der Vieleinigkeit in der Weise, dass die Bedeutung jedes Einzelnen nicht weniger wichtig genommen wird als die Bedeutung des Ganzen.“ (S. 268 f.); „Ich verstehe das Gemeinte als nach Hitler unerläßliche Verwurzelung originaler Produktivität in gemeinsamen implantierenden Situationen.“ (S. 309). „Aus der Konzeption der Volksgemeinschaft als implantierende Situation, die nicht über die Volksgenossen verfügt, sondern aus ihnen hervor wirkt, ergibt sich die Achtung der Individualität.“ (S. 326). Wirklich? Also: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ – nur ein Missverständnis? Ja, behauptet Schmitz. Was Hitler wirklich (sic!) gemeint habe, sei, dass beispielsweise im Opfer des eigenen Lebens für das Vaterland, im „Jasagen im aufzuckenden Spüren“ (O-Ton Schmitz, nicht Hitler! S. 320) der „überpersönliche Nomos“ einer „implantierenden gemeinsamen Situation des Volkes“ ja zugleich zu einem Moment des Wollens der Persönlichkeit würde. Insofern wäre Individualität bereits mitgedacht.

Das „Opfer“, die Bereitschaft, „für das Ideal seines Volkstums das junge Leben hinzuwerfen“ ist bereits in Hitlers „Mein Kampf“ die entscheidende Formel für das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv. Von Achtung der Individualität ist hier keine Rede, dagegen spielt der Instinkt der „Erkenntnis der tieferen Notwendigkeit der Erhaltung der Art, wenn nötig auf Kosten des einzelnen“ (Hitler in Hartmann u. a., 2016, S. 777) eine große Rolle. Schmitz hindert das nicht daran, sich seinerseits die „Opfer“-Semantik zu eigen zu machen und als Argument gegen Kants Ethik und deren Wert- und Würdekonzept ins Feld zu führen. Diese sei Ausdruck der „autistischen Verfehlung“ und kranke daran, dass sie die „völlige Hingabe“, die „Kunst sich aufzuopfern“ in Frage stelle (S. 198). Demgemäß kommentiert Schmitz auch den bekanntlich von Kant inspirierten Artikel 1 Grundgesetz als fehlgeleitet und weiteren Beleg für das „fressende Um-sich-Greifen“ des „Gifts der autistischen Verfehlung“ (S. 386). Er schreibt: „An der Spitze des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland steht, gleichsam als Wahlspruch, der Satz: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.‘ Das ist schlecht. Der Wahlspruch müsste vielmehr lauten: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie verpflichtet.‘“ (S. 386). Schmitz meint damit nicht, dass der Satz verfassungsrechtlich insbesondere den Staat zum Schutz der Individuen verpflichtet und staatliches Handeln begrenzt und abwehrt. Schmitz will Individuen damit eine „Einheit von Rechten und Pflichten“ auferlegen. Diese Pflichten sind ausdrücklich nicht Pflichten gegenüber anderen „einzelnen Menschen“, sondern gegenüber dem Kollektiv, der Gemeinschaft. Beispielhaft führt er das unter der Überschrift „Regeneration implantierender Situationen“ aus, er nennt Grundsätze wie:

  1. keine öffentlichen Leistungen zu vergeben, die nicht durch entsprechende Gegenleistungen gedeckt seien (Schmitz, 1999, S. 386);

  2. die Aufwertung von Autorität innerhalb der Familie sowie eine Anerkennung der „naturgegebenen besonderen Bestimmung und Verantwortung der Frau für Geburt und für pflegende und erzieherische Betreuung von Kindern“ (S. 387);

  3. die Förderung des Sinns für „Verantwortung für die Kontinuität der Generationen“, die „in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft als Kette von Generationen im Sinne von Goethe konzipiert war“ (S. 387);

  4. Kritik an Formen der Mitmenschlichkeit, die sich nur für lebende Menschen einsetzen wie etwa „barmherzige Sammlungen (Brot für die Welt, Misereor, Kinderdörfer usw.) oder sich für die angelegentliche Betreuung geistig Behinderter (mit Fortpflanzungschancen) stark machen“ (S. 388); es gäbe auch eine sittliche Verpflichtung zur „biologischen und biotopischen Vorsorge für Erhaltung und Hebung des Niveaus der Menschen, die noch nicht gezeugt sind“ (S. 388);

  5. das ist ausdrücklich ein Plädoyer für Eugenik: „Man sollte sich aber durch keine Anti-Nazi-Parolen die sittliche Pflicht zu eugenischer Bemühung ausreden lassen; statt der groben Regelung des unter Hitler erlassenen Sterilisationsgesetzes dürfte es nächstens elegantere Methoden des gentechnischen Eingriffs in die Keimbahn geben.“ (S. 388);

  6. „Strafmilderung für jugendliche Täter darf nur kritisch und sparsam angewendet werden“, besonders wichtig sei die Führung eines „Strafregisters, in dem rechtskräftige Verurteilungen dauernd oder langfristig festgehalten und für Auskünfte bereitgestellt werden“ (S. 388);

  7. auch beim nicht straffälligen Rechtsgenossen sei überdies „Hochmut und Leichtsinn durch die Hypertrophie des Datenschutzes“ entgegenzuwirken (S. 388). Es könne nicht sein, dass gegenüber dem Staat „jeder sich ganz mit geringen Ausnahmen bedeckt halten darf, wie er will“ (S. 389).

Das sind eindeutig politische Rezepte aus dem Handbuch des Autoritarismus. Um aber wieder auf Schmitz’ Hitler-Apologetik zurückzukommen: sie reicht über die Parteinahme für eine „richtig verstandene“ Revitalisierung der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft weit hinaus. Ich verzichte auf eine ausführliche Darlegung, nenne aber zumindest exemplarische Punkte und Stellen, die durchaus nicht nachvollziehbarer werden, wenn man sie im Kontext liest. Aber ausdrücklich: bitte lesen Sie sie auch im Kontext!

  1. „Nichts liegt Hitler ferner als eine Verklärung des Krieges“ (S. 272).

  2. „Was Hitler demütigt, ist das sinnlose Wegwerfen von Menschenleben“ (S. 275); als initialen „Holocaust“ sieht Schmitz die „fahrlässige Verheizung von Hunderttausenden tapferer Männer durch den unbesonnenen Hochmut der imperialistischen Politik“ im ersten Weltkrieg an (S. 377, vgl. auch S. 279 ff., S. 54 ff.). Von neun im Register ausgewiesenen Nennungen des Wortes Holocaust beziehen sich alle auf den ersten Weltkrieg. In zwei Fällen wird – undeutlich – auf eine „Wiederholung des Holocaust“ im zweiten Weltkrieg Bezug genommen (S. 54, S. 396). In keinem Fall wird der Begriff Holocaust mit Massenmorden an jüdischen Menschen in Verbindung gebracht.

  3. Hitler habe durchaus keine jüdische Weltverschwörung angenommen, er habe diese Verschwörungstheorie nie aufdringlich herausgestellt und in seiner Spätzeit „förmlich abgelehnt“ (S. 280).

  4. Hitlers Vergleich der Juden mit Bazillen sei nicht „Ausdruck der Verachtung, sondern Ausdruck der Angst“, sei im Kern „Ansteckungsfurcht“ (S. 280 f.). „Der Hauptinhalt besteht [...] darin, dass er eine solche mentale Verjudung auch auf das deutsche Volk zukommen sieht.“ (S. 283). Der Hitlersche Judenhass rühre aus Hitlers Wahrnehmung der „dianoetischen Mängel“ des Judentums (S. 291) her, er übertrage (nur? zu Recht?) „die autistische Verfehlung des abendländischen Geistes“ auf die Juden (ebd., vgl. S. 309 ff.).

  5. „Man darf sich diese Vertreibung <der Juden, jmk>, so wie Hitler sie ins Auge fasst, nicht von vornherein allzu brutal vorstellen“ (S. 286). Hitler habe Respekt vor den Juden gehabt (S. 288), noch 1942/3 wollte er sie, so Schmitz, nur dazu bewegen, auszuwandern (S. 287 f.). In den ersten fünf Jahren seiner Regierung habe Hitler dafür eine „Methode an<-gewendet>, die einerseits dem Reich keine materiellen Vorteile brachte, andererseits nur als höfliches Hinauskomplementieren bezeichnet werden kann“ (S. 286); „Um die Juden los zu werden, nahm er finanzielle Großzügigkeit und politische Nachteile in Kauf“, behauptet Schmitz (S. 287). In einer weiteren Passage spricht Schmitz von dem „zähen und fast gutmütigen Eifer, mit dem er <Hitler, jmk> bis tief in den Krieg hinein die Auswanderung der Juden betreibt oder als Ziel im Auge behält“ (S. 312).

  6. „Auf die praktische Politik Hitlers hat sich die Rassenideologie nur wenig ausgewirkt, mit einer großen Ausnahme: der empörend geringschätzigen, ja menschenverachtend niederträchtigen Bewertung und Behandlung der Russen“ (S. 348).

Will Schmitz damit sagen, es habe keinen Holocaust an den Juden gegeben, keine Shoah? Keine Massenmorde an behinderten und chronisch kranken Menschen, an Sinti und Roma, an anderen Angehörigen von als „minderwertig“ betrachteten Gruppen? Oder will er nur sagen, dass das nicht Hitlers Politik war oder gar: der Führer habe von dem allem nichts gewusst?

Eurasische Vision und Mission

Die zuletzt von mir zitierte Bemerkung Schmitz’ bereitet die – zynisch gesagt – „Schlusspointe“ des Hitlerbuchs vor. Es geht um das „russische Volk“. Dass in der russisch-orthodoxen Theologie ein gegenüber den Verfehlungen des abendländischen Geistes und ihrem „zersetzenden Gift“ (S. 386) heilsames Anti-Doton zu finden sei, deutet Schmitz bereits ganz am Anfang seines Buches an (S. 37). Am Ende des Buches wird das wieder aufgegriffen und in Gestalt des Konzepts der „Sobornost“ konkretisiert. Dabei handelt es sich um eine organizistisch-holistische Gemeinschaftsidee ursprünglich der slawophilen bzw. panslawischen Bewegung, „der in der russischen Orthodoxie einen Zustand des Aufgehens des Individuums, seines individuellen Bewusstseins im Kollektiv (zum Beispiel während der Liturgie) bezeichnete“ (Frank, 2003, S. 204). Auf dieses Konzept berufen sich, mit antiindividualistischen, antiwestlichen und antiliberalen Tendenzen verknüpft, Vertreter der eurasischen Bewegung der 1920er Jahre bis hin zu faschistischen Neo-Eurasiern wie Alexander Dugin, ebenso neuere autoritär-neoorthodoxe Erweckungsbewegungen und Verschwörungstheoretiker (dazu insgesamt: Frank, 2003; Hagemeister, 2016; Wiederkehr, 2007). Die Verklärung der Kultur des Oströmischen Reichs, die sich bei Schmitz findet, bildet auch hier einen integralen Bestandteil der Ideologeme (vgl. Hagemeister, 2016, S. 5-9), einschließlich der Vorstellung einer die Gegensätze von Ost und West aufhebenden Kultur in einem eurasisch-russischen Staat (Frank, 2003, S. 212) bzw. – wie bei Alexander Dugin – die Idee eines „Dritten Weges“, zu dem auch die deutsche „Konservative Revolution“, Hitler und der Nationalsozialismus beigetragen hätten (Wiederkehr, 2007, S. 245).

An Sobornost rühmt Schmitz – der Logik seiner Verklärung von Hitlers Volksgemeinschaft folgend – dass sie die Konzeption einer „organischen Einheit verschiedener ungleichartiger Glieder“ (S. 399), der „Vieleinheit“ (S. 400) beinhalte, „Innigkeit der Gemeinschaft“ und „Achtung vor der Persönlichkeit“ zusammen bringe, einschließlich des ja „auch von Hitler betonten“ Andenkens an die Verstorbenen (S. 400 f.). Im „heiligen Gemeinschaftsgefühl der Russen“ (S. 402) sieht Schmitz ein Erbe des oströmischen Reichs und damit ein weiteres Potential der Heilung der Verfehlungen des abendländischen Geistes und des „gedankenlosen Verfallens an die moderne Aufklärung“ (S. 403):

Was Rußland der Welt heute zu bieten hat, ist das im Westen Europas und seiner nordamerikanischen Dependance verblühte, im Osten Europas durch die orthodoxe Kirche lebendig gehaltene Erbe der Kultur des oströmischen Reiches, die Sobornost als neuplatonische Vieleinigkeit ... Möge es den Russen gelingen, sich von dem trügerischen Ideal des Marxismus zu lösen und statt an Marx [...] an Chomjakov zu orientieren, sofern in dessen Konzeption der späthellenische Neuplatonismus durchscheint, von dem im lateinischen Westen [...] nichts überlebt hat! Mögen sie dafür auch die politische und die ökonomische Form finden! Das ist die Idee, für deren Darstellung die Menschheit sie jetzt braucht. (S. 402 f.)

Schmitz konstruiert nun allen Ernstes eine deutsch-russische Mission, die für ihn auf ein gemeinsames eurasisches Projekt hinausläuft. Das „deutsche Volk“ könne "dem russischen Volk zu Hilfe kommen, das sich schwer damit tut, genau auf den Punkt zu bringen, was es der Menschheit zu sagen hat" (S. 403). Dazu sei es deshalb prädestiniert, weil es eine „besondere Sensibilität für die Grundformen der Lebenserfahrung“ habe, die bei der „psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung achtlos übergangen worden sind.“ Schmitz meint eben und genau die „Leiblichkeit“, für die es im Englischen und Französischen noch nicht mal ein Wort gäbe (S. 403). Die Deutschen seien ohnehin nur Trittbrettfahrer der auf weströmischem Boden entstandenen Aufklärung, daraus resultiere ihre historische Mission einer Vermittlung. „Erhebliche Bedeutung fällt dabei der Neuen Phänomenologie zu, der es als einziger Bestrebung in der Geschichte der Philosophie bisher gelungen ist, die psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistische Vergegenständlichung, die Mutter der dynamistischen und autistischen Verfehlung [...] zu überwinden.“ (S. 403).

Um nichts anderes geht es Schmitz als um eine Wiedervereinigung des west- und des oströmischen Reichs. „Die Wiedervereinigung Deutschlands hat Sinn als Beginn der Wiedervereinigung des Römischen Reichs.“, so lautet der letzte Satz von Schmitz’ Buch (S. 404). Das ist durchaus ebenso kulturell wie politisch gemeint.[3] Schmitz entwirft eine Spielart einer eurasischen Idee und Hitler spielt dabei als Inspirator und Katalysator eine wichtige Rolle. Dieser habe sich nicht mit der (auf die Trennung von West- und Ostrom zurückdatierenden) Figur einer territorialen und kulturellen „balance of power“ begnügen wollen. Schmitz schreibt (er kann damit nur den deutschen Überfall auf die Sowjetunion meinen):

Diese weltgeschichtliche Leistung muss man Hitler lassen [...] Er hat die balance of powers über den Haufen geworfen [...] in der [...] die einzelnen Teile ihren Rang gegen einander behaupten. Um das existentielle Ganze ging es [auch] Hitler, wie seine unerschrockene Machtergreifung über den Tod als Tod und nicht nur als Mittel zu anderen Zwecken zeigt. Die Unbedingtheit, mit der er vorging, hat nicht nur Leben zerstört, sondern auch Grenzen eingerissen und dadurch Raum für mögliche neue Ordnungen freigelegt. Zu den eingerissenen Grenzen gehört auch die zwischen den Erben Westroms und Ostroms [...] Nun öffnet sich die Möglichkeit, dass über die von Hitler niedergelegte Trennungslinie hinweg der eurasische Raum vom Atlantik bis zum Pazifik [...] als erneuertes römisches Reich [...] zusammenwächst, sei es als staatlicher Körper oder geistig durch gegenseitige Belebung und Ergänzung der aus römisch-griechischer Herkunft zusammengehörigen, durch widrige Schicksale getrennten und in der Trennung von einer vorgezeichneten Ganzheit abgefallenen Traditionen. (S. 397)

Schluss

Ich habe mir erlaubt sehr ausführlich, allzu ausführlich zu zitieren. Schmitz ist unwiderlegbar der Verfasser dieser Textpassagen, deren Gesamttendenz und strukturellen Zusammenhang ich als „neofaschistische Leibmythologie“ eingeordnet habe. Wer dieser Einschätzung widerspricht, möge bitte eine andere kohärente, begründete Deutung ihres Zusammenhangs liefern. Wer darauf nur mit einem Beleidigungsvorwurf reagieren kann, kann im Ernst nicht beanspruchen, sich mit der Sache und dem Anliegen des Hermann Schmitz auseinanderzusetzen. Dies geht auch an meinen Rezensenten Robert Gugutzer, mit dem ich gerne in eine Diskussion über die phänomenologischen Aspekte unserer Kontroverse eintrete, zumal es dafür in der Tat, wie er selbst schreibt, auch konstruktive Ansätze gibt. Das habe ich hier zurückgestellt, weil ich die Aufklärung und Verständigung über die politischen Positionierungen Schmitz’ im Hitlerbuch für wichtiger halte – wie gesagt: gerade, wenn man „mit Schmitz“, oder gar: „neophänomenologisch“ weiterarbeiten möchte, ist das unabdingbar.

In meinem Buch habe ich nicht die Frage aufgeworfen, ob man, um so etwas zu Papier zu bringen wie Schmitz in seinem Hitlerbuch, ein Neo-Faschist sein muss oder zeitweise gewesen sein muss. Ich betone ausdrücklich: das ist für mich nicht das erste Kriterium dafür, ob es andere Aspekte in Schmitz’ Werk gibt, die phänomenologisch interessant und wegweisend sind. Ich sehe ein Verdienst von Schmitz darin, die Dimension des Interozeptiven überhaupt erschlossen zu haben, auch wenn das nicht seine Terminologie ist (Kastl, 2021, S. 72-73; S. 75; S. 79). Das halte ich für einen in der Tat vernachlässigten, und gerade auch bedeutungs- und sprachtheoretisch wichtigen Aspekt der „Generalität des Körpers“. Das gälte für mich auch dann, wenn sich herausstellen sollte, dass Schmitz ein Neo-Faschist war. War er es? Zeitweise? In welcher Hinsicht? Wenn nicht, mit welcher Begründung nicht? Weil er politisch naiv war? Weil es sich um ein einmaliges Versehen handelt? Wie glaubhaft sind angesichts der erdrückenden Logik seiner Gesamtargumentation seine nachträglichen, von Gugutzer ins Feld geführten Reparaturversuche und Lippenbekenntnisse (Schmitz, 1999, S. 9; Schmitz, 2018, S. 25)? Was spricht gegen diesen Verdacht? Und was wäre Neue Phänomenologie dann, wenn man die weltgeschichtlichen Missionen, mit denen sie Schmitz im Hitlerbuch betraut, abzieht?

Ich habe auf all das keine Antwort gegeben. Es ist aber nicht mehr zu vermeiden, dass diejenigen, die sich auf „Hermann Schmitz“ berufen, die „mit ihm“, wie man so sagt, „arbeiten“, auf diese Fragen fachöffentlich und darüber hinaus überzeugende Antworten finden. Dies gilt insbesondere auch für die institutionalisierte Neophänomenologie, in Gestalt der „Gesellschaft für Neue Phänomenologie e.V.“. Auch sie sollte ihre Politik des Schweigens zu einem Text, der nun einmal in der Welt ist und bleibt, überdenken und korrigieren.

Literatur

Frank, S. K. (2003). Eurasianismus: Projekt eines russischen „dritten Weges“ 1921 und heute. In K. Kaser, D. Gramshammer-Hohl & R. Pichler (Hrsg.), Europa und die Grenzen im Kopf, (S. 197–224). Wieser Verlag. Suche in Google Scholar

Gugutzer, R. (2022). Verächter des Leibs – Verfechter des Fleisches. Soziologische Revue, 45(2), 171–180. https://doi.org/10.1515/srsr-2022-002310.1515/srsr-2022-0023Suche in Google Scholar

Hagemeister, M. (2016). Der „Nördliche Katechon“ – „Neobyzantinismus“ und politischer Hesychasmus“ im postsowjetischen Russland“. Erfurter Vorträge zur Kulturgeschichte des Orthodoxen Christentums 15/2016, Universität ErfurtSuche in Google Scholar

Hartmann, C. u. a. (Hrsg.). (2016). Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition. Band I. Institut für Zeitgeschichte.Suche in Google Scholar

Heubel, F. (2003). Hermann Schmitz’ „Adolf Hitler in der Geschichte“ oder Zur Kritik der Neuen Phänomenologie. In T. Ogawa (Hrsg.), Studies on New Phenomenology and Theories of Collective Consciousness, (S. 41–51). Graduate School of Global Environmental Studies. Suche in Google Scholar

Kastl, J. M. (2021). Generalität des Körpers. Merleau-Ponty und das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften. Velbrück.10.5771/9783748911333Suche in Google Scholar

Landkammer, J. (2000). Von Homer bis Hitler. (Memento vom 23. Dezember 2005 im Internet Archive). Sic et Non – Forum for Philosophy and Culture. Abgerufen am 7. Oktober 2022 von http://archiv.sicetnon.org/artikel/rezensio/schmitz.htm Suche in Google Scholar

Schmitz, H. (1965). Der Leib: System der Philosophie, 2. Band, 1. Teil. Bouvier.Suche in Google Scholar

Schmitz, H. (1999). Adolf Hitler in der Geschichte. Bouvier.Suche in Google Scholar

Schmitz, H. (2011). Der Leib. De Gruyter. 10.1515/9783110250992Suche in Google Scholar

Schmitz, H. (2018, 2. Aufl.). Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Alber.10.5771/9783495818039Suche in Google Scholar

Schulz-Schaeffer, I. (2022). Editorial. Soziologische Revue, 45(2), 165–170. https://doi.org/10.1515/srsr-2022-002210.1515/srsr-2022-0022Suche in Google Scholar

Thoma, S. (2021). Im Offenen. Henri Maldineys Philosophie der Psychosen. Turia + Kant.Suche in Google Scholar

Wiederkehr, M. (2007). Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Böhlau.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Neuerfindung der Grenzforschung?
  6. Grenzsoziologie
  7. Essay
  8. Systemtheoretische Perspektiven auf Organisationen – Luhmanns bekannte und unbekannte Schriften zur Organisation
  9. In welcher Gesellschaft werden Menschen unterschieden?
  10. Sammelbesprechung
  11. Die Gegenwart der Vergangenheit: Kollektive Erinnerungen und Medialisierungen als Vermittlung von Geschichte
  12. Doppelbesprechung
  13. Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
  14. Einzelbesprechung Analytische Soziologie
  15. Gianluca Manzo (Ed.), Research Handbook on Analytical Sociology. Cheltenham, UK: Edward Elgar 2021, 515 S., gb., 288,59 €
  16. Einzelbesprechung Geschlecht
  17. Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €
  18. Einzelbesprechung Klima
  19. Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
  20. Einzelbesprechung Körper
  21. Stefan Dreßke, Empfindliche Körper: Kopfschmerzpraktiken zwischen Alltag und Medizin. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 330 S., kt., 35,00 €
  22. Einzelbesprechung Religion
  23. Christel Gärtner / Gert Pickel (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2019, 669 S., kt., 42,99 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt
  25. Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €
  26. Replik
  27. Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2022
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 20.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2029/html?lang=de&srsltid=AfmBOoqvBWD0IDroy9S47YdxVfYYuvGy_wkzh0RO-hM9Xigl4ecT9M33
Button zum nach oben scrollen