In welcher Gesellschaft werden Menschen unterschieden?
Rezensierte Publikation:
Dilek Dizdar / Stefan Hirschauer / Johannes Paulmann / Gabriele Schabacher (Hrsg.), Humandifferenzierung: Disziplinäre Perspektiven und empirische Sondierungen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2021, 380 S., kt., 24,90 €
„Humandifferenzierung ist ein ubiquitäres und hochgradig selbstverständliches, aber auch folgenreiches und konfliktträchtiges Phänomen: dass sich Menschen fortlaufend kategorisierend unterscheiden. Kulturelle Phänomene bestehen, anders als Naturphänomene, nicht aus gegebenen Unterschieden, sie basieren auf kontingenten sinnhaften Unterscheidungen.“ (S. 8) Der SFB 1482 „Humandifferenzierung“ an der Universität Mainz (Sprecher: Stefan Hirschauer), aus dem sich die Autorinnen und Autoren des Bandes „Humandifferenzierung“ rekrutieren, beschäftigt sich also mit einem geradezu unvermeidlichen Phänomen, ubiquitär und selbstverständlich. In der Tat – wo bezeichnet wird, wird unterschieden, und sobald unterschieden wird, wird bezeichnet. In dem einleitenden Aufsatz des Bandes betonen die Herausgeberinnen und Herausgeber, wie geradezu beliebig und formenreich die Unterscheidungsmöglichkeiten im Hinblick auf die Kategorisierung und Unterscheidung von Menschen an unterschiedlichen Sichtachsen ist: „Nationalität, Ethnizität, Religion, Geschlecht und Leistung, nach Generationen und Altersgruppen, sozialer Herkunft (Klassen/Milieus) und Professionen, sexueller und politischer Orientierung ... Bekanntschaft, Attraktivität oder Körpergröße“ (S. 9), um nur eine Auswahl von Binnendifferenzierungen zu nennen, zugleich werden auch Außendifferenzierungen markiert, „wenn etwa die Unterscheidung von ‚Rassen‘ in der Nähe der Tier/Mensch-Unterscheidung vollzogen wird oder wenn einige ‚Cyborgs‘ an historische Formen stratifikatorisch distinguierter ‚Übermenschen‘ erinnern.“ (S. 8) Der Band schließt an einen Vorgängerband von 2017 an (Hirschauer 2017a), der noch als Selbstvergewisserung der Forschergruppe fungierte, die dann später den SFB-Antrag gestellt hat.
Es scheint also kaum eine Unterscheidungskategorie zu geben, die nicht möglich wäre – die historische und systematische Fülle von Kategorisierungen ist enorm. Und kaum je habe ich einen Sammelband gesehen, der so deutlich performativ einlöst, was der theoretische und empirische Ausgangspunkt des Themas verspricht: Der den SFB konstituierende, kulturtheoretisch informierte Ausgangspunkt ist tatsächlich die prinzipielle Kontingenz „kultureller“ Formgebungen, deren Formenreichtum offensichtlich kaum Grenzen kennt, was durch die fast 400 Seiten an Beispielen dafür deutlich dokumentiert wird. Alles, was irgendwie kommunikativ anschlussfähig werden kann, gleichviel worauf es beruht, ist unterscheidungsfähig und kann für Weiterverwendung stabilisiert werden. Das ist denn auch die zentrale theoretische Idee dieses großen Forschungsvorhabens, das über die alltagsweltliche Erfahrung hinausgeht, dass die Menschen nun einmal unterschiedlich seien und entsprechend unterschiedliche Eigenschaften hätten bzw. zu unterschiedlichen Gruppen gehörten. Schon unser Alltagswissen ist voll von impliziten und expliziten Annahmen über die Einteilung von Menschen – das wäre noch keine besondere Information. Der wissenschaftliche Blick des interdisziplinären Projekts freilich erweitert diese alltagsweltliche Erfahrung um zwei Aspekte: er temporalisiert die humandifferenzierende Form zu Prozessen und Praktiken der Differenzierung, und er macht auf die Koexistenz unterschiedlicher Unterscheidungen aufmerksam. Entscheidend ist für das Projekt, dass die „reifizierende Vorstellung identitätsbegründender menschlicher Eigenschaften“ zugunsten der „Erforschung von Unterscheidungsprozessen“ (S. 10) vermieden wird.
Nun muss man konzedieren, dass dies für eine kulturwissenschaftliche/kultursoziologische Perspektive fast eine Selbstverständlichkeit ist. Und letztlich ist das die ganze theoretische Vorannahme, die das Projekt theoretisch zusammenhält – und das ist keineswegs als Kritik gemeint. Letztlich ist es nur so möglich, die These auch einzulösen: dass die Unterscheidungsmöglichkeiten nicht nur potentiell ubiquitär sind, sondern auch empirisch in einer grandiosen Vielfalt dargestellt werden können. In dem schon erwähnten Vorgängerband haben Stefan Hirschauer und Tobias Boll deutlich gemacht, dass die praxeologische Perspektive auf das Thema, also die Konzentration auf das „doing X“ auch ein „undoing X“ implizieren kann (Hirschauer & Boll, 2017, S. 11). Das betont noch einmal besonders den temporalisierten, den prozessorientierten Aspekt des Themas und korrespondiert empirisch mit der kulturwissenschaftlichen Dekonstruktion von Zuständen und Identitäten zu Prozessen und Identifizierungen.
Vielleicht ist ein solcher interdisziplinärer und themenpluraler Forschungszusammenhang nur denkbar, wenn man die Vorannahmen so sparsam hält und einen gemeinsamen Nenner formulieren kann, der im Zähler große Freiheitsgrade erzeugt. Von diesen Freiheitsgraden macht dieser SFB und auch der vorliegende Band geradezu unbegrenzt Gebrauch. Hier können tatsächlich nicht alle Formen aufgezählt werden, deshalb beschränke ich mich idiosynkatisch auf diejenigen, die ich am liebsten gelesen habe. So beschäftigt sich der Sozialpsychologe Roland Imhoff mit den kognitiven Schemata, die vorsprachlich etwa in Form von Stereotypen die Funktion markieren, sich überhaupt in der Welt bewegen zu können und aufmerksamkeitsökonomische Ordnung zu schaffen. Beeindruckend ist der Beitrag von Matthias Krings und Mita Banerjee, die am Prozess der Grenzverschiebung in den Kategorien Alter und „Rasse“ zeigen, wie ein komplexes Geschehen und komplexe Kategorisierungen vor allem über das Medium der Sichtbarkeit und Wahrnehmbarkeit beglaubigt bzw. bearbeitet werden. Überhaupt spielt die Kategorie der Herstellung von Sichtbarkeit eine besondere Rolle, wie der Beitrag von Sabina Fazli und Oliver Scheiding zeigt, der sich mit Bildstrecken in Life-Style-Magazinen beschäftigt und demonstriert, wie hier einerseits sichtbare und damit eindeutige Kriterien markiert werden, zugleich aber Verwischungen und Grenzregime zwischen den Kategorien aufgerufen werden. Auch den Beitrag von Gabriele Schabacher über den racial bias von Gesichtserkennungssystemen habe ich gerne gelesen. Neben einer grundsätzlichen Perspektive wird dies an Bahnhöfen und explizit am Berliner Bahnhof Südkreuz untersucht. Die Autorin zeigt, wie die kategorisierende technische Infrastruktur an der empirischen Komplexität scheitern kann. Und schließlich sei der letzte Beitrag des Bandes genannt, nämlich der von Sascha Dickel und Miriam Schmidt-Jüngst, in dem es um das Design von Personalität in digitalen Assistenzsystemen geht, die selbst einen hybriden, durchaus gestalteten und gestaltbaren Personenstatus erzeugen, um in der Kommunikation anschlussfähig zu sein. So weit meine selektive Präsentation neben anderen sehr lesenswerten Beiträgen.
Es sollte deutlich geworden sein: Die Liste der möglichen Humandifferenzierungen ist tatsächlich kaum begrenzbar. Es gelingt allen Beiträgen des Bandes ausnahmslos, das einzulösen, was theoretisch vorgegeben wurde: Den Prozess der Differenzierung in den Blick zu nehmen und die Selbststabilisierung von Kategorien ebenso wie die Verwischung und den Umgang mit Uneindeutigkeit zu beleuchten. So gesehen ist der Band ebenso informativ wie gut geschrieben, und die Interdisziplinarität wird nicht durch zu starke disziplinäre Vorgaben gestört, denn es reicht offenbar die „kulturwissenschaftliche Orientierung“, deren „epistemologische Gemeinsamkeit dieser Fächer als Kulturwissenschaften“ (S. 29) aus der inter- sogar eine „transdisziplinäre“ Perspektive macht (S. 19), so die Selbstanzeige.
Und doch stellen sich Fragen. Zunächst geht es neben der Temporalisierung um den zweiten theoretisch hervorgehobenen Aspekt des Ansatzes, nämlich der Koexistenz unterschiedlicher Humandifferenzierungen. Die Tatsache selbst soll und kann hier nicht in Zweifel gezogen werden. Die Pluralität des Bandes, die Pluralität der Themen und die Pluralität der Disziplinen bezeugt diese Koexistenz zur Genüge. Tatsächlich wären noch andere Dimensionen der Unterscheidung von Menschen denkbar und empirisch rekonstruierbar, die nicht in dem Band vorkommen, was keine Kritik an der Auswahl ist, sondern nur eine Bestätigung der Vorannahmen. Was aber in dem Band und auch in dem Forschungsansatz nicht vorkommt, ist die Frage nach der Form der Koexistenz der unterschiedlichen Unterscheidungen.
Sehr deutlich betont der Ansatz, dass es sich bei der Humandifferenzierung nicht um gesellschaftliche Differenzierung handelt. Hirschauer hat das in einem programmatischen Aufsatz in dem Vorgängerband deutlich gemacht und „soziale Gebilde“ und „gesellschaftliche Differenzierung“ unterschieden (vgl. Hirschauer, 2017b, S. 37) und damit ein kulturalistisches Verständnis des Gesellschaftlichen zumindest nicht explizit formuliert – anders als man das etwa in der Ungleichheitssoziologie von Andreas Reckwitz findet, dessen kultursoziologische Perspektive auf ungleiche Klassen und Milieus gesellschaftstheoretisch aufgerundet wird und dann letztlich zu einer kulturalistischen Verkürzung des Gesellschaftsbegriffs führt (vgl. etwa Reckwitz, 2019).
Dass der Humandifferenzierungsansatz nicht zu einer gesellschaftstheoretischen Perspektive aufgerundet wird, ist sicher eine seiner Stärken – und doch bräuchte man eine Idee der Vermittlung der unterschiedlichen Unterscheidungen, wenn man ihre Koexistenz beschreiben will, oder besser: wenn es nicht nur um das schlichte Nebeneinander unterschiedlichster Humandifferenzierungsdimensionen geht, sondern eben um die Form der Koexistenz. Die schiere Fülle der Dimensionen legt fast nahe, dass es dafür womöglich keine Form gibt, aber das lässt sich mit der bloßen Auflistung der Dimensionen und ihrer empirischen Rekonstruktion nicht klären.
Meine soziologische Anfrage an den Ansatz wäre also die nach der Form dieser Differenzierung – und ich vermute, dass ein Weg zur Beantwortung dieser Frage nach der Form über eine gesellschaftstheoretische Perspektive führt, nicht unerwartbar einer Perspektive auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft. In einem früheren Aufsatz zur Grundlegung seines Humandifferenzierungsansatzes von 2014 hat Stefan Hirschauer die beiden Differenzierungstheorien in der Sozialdimension (Humandifferenzierung) und in der Sachdimension (funktionale Differenzierung) noch gegeneinander ausgespielt bzw. als Antipoden behandelt. Er schrieb: „Die Theorie funktionaler Differenzierung unterschätzt kulturelle Trägheit, weil sie die kommunikative Selbstbeschreibung der Gesellschaft (ihre gepflegte Semantik) überschätzt. Sie arbeitet mit modernistischen Idealisierungen und nimmt die Persistenz älterer Formen von Ungleichheit nur als vormoderne Restbestände wahr, obwohl diese auch in Gegenwartsgesellschaften rein sachbezogene Klassifikationen (etwa nach Leistung) blockieren. Wenn trotz der gesellschaftsstrukturellen Entbehrlichkeit vieler Humandifferenzierungen empirisch notorische Ausschlussversuche (etwa von Frauen oder Migranten) auftauchen, wird ihre Erklärung in beharrlichen Restrelevanzen auf untergeordneten Systemebenen gesucht.“ (Hirschauer, 2014, S. 178)
Für den Vorgängerband bin ich selbst gebeten worden, zu diesem Verhältnis der beiden Differenzierungsformen Stellung zu nehmen (Nassehi, 2017) – und nach der Lektüre des Nachfolgebandes stellt sich für mich die Dringlichkeit meiner damaligen Anfrage an die Humandifferenzierungstheorie noch deutlicher. Ich denke nicht, dass Hirschauer damit Recht hat, dass aus der Perspektive der Theorie funktionaler Differenzierung die Trägheit kultureller Selbstbeschreibungen unterschätzt werden muss. Und ich denke auch, dass seine Diagnose nicht stimmt, Ungleichheiten oder Humandifferenzierungen würden als Restrelevanz auf untere Ebenen verschoben, also für irrelevant erklärt. Ich habe damals eine alternative Lesart angeboten, die nicht nur eine wechselseitige Ergänzung der beiden Differenzierungstheorien ermöglichen könnte, sondern auch einen Erklärungsweg für die Frage der Form der Koexistenz anbieten könnte.
Zunächst: Hirschauer hat selbst drei Jahre später (2017b), wie gesagt, die Humandifferenzierung nicht mehr gegen die funktionale Differenzierung ausgespielt, sondern sie als andere Analyseebene markiert. Offensichtlich hat der Humandifferenzierungsansatz gar keine Verwendung für eine solche gesellschaftstheoretische Perspektive, nicht einmal mehr als Antipodin. Im hier zu besprechenden Band kommt darauf nur ein Hinweis vor, dass es neben der Differenzierung in der Sozialdimension eben auch noch die funktionale Differenzierung gebe – ohne das Verhältnis weiter zu problematisieren (S. 17).
Mein damaliges Angebot bestand darin, die unglaubliche Pluralität und Differenziertheit, die Formenvielfalt und die Wildheit von Humandifferenzierungskategorien und ihrer Praktiken geradezu als eine Folge der funktionalen Differenzierung darzustellen (vgl. Nassehi, 2017). Die Differenzierung in Funktionssysteme ist insofern eine sehr stabile Differenzierung, als sie sehr sparsam nur behauptet, dass ökonomische, politische, rechtliche, wissenschaftliche, künstlerische, religiöse, massenmediale und erzieherische Codierungen sehr stabil sind und deshalb operativ geschlossen operieren können. Aber gerade das ermöglicht eine enorme Vielfalt unterschiedlicher ökonomischer, politischer, rechtlicher, wissenschaftlicher, künstlerischer, religiöser, massenmedialer und erzieherischer Formen. Funktionale Differenzierung ist eben nicht eine konfliktfreie Arbeitsteilung unterschiedlicher Funktionen, sondern das Nebeneinander unterschiedlicher Anschlusszusammenhänge, deren Stabilität in der Nichtsubstituierbarkeit der Funktionen liegt, deren Instabilität und Dynamik dagegen in der Pluralität semantischer, wenn man so will: kultureller Möglichkeiten – mit mehr oder weniger trägen Formen.
Setzt man das hier Skizzierte versuchsweise voraus, könnte deutlich werden, dass Humandifferenzierung nicht auf einer weiter „untergeordneten“ Systemebene liegt, wie Hirschauer formuliert, sondern quer zur funktionalen Differenzierung. Gerade weil die Gesellschaftsstruktur selbst nicht nach Alters- und „Rassen“-, Geschlechts- und Sprachen-, Sexualitäts- und Ethnizitätskategorien strukturtiert ist, erhalten solche Kategorien und Kategorisierungen gerade deswegen besondere Freiheitsgrade. Es ist doch frappierend, wie sehr diese Kategorien, gerade weil sie querliegen, dafür verwendet werden, um gesellschaftliche Formen zu erzeugen. So korrespondieren ethnische und nationale Kategorien mit politisch formierten Grenzen oder ökonomischen Ungleichheiten. Die Persistenz und Trägheit von Geschlechterunterscheidungen lässt sich nicht mit der funktionalen Differenzierung erklären, aber sie werden benutzt, um Anschlussfähigkeiten zu schaffen. Man wird das Geschlecht auch dort nicht los, wo es entbehrlich wäre, und muss es deshalb besonders thematisieren, um es loszuwerden.
Die Wildheit der Humandifferenzierung liegt deutlich darin, dass sie keine gesellschaftsstrukturelle Bedeutung hat – dieser Satz bedeutet nicht, dass sie irrelevant oder auf einer „unteren Systemebene“ angesiedelt sei. Im Gegenteil: Gerade weil die Gesellschaftsstruktur diese Unterscheidungen nicht vorgängig reguliert, sind sie ein unerschöpfliches Reservoir für die Herstellung von Ordnung, Erwartbarkeiten und Trägheiten, die ja je ihre Funktion haben. Ich habe oben auf den Beitrag von Imhoff verweisen – der ist auch deshalb so interessant, weil er mit der Beschreibung der Funktion von strukturierenden und stereotypisierenden, vorsprachlichen, gewissermaßen latenten Aufmerksamkeitsselektionen einen Mechanismus beschreibt, der nicht nur auf psychische, sondern auch auf soziale Systeme anwendbar ist. Würde man also die Form der Koexistenz unterschiedlicher sozialer Differenzierungstheorien untersuchen wollen, müsste man sie wohl in ihrer Funktion für jene gesellschaftlichen Anschlusszusammenhänge ansehen müssen, die die Struktur der Gesellschaft ausmachen. Die Funktion mancher Humandifferenzierung liegt womöglich in ihrer Funktionslosigkeit für die Gesellschaftsstruktur – was sie besonders stabil werden lassen kann.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber des vorliegenden Bandes haben in ihrem Einführungsaufsatz darauf selbst einen womöglich für sie unmerklichen Hinweis gegeben. Sie schreiben: „In je mehr Sinnschichten ein kulturelles Phänomen gleichzeitig prozessiert wird, desto eher bleibt es stabil“ (S. 23). Das ist etwas, das unmittelbar mit Folgen funktionaler Differenzierung korrespondiert – ohne die man übrigens die Form der Gleichzeitigkeit kaum beschreiben kann. Je eher bestimmte kulturelle Formen in einzelnen Funktionssystemen gleichzeitig verwendet werden können, desto stabiler dürfte das Muster werden – nur andeutungsweise: man denke an die Stabilisierung familialer Geschlechterrollen auch auf Arbeitsmärkten oder Bildungschancen, was die letztlich funktionslose Geschlechterdifferenz funktional stabilisieren kann. Und „funktionslos“ heißt nicht, dass etwa Geschlechterrollen keine Funktion für den Arbeitsprozess durch entsprechende asymmetrische Berufswahl oder die Verfügbarkeit für Betreuungs- und Carearbeit hätten. Aber das ist eine Funktion, die eben eine kulturelle Trägheit ist, die sich so sehr bewährt hat, dass man sie schwer loswird.
Es sollte deutlich geworden sein, dass mit der Integration einer gesellschaftstheoretischen Perspektive nicht nur die Koexistenz selbst, sondern auch die Form einer solchen Koexistenz in den Blick geraten könnte und Forschung im Sinne des SFB dann nicht nur durch die epistemologische Gemeinsamkeit des kulturwissenschaftlichen Vergleichs zusammengehalten wird, sondern auch die soziologische Verhältnisbestimmung unterschiedlicher kultureller Formen in der Gesellschaft in den Blick nehmen kann.
Ich verhehle nicht meine Bewunderung dafür, wie es den Mainzern gelungen ist, diese so unterschiedlichen Perspektiven zusammenzuführen und durch eine sehr klug gewählte sparsame theoretische Integrationsform exakt dies zu ermöglichen. Vielleicht aber kann der Hinweis auf die Form der Koexistenz der unterschiedlichen Humandifferenzierungen und ihrer Konjunkturen als Anregung verstanden werden, auch theoretisch einen Schritt weiterzugehen, um nicht nur Humandifferenzierungen zu rekonstruieren und die Mechanismen selbst zu vergleichen, sondern auch zu erklären, warum eine moderne Gesellschaft offensichtlich kaum eine Stoppregel für solche Differenzierungen kennt – bis in den identitätspolitischen Einsatz einer bewussten Strategie der Humandifferenzierung als politischer Form.
Literatur
Hirschauer, S. (2014). Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten. Zeitschrift für Soziologie, 43, 170–191.10.1515/zfsoz-2014-0302Search in Google Scholar
Hirschauer, S. (Hrsg.) (2017a). Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung. Velbrück.10.5771/9783845292540Search in Google Scholar
Hirschauer, S. (2017b). Humandifferenzierung. Modi und Grade sozialer Zugehörigkeit. In Hirschauer, S. (Hrsg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung (S. 29–54). Velbrück.10.5771/9783845292540-28Search in Google Scholar
Hirschauer, S. & Boll, T. (2017). Un/doing Differences. Zur Theorie und Empirie eines Forschungsprogramms. In Hirschauer, S. (Hrsg.), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung (S. 7–26). Velbrück.10.5771/9783845292540Search in Google Scholar
Nassehi, A. (2017). Humandifferenzierung und gesellschaftliche Differenzierung. In Hirschauer, S. (Hrsg.) (2017a), Un/doing Differences. Praktiken der Humandifferenzierung (S. 55–78). Velbrück.10.5771/9783845292540-56Search in Google Scholar
Reckwitz, A. (2019). Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Suhrkamp.Search in Google Scholar
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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