Startseite Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
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Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €

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Veröffentlicht/Copyright: 6. Dezember 2022
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Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €


Ich schicke dieser Rezension voraus, dass ich Bruno Latour für einen der wichtigsten Soziologen der letzten 50 Jahre halte, auch wenn er sich selbst zusätzlich gerne der Anthropologie und seit einigen Jahren auch der Philosophie zurechnete. Ich beeile mich aber auch hinzuzufügen, dass ich spätestens seit seinem Buch Existenzweisen (2014) aufgehört hatte, seine Schriften zu verfolgen. Ich verstand ihn nicht mehr. Latours blumige Überlegungen der letzten gut zehn Jahre mögen große Klasse sein, mir erschienen sie bis dato eher wie unausgegorene Ideen, Träumereien, vielleicht sogar Esoterik. Vor diesem Hintergrund war ich mindestens genauso skeptisch wie gespannt auf die Lektüre des mir zur Rezension angebotenen neueren Buches Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime.

Das Buch geht zurück auf eine Vorlesungsreihe im Jahre 2013. Trotz grundlegender Überarbeitungen und einiger Erweiterungen der Vorlesungsskripte (S. 15) ist das Buch also nicht mehr ganz taufrisch. Dennoch wirken die Themen für die Soziologie auf den ersten Blick mehr als aktuell, denn immerhin geht es um die Natur der Gesellschaft und um ökologische Folgen menschlichen Handelns.

In den ersten beiden Kapiteln fasst Latour unter anderem seine früheren Thesen zum Natur-Kultur-Verhältnis der Moderne zusammen und verknüpft diese dann mit Debatten ums Anthropozän und dem menschengemachten Klimawandel. Der Rückblick auf seine früheren Arbeiten war zu erwarten. Man kann nicht voraussetzen, dass alle Leser:innen Latours „klassische“ Konzepte zur Symmetrie zwischen Menschen und Nichtmenschen, zur Ablehnung „moderner“ Naturbegriffe sowie die vielen terminologischen Erfindungen aus der Akteur-Netzwerk-Theorie kennen. Ich bekam jedoch den Eindruck, dass sich Latour in diesen beiden Kapiteln eher so etwas wie rechtfertigen möchte, so in dem Sinne, dass er nun in Anbetracht der Klimadebatte beweisen muss, dass er nicht der naive Relativist ist, zu dem er im Zuge der sogenannten Science Wars der 1990er Jahre gelegentlich abgestempelt wurde und dass er mit seinem Relativismus die klimaskeptischen Stimmen vergangener Jahrzehnte unterstützt hätte. Latour will zeigen, dass die Lage ernst ist und die Diskussion um den Klimawandel erst begonnen hat. Für seine Rechtfertigungsstrategien lässt er dafür keine Verkürzung und kaum ein Klischee aus. Latour spricht, wie im Titel bereits zu lesen, vom Kampf und im Buch sogar vom Krieg gegen den Klimawandel. Auch wenn er in einem Interview in Science davor gewarnt hatte, dass die Rede vom Klimaskeptizismus begrifflich unklug sei (de Vrieze, 2017), so ist er in diesem Buch voll auf der Seite der Kämpfer:innen gegen Skepsis und Leugnung. Es wird klar, Latour will ein Guter sein. Etwas Neues, geschweige denn soziologisch Innovatives findet sich auf den ersten knapp 150 Seiten nicht. Weite Passagen dieser beiden Einleitungskapitel könnten auch Collagen aus Plakatsprüchen und empörten Redebeiträgen von Fridays-For-Future-Veranstaltungen sein, in jedem Falle stellen sie keine kritische Darlegung aktueller Klimaforschung dar, auch wenn Latour dies zu suggerieren sucht. Das ist verwunderlich, denn laut Latour haben „wir“ (er adressiert durchgehend ein Wir, wer auch immer hier jeweils gemeint sein mag) die Wichtigkeit der Klimakrise nicht im Ansatz verstanden, weshalb er uns nun Vorschläge zu neuem Denken in einem neuen Klima-Bewusstsein vorführen möchte. Damit kann sich Latour zwar sicher sein, dass er bei eher aktivistisch angehauchten Soziolog:innen Zustimmung findet, aber vielleicht haben diese dann doch Wichtigeres zu tun, als das Buch zu Ende zu lesen, denn der Autor von Kampf um Gaia wird im Folgenden nicht origineller oder auch nur klarer in seinen Ausführungen.

Bereits die Rede vom „neuen Klimaregime“ bleibt undeutlich. Latour muss dafür die These vom Anthropozän bemühen (Kapitel 4) und zeigen, dass die Erde sich in einem neuen Zeitalter befindet. Als Nachweis dazu genügt ihm, dass wichtige natur- und sozialwissenschaftliche Zeitschriften das Thema Anthropozän auf ihre Titelseiten genommen hatten. Über die Bebilderung dieser Ausgaben lässt sich Latour ausführlich aus und die gefundenen Aussagen zum Anthropozän scheinen ihm zu gefallen. „Im selben Augenblick“, so Latour, „da es Mode wurde vom ‚Posthumanismus‘ zu sprechen und im blasierten Ton der Neunmalklugen die Zeit des Menschen für ‚abgelaufen‘ zu halten, meldet sich der ‚Anthropos‘ zurück“ (S. 203). Aussagen wie diese können durchaus auch als Absage an seine einstmaligen proto-posthumanistischen Ausführungen zu Hybriden und Quasiobjekten verstanden werden. Laut Latour hätte vor dem Anthropozän ein altes Regime geherrscht, dass von der Kontrolle (ein von Latour häufig genutztes Wort) und Steuerungsfähigkeit der Erde ausgegangen sei. Wer genau diese Fähigkeit propagiert haben soll, sagt uns Latour nicht. Wahrscheinlich waren es wieder diese Modernen, also diejenigen die sich bereits mit der Natur-Kultur-Unterscheidung verrannt hatten. Diese haben dann durch extreme Eingriffe in Ökosysteme und die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen der letzten 300 Jahre die Welt in ein neues Klimaregime geführt. Damit sei das Klima heute, anders als in der traditionellen Natur-Kultur-Unterscheidung, nichts Gesellschaftsexternes mehr, vor dem man sich schützen muss und an das sich bei natürlichen Schwankungen angepasst wird, sondern es wurde im Anthropozän zu einem innergesellschaftlichen, politischen, religiösen, ökonomischen und kulturellen Konfliktthema. Latour nutzt die Anthropozändiskussion also vor allem, um seine Kritik an der Natur-Kultur-Unterscheidung zu stützen.

Um mit den neuen Konflikten im Anthropozän umzugehen sei die Metapher von Gaia hilfreich (Kapitel 3). Latour macht keinen Hehl daraus, dass die von James Lovelock und Lynn Margulis propagierte Gaia-Hypothese, in der die Erde und ihre Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet wird, zwar umstritten sei, aber vor dem Hintergrund des neuen Klimaregimes wähnt er sie nützlich, um die sich nun abzeichnenden innergesellschaftlichen Spannungen und „Kämpfe“ besser anzugehen. Der Kern von Latours Faszination scheint zu sein, dass es im Grunde für Lovelock „keine Umwelt mehr“ gäbe „der man sich anpassen könnte“ (S. 177; Herv. im Orig.). Kurzum, da das Klima sich nun in innergesellschaftliche Netzwerke eingeschlichen habe, sei die Erde und alles, was auf und in ihr lebt, als ein dynamisches Gesamtsystem zu verstehen.

Mit der Verknüpfung zwischen Anthropozän und Gaia behauptet Latour nun einen Grundstein für eine demokratisch legitimierte Kooperation zwischen Naturwissenschaft, (Umwelt-)Aktivismus, Politik, Ökonomie, Kunst, kurz gesagt, mit allen gesellschaftlichen Subsystemen gelegt zu haben (Kapitel 5-7). Auf diesem Grundstein kann nun der Kampf gegen die Zerstörung von Gaia, unserer Erde, die „keine Göttin im eigentlichen Sinn, sondern eine Macht aus der Zeit vor den Göttern“ (S. 143-144) sei, beginnen. Latours Überlegungen dazu lesen sich teilweise recht unterhaltsam, aber alles in allem doch eher so, als ob hier jemand aufgeregt über Konzepte und Themen spricht, die er kürzlich entdeckt hat und dabei ein paar vermeintlich neue Verknüpfungen machen konnte. Leider sind in der Substanz keine von Latours Ausführungen neu. Immerhin sind hier und da eingestreute Nebenbemerkungen recht amüsant, wie z. B. seine ironischen Einwürfe zu seiner eigenen Ungeduld (S. 199) oder auch die Beschreibungen von Mikroorganismen in Eichenbottichen eines burgundischen Weinkellers (S. 164) zeigen.

Mit seinen vielfältigen Verweisen auf Gaias Nicht-Steuerbarkeit, manövriert sich Latour im Grunde in eine paradoxe Argumentation. Wenn Gaia, wie Latour die These auslegt, so „überraschend“ (S. 143), in „ständigem Getöse“ (S. 164), „selbstregulierend“ (S. 167), voller „nichtintentionaler Rückwirkungen“ (S. 174) und sogar ohne „Hierarchie“ (S. 187) sein soll, dann stellt sich die Frage, was die jeweilige naturwissenschaftliche und sogar demokratisch legitimierte Grundlage für die schwierigen politischen Aushandlungsprozesse auf globaler Ebene sein kann. Die Klimaforschung, so Latour, könne nicht mehr „die Rolle eines unumstrittenen letzten Schlichters spielen“. Stattdessen müsste diese „vielfältige Schleifen“ einrichten, „um uns für die Sensibilität Gaias zu sensibilisieren“ (S. 403). Das heißt, „Punkt um Punkt muss gerungen werden, um die wechselseitigen Reaktionen der Wirkungsmächte zu entdecken“ (S. 402). Im Grunde sagt Latour, dass die Erde als Gaia weder einheitlich steuerbar noch verstehbar ist und sich die Menschheit – er spricht von den „unter Gaia versammelten Leuten“ (S. 311), dem „Volk der Gaia“ (S. 362) oder allgemein den „Erdverbundenen“ (z. B. S. 465) – lokal und regional an neue klimatische Bedingungen immer wieder neu anpassen muss, also genau das, wovon er sich zu Beginn des Buchs wortreich abgegrenzt hat. Selbst wenn man diese Interpretation nicht nachvollziehen will (was vor dem Hintergrund der vieldeutigen Metaphern und der widersprüchlichen Einwürfe und Exkursionen Latours sicher möglich ist), um zur Einsicht zu gelangen, dass die Eingriffstiefe der Menschen in die Erde sowie die Bedeutung des Klimawandels in Verbindung gedacht werden müssen und dass dies neue Formen demokratischer Beteiligung und Legitimierung mit sich ziehen sollte, dazu braucht man weder Gaia, noch das Anthropozän, noch einen bunten Begriffsapparat aus Latours Metaphernkiste. Man könnte „Kampf um Gaia“ auch in einem Satz so zusammenfassen: Es ist alles nicht so einfach in und mit der großen weiten Welt.

Wenn ich die Kernaussagen anderer Rezensionen zu „Kampf um Gaia“ sowie die Nachrufe seit Latours Tod Revue passieren lasse, dann findet sich da im Grunde viel Lob dahingehend, dass das Buch und Latours Ideen zur Klimapolitik zwar streckenweise etwas schwer zu verstehen seien, aber dass es sich dennoch um wichtige Gedanken handele. Worin nun aber die Wichtigkeit besteht und was genau die Leser:innenschaft mit diesem Buch am Klimathema besser verstanden haben soll, das wird durchgehend verschwiegen. Der Appell an „alle“ endlich das Thema ernst zu nehmen, weil Gaia viele Feedbackschleifen aufweist und das Anthropozän eine neue Epoche kennzeichne, ist etwas dünn. Wenn man für diese Einsichten ernsthaft Bruno Latour braucht, dann hat man wahrscheinlich ganz andere Probleme.

Vielleicht wollte Latour aber auch gar nicht, dass man sich ernsthaft mit dem Thema befasst. Auf den letzten Seiten des dicken Bandes beginnt er zu zweifeln. Er schreibt, dass die von den neuen Klimaregimen vorangetriebenen „Umkehrungen noch derart im dunkeln [sic!]“ lägen, „dass wir nicht klarer sehen, was mit uns geschieht, als Kolumbus, der bei seiner Rückkehr von Hispaniola meinte die chinesische Küste gesehen zu haben“ (S. 487). Latour ist sich plötzlich noch „nicht einmal mehr sicher“ ob „das Anthropozän unsere Lebensweisen verändern werde“ (S. 488). Na was denn nun? Ob solche Einlassungen eher Verwirrung als Methode darstellen, ob es latoursche Ironie oder Ernst ist, man weiß es nicht. Man braucht es aber auch nicht zu wissen, denn wenn man das Buch bis hierhin durchgestanden hat, kann einen sowieso nicht mehr viel umhauen. Kurzum, alles, was in diesem Buch soziologisch interessant ist, findet sich bereits in früheren Schriften Latours oder auch anderer Autor:innen. Das was in diesem Buch zumindest für Latour neu scheint, ist an anderen Stellen vielfach beschrieben worden. Latours Thesen aus diesem Buch mögen in der Klima- und Umweltschutzbewegung weiterhin viel Widerhall finden, als Werk der Soziologie, und um dieses Fach geht es in einer Rezension an dieser Stelle, ist „Kampf um Gaia“ eher irrelevant.

Literatur

De Vrieze, J. (2017). Bruno Latour, a veteran of the “science wars,” has a new mission. Science, 358 (6360). doi: 10.1126/science.aaq1805.10.1126/science.aaq1805Suche in Google Scholar

Latour, B. (2014 [2012]): Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen. Suhrkamp.10.3196/219458451467454Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Neuerfindung der Grenzforschung?
  6. Grenzsoziologie
  7. Essay
  8. Systemtheoretische Perspektiven auf Organisationen – Luhmanns bekannte und unbekannte Schriften zur Organisation
  9. In welcher Gesellschaft werden Menschen unterschieden?
  10. Sammelbesprechung
  11. Die Gegenwart der Vergangenheit: Kollektive Erinnerungen und Medialisierungen als Vermittlung von Geschichte
  12. Doppelbesprechung
  13. Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
  14. Einzelbesprechung Analytische Soziologie
  15. Gianluca Manzo (Ed.), Research Handbook on Analytical Sociology. Cheltenham, UK: Edward Elgar 2021, 515 S., gb., 288,59 €
  16. Einzelbesprechung Geschlecht
  17. Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €
  18. Einzelbesprechung Klima
  19. Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
  20. Einzelbesprechung Körper
  21. Stefan Dreßke, Empfindliche Körper: Kopfschmerzpraktiken zwischen Alltag und Medizin. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 330 S., kt., 35,00 €
  22. Einzelbesprechung Religion
  23. Christel Gärtner / Gert Pickel (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2019, 669 S., kt., 42,99 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt
  25. Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €
  26. Replik
  27. Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2022
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 27.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2006/html
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