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Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €

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Published/Copyright: December 6, 2022
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Rezensierte Publikation:

Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €


Schlüsselwörter: Lehre; Einführung; Umweltsoziologie

In Zeiten, in denen die Temperatur der Erde zum Verhandlungsgegenstand global vernetzter Gesellschaften avanciert, stellt sich auch für die Soziologie die Frage, welchen Beitrag sie zur Perspektivierung derartiger Entwicklungen in theoretischer und empirischer Hinsicht zu leisten vermag. So ist mit Blick auf ihre historische Genese eben diese Disziplin von ihren Vertreter:innen mit dem Vorwurf konfrontiert worden, über Jahrzehnte hinweg „einen zu engen Blickwinkel“ (Groß 2001, S. 11) eingenommen zu haben – ein Blickwinkel, der Natur und Umwelt nur ausschnitthaft, unscharf oder kulissenartig berücksichtigt hat, um Soziales und Gesellschaftliches ins Zentrum zu rücken. Insbesondere die Umweltsoziologie hat diesen Vorwurf zu ihrem Einsatz gemacht und ist in ihrer fortlaufenden Gegenstandsbestimmung längst aus dem Bereich der Nische herausgetreten. Dies zeigt sich unter anderem an der Zunahme umweltsoziologischer Einführungs- und Grundlagenliteratur seit der Jahrtausendwende (z. B. Diekmann & Preisendörfer, 2001; Groß & Heinrichs, 2010; Brand, 2014). Mit der Publikation von Cordula Kropp und Marco Sonnberger wird dieser Entwicklung für den deutschsprachigen Raum weitergehend Rechnung getragen.

Der als Lehrbuch konzipierte Band adressiert insbesondere Studierende „der Wissenschaften von der Gesellschaft“ (S. 5) und ist im Stil einer Einführung verfasst. In seiner Gestaltung ist dem Band eine bestimmte Didaktik eingeschrieben, auf die vor der inhaltlichen Auseinandersetzung kurz eingegangen werden soll: Vor jedem Kapitel finden sich grau hinterlegte Zusammenfassungen, die die Erwartungen der Leser:innen orientieren. Auch wird am Schluss eines jeden Kapitels stichpunktartig resümiert „Was Studierende aus diesem Kapitel mitnehmen können“. Weitere didaktische Inskriptionen zeigen sich im verstärkten Einsatz von Graphiken sowie im Umgang mit Literatur: Nach den kapitelweise folgenden Bibliographien schließen stets Literaturempfehlungen an, die die Autor:innen im Kontext des jeweiligen Kapitels als einschlägig erachten.

Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert. Kapitel 1 leitet unter der Überschrift „Zur gesellschaftlichen Erkenntnis von Umweltproblemen“ zunächst in zentrale und historisch relevante wissenstheoretische Diskurse ein und skizziert in diesem Zuge die bereits vielrezipierte Kontroverse zwischen „Realismus“ und „Konstruktivismus“. Die Autor:innen betrachten insbesondere den „Sozialkonstruktivismus oder ‚gemäßigte[n] Konstruktivismus‘ [...] als eine Kompromisslösung“ (S. 14), den sie mit Ausnahme der Kapitel, die sich neomaterialistischen und Akteur-Netzwerk-theoretischen Ansätzen zuwenden, als „erkenntnistheoretische Grundposition“ (ebd.) des Buches veranschlagen. Nach einem knapp gehaltenen Rückblick auf die Geschichte umweltsoziologischer Forschungen, flankiert von disziplinären Entwicklungen der Soziologie, fokussieren die Autor:innen die ihrer Ansicht nach zentralen „Herausforderungen der Umweltsoziologie im Anthropozän“ (S. 23). Damit stellen sie ihr Werk in den Kontext des von Paul Crutzen (2002) ausgerufenen Erdzeitalters, das seine Prägung in der maßgeblichen Beeinflussung bio-, geo- und atmosphärischer Prozesse durch Menschen und ihre Technologien findet. Eine Herausforderung besteht den Autor:innen zufolge im Spagat umweltsoziologischer Forschungen zwischen analytischer Distanz und transformatorischem Impact, wenn es heißt: „Unserer Ansicht nach darf sich die Umweltsoziologie [...] weder im Elfenbeinturm verbarrikadieren noch in der Gemengelage politischer Aktionen verlieren“ (S. 26).

Im Rahmen zweier konzeptionell gehaltener Kapitel zeigen Cordula Kropp und Marco Sonnberger verschiedene Perspektiven auf Natur und Umwelt auf: Kapitel 2 widmet sich aus (sozial-)konstruktivistischer Sicht „Gesellschaftliche[n] Naturverständnisse[n]“ und damit vorrangig „Vorstellungen und Deutungsansprüche[n]“ (S. 30) bzw. anders formuliert Sinnzuschreibungen von und Kommunikationen über Natur und Umwelt. Als theoretische Grundlage hierfür dient die Wissenssoziologie nach Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969), die Alltagswissen zentralstellt und im Rückgriff auf Konzepte der philosophischen Anthropologie in ihren Grundannahmen von einem dialektisch angelegten Mensch-Natur-Verhältnis ausgeht. Als weitere konstruktivistische Perspektive führen die Autor:innen die Systemtheorie nach Niklas Luhmann ins Feld. Entlang der diesem Ansatz zugrundeliegenden Annahme einer System/Umwelt-Differenz wird ein Naturverständnis erörtert, das seine Plausibilität bekannter Weise in systeminternen Informationsverarbeitungen und Operationen findet (u. a. Luhmann, 1986). Weitere Dynamiken historisch und kulturell eingebetteter Naturverständnisse sowie die Beharrlichkeit bestimmter Deutungen wie etwa die einer durch Menschen zu beherrschenden Natur in Zeiten moderner Industriegesellschaften werden mit Blick auf gesellschaftlichen Wandel und politische Implikationen konturiert.

Ein weiteres Theoriekapitel (Kapitel 3) wird aufgeschlagen, in dem sich die Autor:innen unter dem Aspekt der „Naturverhältnisse“ solchen Theorien zuwenden, die ihre Argumentationen in kritischen Auseinandersetzungen mit dualistischen und dichotomen Natur/Kultur-Relationen entwickeln. Neben der Einführung in klassisch umweltsoziologische Konzepte wie etwa mit Blick auf die „socio-metabolic regimes“ nach Marina Fischer-Kowalski (2011) oder die „sozial-ökologischen Regime“ nach Karl-Werner Brand (2014) gehen Cordula Kropp und Marco Sonnberger auf drei Positionen ein, die sie unter dem Label „relational“ subsumieren: Erstens auf die wissenschaftstheoretisch und spekulativ angereicherten Konzepte Donna Haraways, die Natur als „Akteur und Agent“ (Haraway, 1995, S. 93) hervortreten lassen; zweitens auf die Akteur-Netzwerk-Theorie (u. a. Latour, 2007), die in ihren wissenschaftssoziologischen Ausgängen und später politisch auftretenden Argumentationen Natur/Technik agency zuschreibt; und drittens auf das Konzept des Agentiellen Realismus nach Karen Barad, mit dem vermeintlich abgegrenzte Bereiche wie Natur und Technik in „Intra-Aktionen“ (Barad, 2012) fluidisiert werden.

Mit Kapitel 4 „Umweltbezogene Haltungen und Umwelthandeln“ leiten die Autor:innen in empirisch ausgerichtete umweltsoziologische Forschungen ein. Hierzu werden einmal an quantitativen Verfahren orientierte Ansätze einschließlich ihrer kritischen Diskussion vorgestellt, so beispielsweise die u. a. von Riley Dunlap entwickelte NEP-Skala (new environmental paradigm scale). Mit der Cultural Theory nach Mary Douglas und Aaron Wildavsky (1992) wird zudem eine anthropologisch orientierte Perspektive kritisch verhandelt, mit der besonders Naturbilder und Sozialordnungen in den Fokus rücken. Klassiker wie die „Risikogesellschaft“ nach Ulrich Beck (1986) finden ihre Besprechung in Kapitel 5, das sich systematisch mit umweltsoziologischen Zugriffen auf den Begriff des Risikos befasst. In Kapitel 6 richten die Autor:innen ihre Aufmerksamkeit auf die Thematik der „Umweltbewegung und Umweltkonflikte“ (S. 131) u. a. eingebettet in Theorien sozialer Bewegungen – auch eine knappe historische Einordnung von Umweltbewegungen wird in diesem Zusammenhang geboten. Anhand zweier thematischer Schwerpunkte nehmen sich Cordula Kropp und Marco Sonnberger in Kapitel 7 und 8 sodann dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung an: Ein an Entscheidungen und Praktiken orientierter Schwerpunkt liegt dabei einmal auf Konsum als „fester Bestandteil der Struktur moderner Gesellschaften und damit auch des alltäglichen Lebens“ (S. 151); mit dem Fokus auf „Innovationen und Transformationsprozesse“ (S. 169) wird die Sicht zudem auf Großprojekte und soziotechnische Systeme erweitert. Im Anschluss daran (Kapitel 9) stellen die Autor:innen Infrastrukturen als „Weichensteller gesellschaftlicher Naturverhältnisse“ (S. 189) vor, wobei diese u. a. in ihren „Beharrungskräfte[n]“ (S. 194) und Konfliktpotenzialen diskutiert werden. Abschließend reflektieren die Autor:innen sozial-ökologische und nachhaltigkeitsbezogene Forschungsfelder im Lichte transdisziplinärer Anforderungen (Kapitel 10).

Der Band von Cordula Kropp und Marco Sonnberger verdeutlicht in überzeugender Weise die Relevanz umweltsoziologischer Perspektiven und Forschungen für sämtliche Studienfächer, deren Kern es ist, sich mit heutigen Gesellschaften, ihren Entwicklungen und Herausforderungen auseinanderzusetzen. Mit griffigen Schwerpunktthemen formulieren die Autor:innen eine Struktur, die geeignet ist, um die vielfältigen Einblicke in umweltsoziologische Forschungsfelder, Begrifflichkeiten und Fragestellungen systematisch zu vermitteln. In seinen multiperspektivischen Bezugnahmen zeigt sich der Band als überaus aufgeschlossen gegenüber verschiedenen theoretischen Zugängen, indem zum Beispiel auch neomaterialistische Ansätze profiliert und in ihren Potenzialen diskutiert werden. Mit seinen zahlreichen Verweisen auf diverse quantitative und qualitative Studien liefert der Band zudem fundierte Einblicke in empirische Forschungen, die die Umweltsoziologie zum Teil maßgeblich geprägt haben. Positiv hervorzuheben ist auch, dass die Autor:innen in ihren Darstellungen nicht nur eine Vielzahl an Ansätzen, Konzepten und Studien rezipieren, sondern wohldosiert und stets eingebettet in internationale wissenschaftliche Diskurse Einordnungs- und Positionierungsarbeit leisten, indem sie stellenweise als kritische Kommentator:innen auftreten. Festzuhalten bleibt: In Zeiten, in denen u. a. die anthropogen vorangetriebene Erderwärmung global vernetzte Gesellschaften in ihrem Wirken und Wüten vor immense Herausforderungen stellt, bleibt zu hoffen, dass die Umweltsoziologie nicht zuletzt durch den Einsatz dieses aufschlussreichen Bandes in der deutschsprachigen universitären soziologischen Lehre und darüber hinaus weitergehend etabliert und verankert wird.

Literatur

Barad, K. (2012). Agentieller Realismus. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Berger, P. L. & Luckmann, T. (1969). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie die Wissenssoziologie. Fischer Verlag.Search in Google Scholar

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Fischer-Kowalski, M. (2011). Analyzing sustainability transitions as a shift between socio-metabolic regimes. Environmental Innovation and Societal Transitions, 1(1), 152–159. 10.1016/j.eist.2011.04.004Search in Google Scholar

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Luhmann, N. (1986). Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Westdeutscher Verlag.10.1007/978-3-322-88754-2Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
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Downloaded on 29.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2013/html
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