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Neuerfindung der Grenzforschung?

Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München: Edition Mercator/C.H. Beck 2021, 189 S., br., 14,95 €
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Published/Copyright: December 6, 2022
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Rezensierte Publikation:

Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert. München: Edition Mercator/C.H. Beck 2021, 189 S., br., 14,95 €


Soviel sei vorweggenommen: Steffen Mau hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Diskussion um Konzepte zu Globalisierung und Grenzziehungen für personale Mobilität im 21. Jahrhundert geleistet. Die Monographie ist vor allem im Zusammenhang der Arbeiten des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1265 „Re-Figuration von Räumen“ (Löw & Knoblauch, 2019) entstanden und fußt auf mehreren, vor allem englischsprachigen Einzelpublikationen. Mau behandelt die Entwicklung und Funktion von Grenzen oder genauer von Grenzregimen, die er als „Sortiermaschinen der globalisierten Welt“ (S. 15) bezeichnet. Gegen eine allzu vereinfachende Sichtweise auf Globalisierung als ubiquitären Prozess von Grenzöffnung und zunehmender generalisierter Mobilitätschancen thematisiert Mau vor allem die dark side of the moon, die Entwicklungen neuer Grenzziehungs- und sozialer Schließungsprozesse. Er schlägt vor, „um den dialektischen Kern der Globalisierung zu erfassen und begrifflich zu schärfen, sogar von Öffnungsglobalisierung und Schließungsglobalisierung“ zu sprechen (S. 15f., Hervorhebung im Original). Grenzen stellen für ihn „Prozesse, Technologien und Infrastrukturen dar, mit Hilfe derer Sortiervorgänge durchgesetzt werden und die das Zusammenspiel von Territorialität, Zirkulation und Aufenthalt regulieren“ (S. 19). Für Mau haben Grenzen nicht einfach nur Schließungs-, sondern auch selegierende und separierende Funktionen. Er möchte „mit einem nachtgeschärften Beobachtungsradar“ (S. 20) die Veränderungsprozesse im Hinblick auf Grenzregime im Prozess der Globalisierung analysieren.

Hierzu wird zunächst nach dem einleitenden Überblick im zweiten Kapitel das Verhältnis von Staatlichkeit, Territorialität und Grenzkontrolle anhand verschiedener Beispiele veranschaulicht. Ausgehend vom klassischen Staatsverständnis als Einheit von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt wurden Grenzen, so Mau, historisch als die Markierungen für einen Territorialraum, der gleichzeitig ein Raum gesellschaftlicher Mitgliedschaft und entsprechender Regeln ist, verstanden. Allerdings hätte sich dieses idealtypische Bild von Grenze als Ausdruck nationalstaatlicher Souveränität schon seit der Kolonialzeit als den tatsächlichen sozialen, ethnisch-kulturellen und politisch-territorialen Grenzziehungen widersprechend erwiesen (S. 29). Nachdem die Welt heute im Sinne territorial-staatlicher Verfasstheit weitgehend aufgeteilt ist, habe sich das Thema von Grenzen und Grenzziehungen keineswegs erledigt, sondern differenzierten sich Linien und Mechanismen von Grenzziehungen neu aus.

In einem weiteren Kapitel folgt der Versuch einer eher konzeptionellen Reflektion zur Dialektik der Globalisierung. Mau kritisiert die Gleichsetzung von Globalisierung mit Entgrenzung und verweist auf die Intensivierung von grenzüberschreitenden Transaktionen und Mobilitäten sowie auf die Herausbildung transnationaler Sozialräume (S. 42). In der bisherigen Globalisierungsforschung, so Mau, bestehe „eine klare Schlagseite in Richtung De-bordering, der Dreh- und Angelpunkt der Weltbetrachtung sind das Bewegungsprinzip und die Öffnung des nationalgesellschaftlichen Containerraums“ (S. 45 f.). Eine solche Auffassung werde den tatsächlich zu beobachtenden Prozessen nicht gerecht. Mau möchte zeigen, dass „parallel zur entgrenzenden Globalisierung auch unübersehbare Trends der Schließung, der Grenzselektivität und der Kontrolle“ (S. 48) vorhanden sind. Diese Hauptargumente werden dann in den folgenden Kapiteln anhand empirischer Befunde aus eigener Forschung und durch einige Hinweise auf die Forschungen zu Grenzregimen erläutert. Anschaulich und wortgewandt beschreibt Mau, wie sich auch im 21. Jahrhundert trotz Globalisierung die Stabilisierung und technische Aufrüstung territorialer Grenzen weiterentwickelt hat. Er schlägt gleichzeitig eine Typisierung heutiger territorialer Landgrenzen vor nach dem Grad ihrer physisch-baulichen Gestalt und unterscheidet zwischen Niemandslandgrenze, Grenzsteingrenze, Kontrollortgrenze, Barrieregrenzen und fortifizierter Grenze. Letztere ist etwa als Mauer zwischen Mexiko und den USA bekannt. Mau erwähnt vielfältige Gründe für Bau bzw. Erhalt solcher Grenzen. Es könne sich um einfache historische Relikte, um den Ausdruck eingefrorener Konflikte oder unbestrittener Gebietsansprüche, um Bauwerke zur Abwehr von Terrorgefahren oder auch um Abwehrmaßnahmen gegen illegale Menschenschleusung handeln.

Mau zeigt eindrücklich, dass verstärkte Grenzkontrollen immer wieder wie in einem Katz-und-Maus-Spiel durch deren innovative Überwindung durch bestimmte Personengruppen neue Runden der Fortifizierung auslösen. Dabei haben Grenzen verschiedene Funktionen. Sie dienen als Wohlstandsgrenzen, als Symbole staatlicher Souveränität und Integrität, und sie können spezifische „Filter- und Blockadewirkungen“ (S. 68) entfalten. Im fünften Kapitel zeigt Mau anschaulich, wie Grenzen für Menschen unterschiedlicher sozialer Gruppenzugehörigkeit und Ressourcenausstattung differenzierend und filternd wirken insofern sie gut ausgebildeten, mit vielen Ressourcen ausgestatteten und (deutlich seit der Covid-Pandemie) gesunden Personen privilegierte Zu- und Durchgänge erlauben. „Die meisten Grenzen sind wie semipermeable Membranen nur für bestimmte Elemente (hier: Personenkategorien) durchlässig“ (S. 80). Dabei kann die Ausweitung von Rechtegewährung für bestimmte Gruppen mit der zunehmenden Abschottung gegenüber anderen sozialen Gruppen wie Flüchtlingen einhergehen. Mau erläutert diese Mechanismen am Beispiel von nach Personengruppen differenzierten Visumsbestimmungen.

Im sechsten Kapitel werden Befunde zum Ausbau von Grenzen durch neue Technologien wie Biometrie und Nutzung von Massendatenbeständen vorgestellt, die unter dem Stichwort Smart Borders verhandelt werden. Es geht dabei zunächst um den Ausbau visueller, sensorischer, thermischer und akustischer Grenzüberwachung auf der Basis neuer Technologien (S. 101). Hieraus ergebe sich eine Ausdifferenzierung sozialer Ungleichheitsstrukturen, insofern auf der einen Seite für wohlhabende und/oder ‚loyale‘ Personengruppen etwa sogenannte Smart Gates (S. 107) an Flughäfen eingerichtet werden, die eine bevorzugte und schnelle Abfertigung ermöglichen und auf der anderen Seite sogenannte Risikogruppen (wie Terroristen, Drogenhändler oder Schleuser) immer genauer durch technische Überwachung und die Integration vielfältiger Datenbanken aufgespürt und von Grenzüberschreitungen ausgeschlossen werden. Hier spielt der Territorialbezug von Grenzziehungen keine entscheidende Rolle mehr: „Die smarte Grenze ist eine der globalen Datenströme und des Informationsaustausches“ (S. 108). Digitale Datensätze, die in transnationalen Netzwerken zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren ausgetauscht werden, hätten in der Covid-Pandemie eine wesentliche Stärkung erfahren.

Das siebte Kapitel beschäftigt sich unter dem Stichwort Makroterritorien mit der zunehmenden Regionalisierung im Sinne der Verabredung erweiterter Mobilitätschancen innerhalb von Staatenverbünden bei gleichzeitiger verstärkter Schließung gegenüber ‚Drittstaaten‘. Als Beispiele werden hier die Europäische Union und andere Staatenverbünde (wie in Skandinavien oder Westafrika) behandelt, die sich auf gemeinsame Visums- und Mobilitätsnormen und erleichterte oder gar entfallende Grenzkontrollen verständigt haben. Nach Mau geht die Mobilitätserleichterung nach innen dabei mit einer „makroterritorialen Außenhärtung“ (S. 133) einher. Im achten Kapitel geht es um die Tendenz, Grenzen und Grenzkontrollen bereits weit außerhalb der nationalstaatlichen bzw. makroterritorialen Einheiten auszubauen. Beispiele hierfür sind die Abkommen mit Niger über erweiterte Grenzkontrollen (vor allem wegen der Mobilitätserweiterungen im Rahmen des ECOWAS) oder das EU-Türkei-Abkommen. Solche Externalisierungen von Grenzkontrollen können sich auf die Herkunftsländer von Migrierenden, aber auch auf die Transitländer sowie die damit verbundenen Transitwege und Transportmittel (etwa Verpflichtung von Flug- oder Busgesellschaften zu entsprechenden Kontrollen) ausweiten. Besonders in Bezug auf den Flüchtlingsschutz lassen sich solche Dezentralisierungsbestrebungen als Zurückhalten oder Vorprüfen von möglicherweise asylberechtigten Personen in Drittstaaten aufzeigen.

Mau führt menschen- und völkerrechtliche Studien an, die – etwa in Bezug auf die Diskussionen um die Eröffnung von Asylzentren der EU in nordafrikanischen Staaten – einen zunehmenden Widerspruch zwischen der Externalisierung von Grenzkontrollen und der Anwendung internationaler und nationaler Rechte konstatieren (S. 147 f.). Abschließend fasst Mau seine Argumente zusammen: „Die Grenze ist heute auch keine einzelstaatliche und auf das nationale Territorium beschränkte Angelegenheit mehr, sondern eine komplexe und internationalisierte Sortiermaschine, ein Ensemble aus rechtlichen Regelungen, Kontrollinstanzen, der Inanspruchnahme anderer Staaten, Daten und Technologie“ (S. 154). Er identifiziert vier allgemeine Tendenzen im Hinblick auf die Entwicklung von Grenzregimen. Dies ist zunächst die Tendenz, die Mobilität von Menschen zunehmend unter Gesichtspunkten von Sicherheit (Terrorismus, Kriminalität, Epidemien etc.) zu behandeln, zweitens eine zunehmende technologiebasierte Verschachtelung unterschiedlicher Kontrollräume, drittens die stärker an sozialen Ungleichheitsdimensionen orientierte Zuweisung von Mobilitätsrechten im Sinne von „mobility citizenship“ (S. 161) und schließlich die wachsende Differenzierung von Mobilitätschancen und -dynamiken nicht nur in der horizontalen Dimension nationalstaatlicher Territorien, sondern auch der vertikalen Dimension sozialer Ungleichheit als Ressourcenausstattung.

Steffen Mau hat ein gut lesbares Büchlein zu einem gesellschaftlich wie sozialwissenschaftlich relevanten Thema vorgelegt. Es werden wesentliche Entwicklungstendenzen, aber auch Widersprüchlichkeiten der gegenwärtigen Prozesse von Internationalisierung behandelt. Es werden einige Befunde aus der inzwischen recht etablierten internationalen Forschung und Diskussion zu Grenzregimen und ebenso aus einigen empirischen Arbeiten des SFB präsentiert. Die grundlegenden Darlegungen sind für Lesende, die mit dem Thema nicht so vertraut sind, weitestgehend verständlich und nachvollziehbar. Damit erfüllt das Buch auf den ersten Blick wesentliche Ziele der neuen Reihe Edition Mercator gemäß deren Motto „Keine Scheu vor Thesen, Mut zu Kontroversen“ (S. 191). Allerdings stellen sich aus soziologischer Professionssicht einige kritische Fragen.

Erstens scheut Steffen Mau zwar keine Thesen, er argumentiert auch pointiert und kontrovers. Allerdings stellt sich die Frage, wie relevant eigentlich in wissenschaftlicher Hinsicht das Hauptnarrativ noch ist, gegen das die Kontroverse geführt wird. Es ist – wie es auf dem Buchdeckel heißt – der „kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt“, gegen den Mau seine Kritik richtet. Damit präsentiert er einen Pappkameraden, auf den zu schießen ein Leichtes ist, weil er schon seit mindestens drei Jahrzehnten von allen Seiten unter Feuer steht. Die komplexen Wechselwirkungen zwischen Globalisierung, Lokalisierung, Glokalisierung, Re-Nationalisierung, Transnationalisierung und Regionalisierung werden seit den 1990er Jahren in der Soziologie, aber auch in den Politikwissenschaften, der Ökonomie und Managementforschung, der Anthropologie, den Kultur- und den Raumwissenschaften konzeptionell und im Hinblick auf empirische Befunde ausführlich diskutiert. Von einer „Neuerfindung der Grenze“ zu sprechen macht eigentlich nur Sinn, wenn man eine Periode unterstellt, in der sie keine, eine völlig untergeordnete oder eine völlig andere Rolle gespielt hat. Steffen Mau nimmt dies wohl implizit an, wenn er auf den Pappkameraden Globalisierung als De- oder Ex-Territorialisierung zielt.

Daraus ergibt sich zweitens die Frage, was – außer den im Buch geschilderten technologischen Aufrüstungen und partiellen territorialen Erweiterungen von Grenzregimen – neu und was die Fortsetzung historischer und immer schon spannungsreicher sozialer Wechselbeziehungen ist? Die im Untertitel insinuierte „Neuerfindung der Grenze“ lässt sich nach Lesen des Buches nicht hinreichend nachvollziehen. Schon die historische Durchsetzung von Territorialstaaten war mit Grenzziehungen, Grenzkonflikten und Grenzkontrollen verbunden. Sie hatte teils befriedende und teils konfliktfördernde gesellschaftliche Wirkungen nach innen wie nach außen. Die befriedenden Binnenwirkungen von Territorialstaaten werden heute besonders deutlich dort, wo letztere zu failed states geworden sind. Grenzen standen schon immer in einer widersprüchlichen Wechselbeziehung zu Mobilitätsermöglichungen und -einschränkungen bzw. Dienstleistungserweiterungen und neuen Kontrollpotentialen. So unterscheidet sich etwa die erwähnte US-Firma Clear (S. 113), die als Auskunftei für technisierte Grenzkontrollen dient, nicht grundsätzlich von der Schufa, die in Deutschland die Kreditwürdigkeit im Auftrag von Banken übernimmt. Pässe und Visumsbestimmungen, das hat schon John Torpey hinreichend gezeigt, sind auch eine Folge der Aufhebung von Leibeigenschaft und des erkämpften Rechts auf freie Mobilität – letztere war seit der Erfindung des Territorialprinzip mit dem Augsburger Religionsfrieden 1555 immer an gesellschaftliche Ungleichheitsordnungen gebunden. Gleichzeitig existierten neben den Territorialstaaten etwa mit der Hanse auch schon seit dem 12. Jahrhundert transnationale Grenzziehungen. Warum also „Neuerfindung der Grenze“?

Die beiden skizzierten Schwächen wären sicherlich nicht oder weniger deutlich entstanden, hätte Mau differenziert die Befunde nicht nur der Globalisierungs-, sondern auch der Grenzregimeforschung bilanzierend aufgenommen. Letzteres Themenfeld wird aber weder konzeptionell noch empirisch auch nur annähernd ausgeleuchtet. So wird etwa von den durch „Harzings Publish or Perish“ in Google Scholar gesuchten Veröffentlichungen zum Begriff „border regimes“ von den am 1. März 2022 jeweils zehn am häufigsten zitierten und den zehn am höchsten gerankten Publikationen, also von den zwanzig nach diesen Kriterien relevantesten Publikationen nur insgesamt eine von Mau erwähnt (immerhin tauchen fünf der in Google Scholar aufgeführten zwanzig Erstautor:innen mit anderen Publikationen auf). Dies kann nur begrenzt durch den Versuch erklärt werden, verständlich und für ein breites Publikum zu schreiben. Denn ein souveräner Umgang mit der internationalen Literatur und Diskussion wäre sicherlich auch für ein breiteres Lesepublikum interessant gewesen. Auch von den Autorinnen und Autoren, die seit über einem Jahrzehnt in Deutschland einschlägig zum Thema von Grenzregimen arbeiten wie etwa Hess et al. (2009) fehlt jede Spur. So argumentierten diese Autor:innen schon 2009 gegen eine Überbetonung von De-Territorialisierungseffekten: „this post-national process of border displacement and externalization should not be understood as a sovereign act whereby states extend power or competence on foot of an abstract claim for hegemony and control; rather, it represents a multifaceted constitutive plane of struggle, where the regime of mobility control is itself challenged by the fluid, clandestine, multidirectional, and context-dependent forms of mobility” (ebd., S. 2 f.). Die Grenzregimeforschung betont ausdrücklich die zentrale Rolle von agency, von komplexen Macht- und Interessenkonstellationen kollektiver und korporativer Akteure und von dynamischen Interaktionsverhältnissen.

Diese nur wenig ausgeprägte Berücksichtigung der neueren Grenzregimeforschung kann einen Bias in der generellen Argumentation verständlich machen. In der gesamten Veröffentlichung wird divergierenden Interessen und entsprechenden kollektiven Akteursgruppen nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mau erwähnt zwar an verschiedenen Stellen die mit der Veränderung von Grenzregimen verbundenen Spannungsverhältnisse, richtet den Blick aber insgesamt eher in foucaultscher Strukturperspektive auf die ‚dunkle Seite‘ dieser Wandlungsprozesse anstatt auf die Ambivalenzen und strukturellen Spannungsfelder, aus denen heraus sich sowohl Tendenzen neuer sozialer Schließungsprozesse als auch enorme Mobilitäts- und Chancenerweiterungen ergeben haben. Er spricht zwar zu Beginn von der Dialektik zwischen ‚Öffnungsglobalisierung und Schließungsglobalisierung‘ – erstere kommt aber nur marginal vor. Sie wird vor allem im Zusammenhang der erleichterten Grenzmobilität bevorzugter Schichten dargestellt, die von privilegierter oder Mehrfachstaatsangehörigkeit und den neuen technisierten Formen differenzieller Grenzkontrollen profitieren. Dabei ist ein Teil der technologischen Aufrüstung von Grenzkontrollen auch dem exponentiellen Wachstum etwa von internationalen und Inlandsflügen geschuldet. Während die Anzahl der Flugpassagiere 1970 noch bei 310 Millionen lag, war sie bis 2019 auf 4,558 Milliarden angestiegen[1].

Die Tendenz, vor allem die Schließungs- und weniger die Öffnungsseite von Globalisierung und entsprechend nur wenig die entsprechenden Ambivalenzen und Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen, lässt sich an einem Beispiel zeigen. Insgesamt dienen Mau empirische Befunde vorrangig der Illustration der Grundargumentation, es hätten sich neue exkludierende Grenzregime herausgebildet. Weniger werden deren Wechselwirkung mit inkludierenden und mobilitätserweiternden Wandlungstendenzen behandelt. So wird in dem mit „Makroterritorien: Rückbau von Binnengrenzen, Aufwertung von Außengrenzen“ überschriebenen siebten Kapitel am Beispiel der EU, des afrikanischen ECOWAS-Verbundes sowie des ASEAN-Bündnisses aufgezeigt, dass sich seit den 1990er Jahren in allen drei „Makroterritorien“ – die gleichwohl von extrem unterschiedlicher Regionalisierungsqualität sind – substantielle Absenkungen der Visumsrestriktivität nach innen ergeben haben (S. 131). Wie in der Kapitelüberschrift angedeutet wird im Text im Wesentlichen die ‚Makroterritorialisierung‘ als Binnenliberalisierung bei gleichzeitiger „Außenhärtung“ (S. 133) beschrieben: „Der Nexus zwischen interner Liberalisierung und Grenzöffnung einerseits und der gemeinsamen Governance und Härtung externer Grenzen andererseits wird immer wieder thematisiert“ (S. 133). Allerdings liefern die – aus einer anderen Studie – zitierten Daten kaum Anhaltspunkte für eine solche Interpretation. Für alle drei Makroregionen EU, ECOWAS und ASEAN geht der Index der „Offenheit regionaler Verbünde nach Visumsrestriktivität“ (S. 131) innerhalb dieser Makroregionen für deren Staatsangehörige ganz massiv zurück. Aber gleichzeitig sinkt, wenn auch nur leicht, die Visumsrestriktivität für die Angehörigen von Drittstaaten. Es erschließt sich kaum, worauf die Rede von der „Außenhärtung“ empirisch gründet.

Das Buch hätte schließlich gewinnen können, wenn es nicht nur die Globalisierungs- und Grenzregimediskussion differenzierter aufgenommen hätte, sondern auch grundlegendere Reflexionen über Raumkonzepte. In der Geographie ein ständiger Begleiter des Faches, haben in der internationalen sozialwissenschaftlichen Diskussion spätestens seit den 1990er Jahren, speziell mit der Transnationalisierungsforschung, explizite Diskussionen über Raumtheorien an Fahrt aufgenommen. Mau führt zwar neue Begriffe wie Makroterritorialisierung und Exterritorialisierung, Öffnungsglobalisierung und Schließungsglobalisierung ein, diese werden aber kaum mit dem erreichten Stand der sozialwissenschaftlichen Raumdiskussion verbunden. Man muss nicht bis zu Georg Simmel (1908[1983]) oder Alexander Gosztonyi (1976) zurückgehen, um etwa eine systematische Differenzierung zwischen relationalen und substantiellen sowie zwischen geographischen und sozialen Raumkonzepten zu begründen. Mau argumentiert nicht selten gegen eine Vorstellung von Globalisierung, die spätestens mit der Transnationalisierungsforschung seit über zwanzig Jahren wissenschaftlich ausdifferenziert wurde. Damit ließen sich viele der von Mau oft nur angedeuteten Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten präziser und spezifischer fassen. Auch wenn man mit den damals üblichen stereotypischen Bezugnahmen auf ‚den Neoliberalismus‘ nicht übereinstimmen mag, so haben etwa Nina Glick-Schiller und Ayse Çağlar für den Kontext von Mobilitäts- und Migrationsforschung mit den Kategorien von locality und incorporation und einem Plädoyer für multiskalare Analysen konzeptionelle Vorschläge gemacht, um die Vorstellung zu relativieren, politische Einheiten wie z. B. Städte seien immer territorial eindeutig gebunden (Glick-Schiller & Çağlar, 2009, S. 179 f.). Wenn man relationale und substantielle Raumkonzepte kombiniert, lassen sich auch verschiedene Idealtypen der Internationalisierung differenzieren (Pries, 2005). Die Ankündigung in den „Sortiermaschinen“, Globalisierung und Grenzregime „begrifflich zu schärfen“ (S. 16) und „mit einem nachgeschärften Beobachtungsradar“ (S. 20) zu untersuchen, wird nur bedingt eingelöst.

Nun könnte man argumentieren, dass die genannten Schwächen der Zielsetzung geschuldet sind, mit der neuen, von der Stiftung Mercator zusammen mit dem Verlag C.H. Beck organisierten Buchreihe ein größeres Publikum anzusprechen. Denn diese „Edition Mercator“ soll aktuelle gesellschaftliche Themen für ein größeres Publikum „zur Sprache“ (S. 191) bringen. In dieser Hinsicht liefert Mau ein sehr lesenswertes Buch mit vielen Beispielen zu aktuellen Entwicklungstendenzen von Grenzregimen. Mau formuliert flott und unterhaltsam, oft mit schönen Wortschöpfungen und anschaulichen Begriffen. Gleichwohl gibt es, gerade bei englischsprachigen Publikationen wie etwa von Michael Tomasello (2019) oder Jürgen Renn (2020) viele Beispiele, wie wissenschaftlicher Tiefgang mit Verständlichkeit und Lesefreundlichkeit kombiniert werden können. Letztere könnte für das rezensierte Buch auch durch einen größeren Schrifttyp und ein komplettes Literaturverzeichnis statt des mühevollen Suchens in den Fußnoten, wo der „angegebene Ort“ wohl bereits vorher schon erwähnt worden sein mag, noch wesentlich gewinnen.

Literatur

Glick Schiller, N., Çağlar, A. (2009). Towards a Comparative Theory of Locality in Migration Studies: Migrant Incorporation and City Scale. Journal of Ethnic and Migration Studies, 35(2), 177–202. https://doi.org/10.1080/1369183080258617910.1080/13691830802586179Search in Google Scholar

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Hess, S., Karakayali, S. & Tsianos, V. (2009). Transnational migration: Theory and method of an ethnographic analysis of border regimes. Working Paper No. 55, Sussex Centre for Migration Research. Sussex Centre for Migration Research.Search in Google Scholar

Löw, M., Knoblauch, H. (2019). Die Re-Figuration von Räumen. Zum Forschungsprogramm des Sonderforschungsbereichs „Re-Figuration von Räumen“. SFB 1265 Working Paper, Nr. 1. Technische Universität Berlin. https://dx.doi.org/10.14279/depositonce-8883 Search in Google Scholar

Pries, L. (2005). Configurations of Geographic and Societal Spaces: A sociological proposal between ‘methodological nationalism’ and the ‘spaces of flows’. Global Networks, 5(2), 167–190. https://doi.org/10.1111/j.1471-0374.2005.00113.x10.1111/j.1471-0374.2005.00113.xSearch in Google Scholar

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Simmel, G. [1983] (1908). Soziologie des Raumes. In H. J. Dahme & O. Rammstedt (Hrsg.), Simmel. Schriften zur Soziologie (S. 221–242). Suhrkamp.Search in Google Scholar

Tomasello, M. (2019). Becoming Human. A Theory of Ontogeny. Harvard University Press.10.4159/9780674988651Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
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  5. Neuerfindung der Grenzforschung?
  6. Grenzsoziologie
  7. Essay
  8. Systemtheoretische Perspektiven auf Organisationen – Luhmanns bekannte und unbekannte Schriften zur Organisation
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  10. Sammelbesprechung
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  12. Doppelbesprechung
  13. Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
  14. Einzelbesprechung Analytische Soziologie
  15. Gianluca Manzo (Ed.), Research Handbook on Analytical Sociology. Cheltenham, UK: Edward Elgar 2021, 515 S., gb., 288,59 €
  16. Einzelbesprechung Geschlecht
  17. Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €
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  19. Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
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  27. Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2022
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 24.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2011/html
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