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Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €

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Published/Copyright: December 6, 2022
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Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €


Vor dem Hintergrund, dass Kapitalismus und Sexualität einander nicht feindlich gegenüberstehen, versuchen Eva Illouz und Dana Kaplan einen soziologischen Begriff sexuellen Kapitals zu entwickeln. Zugleich zielen sie auf eine „radikale politische Ökonomie des Sexes“ (S. 99) und wollen zeigen, dass „die Arbeitsmarktfähigkeit der Mittelklasse [...] von Affekten 375exueller Selbstwertschätzung“ (S. 94f.) abhängt und sexuelles Kapital ein „Faktor in der Reproduktion von Klassenhierarchien geworden“ ist (S. 26).

In historischer wie idealtypischer Perspektive unterscheiden die Autorinnen (S. 43ff.) 1. „vorgegebenes sexuelles Kapitel“ (insbesondere Keuschheit und Häuslichkeit), das auf Heiratsmärkten nützlich war, 2. sexuelles Kapital „als Mehrwert des Körpers“, das sich qua Sex-Arbeit direkt in ökonomisches Kapital umwandeln lässt, 3. „verkörpertes sexuelles Kapital“ in der Form von Sexyness und sexuellen Kompetenzen, sowie 4. neoliberales sexuelles Kapital. Letzteres bilde die „Summe individuell akkumulierter sexbezogener affektiver Zustände, die Gefühle des Selbstwerts und der Selbstbestimmung hervorrufen, insbesondere solche, die mit Risikobereitschaft, Einzigartigkeit, Selbstverwirklichung, Kreativität und Ehrgeiz zusammenhängen“ (S. 87f.), die sich auf dem Arbeitsmarkt verwerten ließen. Da „das neoliberale Selbst dazu aufgerufen ist, die Gesamtheit seiner Vermögen und Dimensionen“, also auch seine Sexualität, „auszubeuten, um Zugang zum Markt zu finden und dort zu reüssieren“ (S. 24), lasse sich der qua Sex gewonnene Selbstwert in ökonomisches Kapital transformieren. Neoliberales sexuelles Kapital diene dazu, „die Arbeitsmarktfähigkeit von Arbeitnehmer:innen vermittels ihrer persönlichen sexuellen Erfahrungen zu steigern.“ (S. 26)

Wenn sexuelles Kapital also nicht nur auf sexuellen Feldern gewinnbringend sein soll, rückt die Frage seiner Umwandlung in soziales, kulturelles und/oder ökonomisches Kapital in den Mittelpunkt. Sexarbeit erlaubt, sexuelles Kapital direkt in Geld zu konvertieren, und verkörpertes sexuelles Kapital lässt sich direkt nutzen, um Zugang zu Sexualpartner:innen zu erlangen. Aber wie lässt sich dann neoliberales sexuelles Kapital, das auf subjektiven sexuellen Erfahrungen beruht, in ökonomisches Kapital transformieren?

Illouz und Kaplan unterscheiden zwischen sexueller Attraktivität und sexuellen Erfahrungen und argumentieren, dass sich „das neoliberale sexuelle Kapital um den wirtschaftlichen Wert [dreht], den die Subjekte aus ihren sexuellen Eigenschaften, Fähigkeiten und Erfahrungen ziehen können“ (S. 55). Sexuelle Erfahrungen (und Erfolge) produzieren also eine Art Mehrwert, der die „Arbeitsmarktfähigkeit verbessern kann“ (S. 55). Entscheidend sei, dass sich Akteur:innen „die einzigartige Qualität sexueller Erfahrungen zunutze“ machten, „die darin besteht, dass wir Sex auf einer rein subjektiven Ebene als ein Mittel zur Ausbildung eines Selbst erleben, das perfekt auf jene Fähigkeiten und Eigenschaften geeicht ist, in denen sich ganz grundsätzlich soziale und professionelle Kompetenz ausdrücken“ (S. 56). Allerdings sei die Umwandlung neoliberalen sexuellen in ökonomisches Kapital in erster Linie den Angehörigen der Mittelklasse möglich, die „eher als andere dazu [neigen], aus ihrem Sexualleben Selbstwertschätzung zu schöpfen“ und „besser in der Lage [sind], ihr sexuelles Kapital in ihrem Berufsleben einzusetzen“ (S. 56). Für Arbeitnehmer:innen, die „nicht mehr nur ihre Arbeitskraft, sondern ihr ganzes existenzielles Sein“ verkauften, sei es „zu einer Notwendigkeit geworden [...], beständig in die eigenen Vermittlungsfähigkeit zu investieren“ (S. 84). Ein „‚voll beschäftigungsfähiges Individuum‘, das dazu gerüstet ist, sich auf eine unvorhersehbare Zukunft einzustellen“, sei „sexuell zugleich voll entfaltet“ (S. 84).

Zur Beantwortung der zentralen Frage, wie subjektive sexuelle Erfahrungen (und nicht lediglich sexuelle Attraktivität) auf dem Arbeitsmarkt nützlich werden, also in ökonomisches Kapital umgewandelt werden können, bieten die Autorinnen vier (freilich eher dürftige) „mögliche Ansätze“: Sexualität könne „Selbstachtung und [...] Selbstvertrauen steiger[n], womit die Ausstrahlung von Kompetenz verbunden ist“, und/oder „eine Form von Beherrschung ausdrück[en]“ (S. 85). Zudem implizierten sexuelle Kompetenzen soziale Kompetenzen, die sich in der Erwerbssphäre nutzen ließen. Nicht zuletzt führe „guter Sex zu größerer Arbeitszufriedenheit“ (S. 86). Angesichts dieser „Ansätze“ bleibt freilich unklar, warum nicht alle, sondern „überwiegend Menschen mit Mittelklasse-Habitus“ (S. 91) „einen ökonomischen Nutzen aus ihren sexuellen Fähigkeiten und Erfahrungen ziehen“ (S. 90) können, indem sie diese „in unternehmerische Gesinnungen und beschäftigungsrelevante Fertigkeiten umwandeln“ (S. 91). Insbesondere prekäre Beschäftigungslagen auf umkämpften Arbeitsmärkten erforderten es, das eigene Selbst in arbeitsmarkttauglicher Weise zu kommodifizieren und dafür auch sexuelles Kapital zu nutzen. So sei „das neoliberale Sexualkapital [...] nur ein Beispiel einer gesellschaftlichen Realität, in der insbesondere Angehörige der Mittelklasse [...] ihre Lebenswelten und Identitäten ausbeuten müssen, um Beschäftigung zu finden, zumal in den Kreativberufen“ (S. 102f.). Allerdings setzten die Angehörigen der Mittelklasse ihr sexuelles Kapital „nicht einfach nur strategisch“ ein; ihr Einsatz neoliberalen sexuellen Kapitals sei vielmehr „durch Klassendispositionen habitualisiert“ (S. 97). Insofern sei neoliberales sexuelles Kapital, „gerade weil es von Individuen in ihrem alltäglichen Intimleben akkumuliert“ werde, „Teil der Klassenstruktur“ – zumal „ästhetische Kodes der Sexyness und sogar das sexuelle Know-how geschlechts- und klassenspezifisch“ seien (S. 101).

Die Stärken des Buchs liegen darin, dass Illouz und Kaplan nicht umstandslos sexuelles Kapital mit sexueller Attraktivität gleichsetzen, sondern historisch und soziologisch informiert zwischen verschiedenen Formen sexuellen Kapitals differenzieren und hervorheben, dass sexuelles Kapital zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt. Zentrale Schwächen finden sich in drei Hinsichten: 1. Eine Analyse, die nicht systematisch und detailliert die Regeln, Bedingungen und Prozesse untersucht, die die Transformationen sexuellen Kapitals in soziales, kulturelles und/oder ökonomisches Kapital (und vice versa) strukturieren, ermöglichen und/oder blockieren, bleibt soziologisch unvollständig bzw. in einer bloß metaphorischen Verwendung des Begriffs ‚sexuelles Kapital‘ stecken und verschenkt so jene Analysemöglichkeiten, die das Bourdieu’sche Konzept der Kapitaltransformationen eröffnet. 2. Eine Klassentheorie, die lediglich Ober-, Mittel- und Unterklasse unterscheidet und bei der zudem unklar bleibt, ob Klassen ökonomisch und/oder kulturell bestimmt werden, ist zu unterkomplex, um soziale Ungleichheiten postmoderner Gesellschaften adäquat zu erfassen. 3. Die Autorinnen neigen dazu, aus der Lage, der Perspektive und dem Lebensgefühl der kreativ- und freiberuflich Beschäftigten der (oberen) Mittelklasse auf den Rest der Gesellschaft zu extrapolieren, woraus mangelnde Differenzierungen sowie Blindheiten gegenüber empirischen Realitäten resultieren. So erscheint die „Mittelklasse“ als bemerkenswert homogen und hinsichtlich ihrer Arbeitsmarktlage und ihren kulturellen wie sexuellen Einstellungen wenig differenziert, während Phänomene wie z. B. hedonistische Unterschichtmilieus, die aus sexuellen Erfolgen Selbstbewusstsein ziehen, nicht in den Blick geraten.

Unklar bleibt folglich auch, warum und wie es manchen Menschen gelingt, sexuelle Erfahrungen in sexuelles Kapital umzumünzen und auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen, anderen jedoch nicht. Die Autorinnen verweisen auf den Habitus und die Kompetenzen der Mittelklasse, sehen aber nicht, dass ein entscheidender Transformationsriemen darin liegen dürfte, dass manche Personen(gruppen) – aber nicht einmal alle Angehörigen der Mittelklasse – in Berufsfeldern tätig sind, auf denen Selbstvermarktungsfähigkeiten vorteilhaft sind und sich neoliberales sexuelles Kapital nutzen lässt. Diese Überlegung leitet dazu über, dass entsprechende Berufsfelder auch quer zu Klassen- und Schichten liegen. So spielen etwa Selbstvermarktungsfähigkeiten und sexuelles Kapital nicht nur in den Kreativberufen der oberen Mittelschichten, sondern auch in manchen einfachen Dienstleistungsberufen (z. B. Verkauf und Gastronomie) eine wesentlich bedeutendere Rolle als in vielen Mittelschichtberufen (z. B. Verwaltungsbeamte:innen, Lehrer:innen, Facharbeiter:innen, selbständige Handwerker:innen).

Die Thesen der Autorinnen leiden zudem daran, dass die Richtung der behaupteten Zusammenhänge nicht hinreichend geklärt wird. Sind Aktivität, Attraktivität und Selbstwertgefühl möglicherweise eigenständige Variablen, die sowohl sexuelle als auch berufliche Erfolge bewirken? Und inwiefern unterscheidet sich Sex von anderen Freizeitaktivitäten (Sport, Fitness und Hobbies), aus denen sich ebenfalls Erfahrungen, Kompetenzen und Selbstwert gewinnen lassen, die auf dem Arbeitsmarkt nützlich sind? Lässt sich jedoch nicht angeben, was an Sexualität bzw. (neoliberalem) sexuellem Kapital spezifisch ist, bleibt wenig mehr als die eher triviale Erkenntnis, dass sich Selbstwertgefühle und Selbstvermarktungsfähigkeiten, die auf unterschiedlichen sozialen Felder erworben werden, auch auf dem Arbeitsmarkt nutzen lassen. In diesem Zusammenhang wäre nicht zuletzt das Verhältnis sexuellen Kapitals zu sozialem, kulturellem und körperlichem Kapital systematisch zu klären.

Den Autorinnen scheint zumindest vage bewusst zu sein, dass sie sich auf recht dünnem Eis bewegen, da sie von sexuellem Kapital wahlweise als „Metapher“, „Begriff“ und „Theorie“ sprechen, während sie ihre These sukzessive, aber theoretisch wie empirisch weitgehend unkontrolliert ausweiten: Wird zunächst davon gesprochen, dass sexuelles Kapital auf dem Arbeitsmarkt „nützlich sein kann“, wird es kurz darauf zu einer wesentlichen Stütze des Arbeitsmarkts. Schließlich versteigen sich Illouz und Kaplan zu der Behauptung, dass „die sexuelle Sphäre“ von der „Produktionssphäre [...] kaum noch [...] zu unterscheiden“ sei (S. 95). Wer aber „kaum“ Unterschiede zwischen beiden Sphären erkennen kann, sollte wohl seine Beobachtungsinstrumente überprüfen, sich der empirischen Forschung zuwenden oder zumindest präzise angeben können, für welche Segmente der Sexualitäts- bzw. der Produktionssphäre dies gelten soll.

Da steile und unausgegorene Thesen zum neoliberalen sexuellen Kapital die an sich fruchtbaren Ansätze einer Theorie und systematischen Analyse sexuellen Kapitals überwuchern, hinterlässt das besprochene Buch, bei dem zudem nicht klar ist, ob es als Zeitdiagnose, Beitrag zur Theoriebildung oder als (über- bzw. verzeichnete) Gesellschaftskritik zu verstehen ist, einen ambivalenten Eindruck.

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 22.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2004/html
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