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Editorial

  • Ingo Schulz-Schaeffer EMAIL logo
Published/Copyright: December 6, 2022
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Im Editorial des vorangegangenen zweiten Heftes dieses Jahrgangs hatte ich mich mit der Besprechungsform der Einzelbesprechung befasst – meinem Plan getreu, im Laufe meiner Zeit als geschäftsführender Herausgeber jeder der Besprechungsformen, die wir in der Soziologischen Revue verwenden, einmal ein Editorial zu widmen. Nun ist die Einzelbesprechung die Urform der Gattung der Rezension, und so hatte ich dort auch eine Reihe grundsätzlicherer Fragen angesprochen, die Rezensionen insgesamt betreffen. Eine dieser Fragen richtete sich darauf, in welcher Weise Rezensent:innen Kritik äußern. Ich hatte von meinem Eindruck berichtet, dass in den Besprechungen ganz überwiegend eine Kultur zurückhaltender und moderater Kritik zum Ausdruck kommt. In einigen wenigen Fällen geben Rezensent:innen ihre Zurückhaltung allerdings auf. Dies scheint insbesondere dann der Fall zu sein, wenn sie Fehler oder Schwächen sehen, die den Autor:innen der besprochenen Bücher nach ihrer Auffassung nicht hätten unterlaufen dürfen. Die scharfe Kritik trifft vor allem etablierte Autor:innen. Der Tonfall „ehrlicher Empörung“, in dem sie sich artikuliert, speist sich daraus, dass die rezensierten Autor:innen es nach Meinung der Rezensent:innen hätten besser wissen können und besser machen müssen.

Selbstverständlich können sich Rezensent:innen irren, und es kommt bekanntlich vor, dass unterschiedliche theoretische und methodologische Standpunkte zu zum Teil konträren Wahrnehmungen von Sachverhalten und deren wissenschaftlicher Interpretation führen. Für Autor:innen, die sich bei insgesamt gewogenen Rezensionen mit kleineren Kritikpunkten konfrontiert sehen, mag es zu verschmerzen sein, wenn die Kritik aus ihrer Sicht aus diesen oder anderen Gründen ungerechtfertigt ist. Was aber, wenn ein:e Autor:in sich zu Unrecht einer scharfen Kritik ausgesetzt sieht, die noch dazu im Duktus ehrlicher Empörung vorgetragen wird?

Hier nun kommt eine zweite, im letzten Editorial angesprochene Frage zum Tragen, nämlich die Frage nach der Asymmetrie im Kräfteverhältnis zwischen Autor:in und Rezensent:in sowie danach, ob und welche Mechanismen für Ausgleich sorgen. Die Asymmetrie besteht zunächst darin, dass Rezensent:innen Qualitätsurteile über Autor:innen abgeben, dass diese Urteile aber ihrerseits nicht in gleicher Weise einer Qualitätsprüfung ausgesetzt sind. Einen indirekt wirkenden Mechanismus, der für Ausgleich sorgen kann, hatte ich angesprochen: Rezensionen sind selbst wissenschaftliche Fachpublikationen. Als deren Autor:innen sind Rezensent:innen folglich ihrerseits dem Urteil des Fachpublikums ausgesetzt.

Die Replik als eine direkte Form, für Ausgleich zu sorgen, hatte ich dagegen nur nebenher angesprochen. Ich hatte eine Textpassage aus einem Artikel von Frank Bardelle zitiert, in dem er die Asymmetrie zwischen Autor:in und Rezensent:in damit begründet, dass die Rezensent:innen das letzte Wort haben, weil mit einer Replik zu reagieren keinen guten Eindruck mache. Ob und in welchem Ausmaß Letzteres tatsächlich zutrifft, kann ich nicht beurteilen. Was ich aber aus der Redaktionsarbeit sicher sagen kann, ist, dass auch Autor:innen, die sich hochgradig ungerecht besprochen sehen, zumeist darauf verzichten, mit einer Replik zu reagieren. Dementsprechend veröffentlichen wir in der Soziologischen Revue selten Repliken. Die letzte Replik, die in der Soziologischen Revue vor diesem Heft abgedruckt worden ist, stammt aus dem Jahr 2011 und ist auch die einzige Replik in den 2010er Jahre. In den Nullerjahren waren es etwas mehr Repliken, insgesamt sieben. In Anbetracht der Menge der Bücher, die in der Soziologischen Revue jährlich besprochen werden, waren Repliken damit auch im vorletzten Jahrzehnt ziemlich selten.

Jörg Michael Kastl, der in diesem Heft mit einer Replik auf die Rezension von Robert Gugutzer reagiert, die im vorigen Heft im Rahmen des Symposiums zu Kastls Buch „Generalität des Körpers“ erschienen ist, schreibt mit Bezug auf die Auffassung, dass Repliken zu schreiben keinen guten Eindruck mache: „Ich teile diese Ansicht nicht. Repliken als Austausch von Argumenten sind vielmehr, auch und gerade unter Einbezug stilistischer Register der Verschärfung und Zuspitzung, von Lessing bis Luhmann ein probates und angemessenes Medium von (soziologischer) Aufklärung.“ Tatsächlich wählt Kastl in seiner Replik sehr viel weniger den Ton der polemischen Zuspitzung als vielmehr den Weg der detaillierten argumentativen Unterfütterung seiner von Gugutzer kritisierten Positionen. Für Leser:innen, die mit der Leibphänomenologie von Hermann Schmitz nicht vertraut sind – denn um sie und das sensible Thema ihrer Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut geht es in der Auseinandersetzung – wird durch die Replik sehr viel deutlicher, welche Argumente sich in der Kontroverse gegenüberstehen. Kastls Replik löst den Anspruch, die Replik zum Austausch von Argumenten zu nutzen, zweifellos ein. Rezensionen dieser Art drucken wir in der Soziologischen Revue gerne häufiger ab.

Das vorliegende Heft enthält außerdem ein Symposium, in dem Anja Weiß und Ludger Pries sich mit Steffen Maus „Sortiermaschinen: Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ auseinandersetzen: Es enthält ein Essay von Stefan Kühl zu Luhmanns organisationssoziologischen Schriften, anlässlich der von Ernst Lukas und Veronika Tacke herausgegebenen Reihe organisationssoziologischer Schriften Luhmanns, und ein weiteres Essay von Armin Nassehi zu dem von Dilek Dizdar, Stefan Hirschauer, Johannes Paulmann und Gabriele Schabacher herausgegebenen Sammelband zur Humandifferenzierung. Carsten Heinze bespricht in einer Sammelbesprechung Beiträge, die sich mit der Vermittlung von Geschichte durch kollektive Erinnerungen befassen. Thomas Voss befasst sich in einer Doppelbesprechung mit normativen Ordnungen. Darüber hinaus enthält das Heft sieben Einzelbesprechungen. Doch lesen Sie selbst!

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Neuerfindung der Grenzforschung?
  6. Grenzsoziologie
  7. Essay
  8. Systemtheoretische Perspektiven auf Organisationen – Luhmanns bekannte und unbekannte Schriften zur Organisation
  9. In welcher Gesellschaft werden Menschen unterschieden?
  10. Sammelbesprechung
  11. Die Gegenwart der Vergangenheit: Kollektive Erinnerungen und Medialisierungen als Vermittlung von Geschichte
  12. Doppelbesprechung
  13. Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
  14. Einzelbesprechung Analytische Soziologie
  15. Gianluca Manzo (Ed.), Research Handbook on Analytical Sociology. Cheltenham, UK: Edward Elgar 2021, 515 S., gb., 288,59 €
  16. Einzelbesprechung Geschlecht
  17. Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €
  18. Einzelbesprechung Klima
  19. Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
  20. Einzelbesprechung Körper
  21. Stefan Dreßke, Empfindliche Körper: Kopfschmerzpraktiken zwischen Alltag und Medizin. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 330 S., kt., 35,00 €
  22. Einzelbesprechung Religion
  23. Christel Gärtner / Gert Pickel (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2019, 669 S., kt., 42,99 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt
  25. Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €
  26. Replik
  27. Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2022
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 26.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2033/html
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