Home Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
Article Open Access

Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule

Rainer Forst / Klaus Günther (Hrsg.), Normative Ordnungen. Berlin: Suhrkamp, 2021, 683 S., kt., 25,00 €Axel Honneth / Kai-Olaf Maiwald / Sarah Speck / Felix Trautmann (Hrsg.), Normative Paradoxien: Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts. Frankfurt am Main: Campus, 2022. 405 S., br., 34,95 €
  • Thomas Voss EMAIL logo
Published/Copyright: December 6, 2022
Become an author with De Gruyter Brill

Rezensierte Publikationen:

Rainer Forst / Klaus Günther (Hrsg.), Normative Ordnungen. Berlin: Suhrkamp, 2021, 683 S., kt., 25,00 €

Axel Honneth / Kai-Olaf Maiwald / Sarah Speck / Felix Trautmann (Hrsg.), Normative Paradoxien: Verkehrungen des gesellschaftlichen Fortschritts. Frankfurt am Main: Campus, 2022. 405 S., br., 34,95 €


Bereits zu Beginn des Soziologie-Studiums wird in der Regel vermittelt, dass Gesellschaften „normativ konstruiert“ sind (Popitz, 1980). In der klassischen Soziologie hat Parsons (1937) das Problem der Erklärung sozialer Ordnung („Hobbes’ Problem“) zum Prüfstein für jede Sozialtheorie deklariert. Parsons’ eigener Lösungsvorschlag wird prägnant als „normative Lösung“ bezeichnet. Die Entstehung und Stabilität sozialer Ordnung gründet sich nach Parsons auf eine Bindung der Akteure an gemeinsam geteilte Werte und Normen, die in dem Sinn „kategorisch“ akzeptiert werden, dass eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation (bzw. Normbefolgung) auch dann besteht, wenn diese nicht mit den kurzfristigen materiellen Eigeninteressen der Beteiligten kompatibel und auch nicht nur durch externe Sanktionsdrohungen erzeugt ist. Seither hat sich die Forschung über Normen stark entwickelt und umfasst auch Beiträge aus verschiedenen Nachbarfächern der Soziologie und der Sozialphilosophie. Gleichzeitig ist unverkennbar, dass es eine große Bandbreite von theoretischen Ideen aber auch empirischen Untersuchungen sowie von inhaltlichen Bereichen (bzw. gesellschaftlichen „Teilsystemen“ oder Sphären) gibt, die das Forschungsfeld „Normen“ oder „Normative Ordnungen“ unübersichtlich erscheinen lässt.

Die beiden hier vorzustellenden Sammelbände, die immerhin zusammen eintausend Textseiten und fast fünfzig Aufsätze umfassen, sind aus einem spezifischen intellektuellen und institutionellen Kontext hervorgegangen, weshalb es sich in der Tat anbietet, sie gemeinsam zu behandeln: Beide Bände sind erkennbar beeinflusst durch Ideen der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule. Der erste zu besprechende Band soll eine „Zwischenbilanz“ eines Frankfurter „Exzellenzclusters“ und eines interdisziplinären Forschungsverbunds „Normative Ordnungen“ aus der Feder der beteiligten „Principal Investigators“ dokumentieren (Forst & Günther, S. 18). Auch der von Honneth et al. herausgegebene Band ist durch Ideen und das institutionelle Umfeld der Kritischen Theorie geprägt oder inspiriert – auch ersichtlich an der Aufnahme des Bandes in eine Schriftenreihe des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“.

Aus diesem gemeinsamen Kontext ergeben sich einige Besonderheiten, die den Inhalt der beiden Bücher von anderen Beiträgen zum Thema „Normen“ abheben: Erstens gibt es, wie bereits in der älteren Frankfurter Schule, eine Tendenz deskriptive und normative Analyse zu fusionieren, bzw. – gegen Max Webers Werturteilsfreiheitspostulat – den Anspruch zu formulieren, eine „Synthese aus einer empirischen und normativen Perspektive“ (Forst in Forst & Günther, S. 90) anzustreben. Auch in dem Band über „Normative Paradoxien“ wird in einigen Beiträgen der Wunsch deutlich, politisch-ideologische Standards in die Darstellung deskriptiver Befunde einzubeziehen (z. B. Trautmann in Honneth et al., S. 179). Zweitens wird in beiden Bänden ein recht weiter und diffuser Normbegriff verwendet. Die inhaltliche Bandbreite der behandelten Gegenstände ist umfassend. Auf der Ebene der Explananda gibt es nur wenige Überschneidungen. Auch werden die unterschiedlichsten Typen von Regeln, Normen, Institutionen untersucht. „Normative Ordnungen“ werden im Sinn von Rechtsnormen (zum Teil auf globaler Ebene des Völkerrechts) ebenso behandelt wie informelle Normen oder Konventionen wissenschaftlichen Arbeitens in unterschiedlichen Einzelfächern (Mathematikgeschichte, Philosophie, Geschichtswissenschaft). Neben theoriegeschichtliche Essays (in Honneth et al.) treten umfangreiche philosophische Ausführungen zu zentralen Begriffen oder Problemstellungen der normativen Ethik und Meta-Ethik und ihrem Verhältnis zur empirischen Sozialtheorie (in Forst & Günther). Daneben enthalten beide Bände jeweils Fallstudien spezieller Normen bzw. normativer Ordnungen. Drittens sind diejenigen Beiträge, die überhaupt konkrete soziologische Erklärungsprobleme berühren oder sogar empirisch untersuchen wollen, qualitativ ausgerichtet und orientieren sich dabei etwa an Kriterien einer „objektiven Hermeneutik“ (Maiwald & Speck in Honneth et al., S. 303ff.). Der Theoriebegriff bleibt in den Beiträgen zu beiden Bänden recht unbestimmt.

Der von Forst und Günther herausgegebene Band kann allein wegen seines großen Umfangs nur stichprobenartig beschrieben und gewürdigt werden. Etwas ausführlicher sollen zunächst lediglich die programmatischen Beiträge behandelt werden. In einer knappen Einleitung der Herausgeber werden einige Ziele und Randbedingungen des „Frankfurter Forschungsprogramms“ skizziert. Die Ausführungen zur Programmatik werden im ersten Hauptteil des Bandes („Was gilt?“; Forst & Günther, S. 25–187) hinsichtlich ihrer philosophischen Hintergründe dargestellt und diskutiert. Es kommen nacheinander verschiedene Generationen von Autoritäten zu Wort (sozusagen Vertreter der zweiten, dritten und vierten Generation der Frankfurter Schule). Den Anfang bildet ein Aufsatz von JürgenHabermas, in dem das Verhältnis von „Moralität“ und „Sittlichkeit“ von Kant über Hegel und Marx bis heute (d. h. bis Habermas) erläutert wird. Habermas hebt hervor (in Forst & Günther, S. 29 und passim), dass es in Hegels praktischer Philosophie im Unterschied zu Kant nicht allein um abstrakte Moralität, sondern auch um Bedingungen des sozialen Zusammenhalts in existierenden Gemeinwesen gehe. „Sittlichkeit“ im Sinn der Vorstellungswelt von Hegels Rechtsphilosophie werde also „detranszendentalisiert“ und in gewisser Hinsicht relativiert auf die Bedingungen der sozialen Integration einer „bürgerlichen Gesellschaft“ mit ihrem Wohlstand aber auch Ungleichheit generierenden „System der Bedürfnisse“ (Hegel). Hegel habe sozusagen entscheidend die Idee vorbereitet, dass Universalisierung von Normen durch eine „diskursive Verständigung“ aller Betroffenen, die als freie Subjekte zu reziproker Perspektivenübernahme bereit und fähig sind, erfolgen müsse (vgl. Habermas in Forst & Günther, S. 32 und passim).

Im nächsten Beitrag äußert sich Habermas‘ Schüler AxelHonneth zum Verhältnis von „Recht“ und „Sittlichkeit“. Die Erläuterung dieser in Hegels Rechtsphilosophie zentralen Unterscheidung wird eingebettet in eine Diskussion von Thesen aus der gegenwärtigen amerikanischen Rechtstheorie (Mark Osiel) zu solchen (informellen) Normen, die den Missbrauch rechtlicher Regelungen einschränken sollen (z. B. ist Redefreiheit konstitutive Rechtsnorm einer liberalen Gesellschaft, dieses Recht könne aber für hate speech und fake news missbraucht werden). Honneth schreibt Hegel die Auffassung zu, dass informelle soziale Normen („Sittlichkeit“) zu einer Stabilisierung der sozialen Ordnung beitragen. Die Institutionen des Rechts allein seien dazu ohne ein sittliches Fundament nicht in der Lage. Somit befördere Sittlichkeit sowohl die privaten Interessen der Einzelnen als auch das „Gemeinwohl“. Demgegenüber betone die marxistische Tradition (Lukács, Gramsci) gegen Hegel die nicht-affirmativen Funktionen von „Sittlichkeit“, die bei dem schwäbisch-preußischen Staatsphilosophen noch herrschaftsstabilisierend konzipiert sei. Honneth garniert seine Diskussion mit anekdotischen Beispielen aus der Gegenwart und kommt am Ende zu dem nicht besonders überraschenden Schluss, dass Recht und informelle Normen in einem dynamischen Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung stünden (Honneth in Forst & Günther, S. 72–73).

Ein Aufsatz von RainerForst enthält Ausführungen zu den Grundlagen einer „kritisch-realistischen Theorie der Politik“, die als Vertiefungen zu den von Forst und Günther in der Einleitung angedeuteten programmatischen Leitideen gedeutet werden können. Forst holt weit aus, nämlich zu Platons Höhlengleichnis, das zu einem „Höhlenparadox“ führe und will in seinem Beitrag die philosophischen Grundlagen einer kritischen politischen Theorie erläutern. Das Höhlenparadox handle im Kern „von der politischen Nichtkommunizierbarkeit der Wahrheit über die Politik“ (Forst in Forst & Günther, S. 75) und berühre das schwierige Verhältnis von empirischer und normativer Analyse des Politischen. Forst verortet die Inspirationsquellen für seine Auffassungen in der Kritischen Theorie und in Habermas‘ Diskurstheorie. Wie auch bereits in der „Positivismuskritik“ von Adorno und Habermas in den 1960er Jahren artikuliert, geht es Forst darum, „die Kluft zwischen empirischer und normativer Forschung (zu) überbrücken“ (Forst in Forst & Günther, S. 89). Diese könne mittels einer „Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse“ gelingen (Forst in Forst & Günther, S. 90), welche konstitutiv für das „Programm der Kritischen Theorie“ sei. Wesentliche Komponente dieses Programms ist die diskurstheoretische Rekonstruktion der „Rechtfertigungsnarrative“ normativer Ordnungen, die „den sozialen Raum der Gründe beherrschen“ (Forst in Forst & Günther, S. 91). Rechtfertigungsnarrative seien die Existenzbedingungen normativer Ordnungen. Dies sei so, weil Menschen „von Grund auf rechtfertigende Wesen“ seien. Interessen hingen von solchen Narrativen (seien sie religiöser, politischer oder sonstiger ideologischer Art) ab. In politischen Strukturen und Konflikten fungieren Rechtfertigungsnarrative, so Forst, als „noumenales Kapital“ und bilden eine Machtressource (Forst in Forst & Günther, S. 83 und passim). Aufgabe einer kritischen Theorie sei es, nicht nur empirisch wirksame Narrative zu rekonstruieren, sondern auch normativ zu bewerten und gegebenenfalls emanzipatorische „Gegennarrative“ auszuloten.

Mehrere weitere Beiträge, die hier nicht ausführlicher beschrieben werden können, runden die Diskussion über „soziale Geltung und normative Richtigkeit“ (Willaschek in Forst & Günther) ab. Dabei fallen einige Kontraste zwischen den formulierten Positionen aber auch hinsichtlich des verwendeten Jargons auf. Der Beitrag von Marcus Willaschek argumentiert unter Verzicht auf eine hegelianisierende Diktion und zielt auf die Begründung eines ethnozentrischen Begriffs normativer Richtigkeit ab. Ein Aufsatz von MatthiasLutz-Bachmann (in Forst & Günther, S. 249–277) widmet sich der Frage nach der Abgrenzung von „Werten“ und „Normen“ und gibt zum Schluss eine einführende Übersicht zu verschiedenen konkurrierenden Moralbegründungen (Utilitarismus, Vertragskonzeptionen, Kant, Diskursethik). Dieser Beitrag eignet sich als Lektüre auch bei geringeren Vorkenntnissen und hilft, die Programmatik des Frankfurter Vorhabens besser einzuordnen. Auf der anderen Seite gibt es einen Aufsatz von Christoph Menke (in Forst & Günther, S. 117–138), in dem die Verdinglichungskonzeption des frühen Lukács und die Frankfurter Positivismuskritik der 1960er Jahre wiederbelebt werden – als sei in der Zwischenzeit nichts Neues an Ideen, gerade auch im „positivistischen“ Lager in die Welt gekommen. Der Positivismus bilde (unkritisch) die verdinglichten Oberflächenstrukturen kapitalistischer Gesellschaften ab. Man müsse aber sehen, das wird immerhin konzediert, „dass die positivistische Ontologie des Sozialen gerade darin, worin sie falsch ist, wahr ist“ (Menke in Forst & Günther, S. 119). Man fragt sich, ob die drastische Kritik eines Schopenhauer, Popper, Julius Kraft oder Topitsch an „orakelnden“ Philosophen deutscher Provenienz nicht doch einen wahren Kern hatte.

Der Band enthält eine Reihe von Aufsätzen, die sich inhaltlichen und nicht nur begrifflichen Problemen der Beschreibung normativer Ordnungen zuwenden. In einem Beitrag von Christopher Daase und NicoleDeitelhoff (in Forst & Günther, S. 162–187), der angesichts der internationalen Konflikte und kriegerischen Interventionen der Gegenwart in besonderem Maße aktuell ist, gehen die Autoren auf Erklärungen der Stabilität globaler Kooperationsbeziehungen zwischen Staaten ein. Angesichts der von Daase und Deitelhoff diagnostizierten Krise der liberalen Weltordnung werden drei in der Theorie internationaler Beziehungen dominanten Konzeptionen („Realismus“ versus „Liberalismus“ versus „kritische Theorie“ aka Dependenztheorie) auf ihre Erklärungskraft hin eingeschätzt. Sie plädieren für einen Ansatz, der die „Herrschaftsproblematik“ in internationalen Beziehungen in den Blick nimmt. Herrschaft als Institutionalisierung von Machtbeziehungen wird dabei ähnlich wie bei Max Weber als deskriptiver, „wertneutraler“ Begriff verstanden. Die Erläuterung der Mechanismen der Herrschaftsausübung in internationalen Beziehungen und der Implikationen für die Erklärung der internationalen Ordnungen der Gegenwart hätten durchaus etwas genauer ausfallen können. Es wird leider nicht wirklich klar, welche neuen testbaren Hypothesen sich aus dieser Konzeption ergeben.

Der Band enthält – dem interdisziplinären Forschungsverbund entsprechend – nicht nur sozialwissenschaftliche oder philosophische Beiträge, sondern auch rechtstheoretische Aufsätze. KlausGünther widmet seinen materialreichen Beitrag sogenannten „smarten Ordnungen“, die durch die Gestaltung technischer Restriktionen die Handlungsmöglichkeiten der Betroffenen einschränken. Neben den allgemein bekannten technischen Vorgaben im IT-Bereich, die die Wahlmöglichkeiten bei der Nutzung des Internets einschränken, sind in die Fahrbahn integrierte Schwellen, die beim Autofahren praktisch dazu zwingen, die Geschwindigkeit zu drosseln, ein anschauliches Beispiel. Hier werde, so Günther (in Forst & Günther, S. 543ff.), die Normdurchsetzung tendenziell von einem „normativen“ auf einen „kognitiven“ Modus umgestellt. Normbefolgung erfolge in diesen Fällen auch ohne eine Einbettung in kommunikative Prozesse der Rechtfertigung von Sollensvorgaben und ohne „kritisch-reflektierende“ Einstellung im Sinn eines „internal point of view“ (H.L.A. Hart). Allerdings lässt sich gegen Günther einwenden, dass diese Unterscheidung zwischen kognitiver und normativer Verhaltenssteuerung sich nicht vollständig mit dem Kontrast zwischen smarten und „nicht-smarten“ Ordnungen deckt. Es gibt durchaus kognitive Verhaltenssteuerung ohne eine smarte, „künstliche“ Gestaltung der physischen oder sozialen Umgebung. Ein bekanntes Beispiel sind Konventionen (Lewis, 1969; Young, 1996). Wenn ich ohne Kenntnis der lokalen Verkehrsregeln im Ausland (Linksverkehr) mit dem Mietwagen die falsche Fahrbahnseite benutze, werde ich im Eigeninteresse gezwungen sein, mein Verhalten schnellstens an die allgemein akzeptierte Regel (Linksfahren) anzupassen, um Unfälle zu vermeiden. Hier fehlt – unter normalen Umständen – jeder individuelle Anreiz zur Abweichung von der Regel. Wer abweicht, macht einen Fehler und sanktioniert sich selbst. Anders liegt der Fall dann, wenn es um Kollektivgüter geht, die Trittbrettfahren lohnend machen. Der Appell mit Energie sparsam umzugehen wird (ohne smarte Technik) nicht automatisch eine Verhaltensänderung erzeugen, auch wenn die Beteiligten wissen, dass es in Zeiten eines Erdgasmangels im Interesse des „Gemeinwohls“ hilfreich ist, bei der Verwendung von Wärme auch dann zurückhaltend zu sein, wenn die Kosten der Erwärmung nicht unmittelbar auf die Nutzer umgelegt werden (wie etwa beim Duschen im Fitnessstudio). Die Analyse, übrigens nicht nur im Beitrag von Günther, hätte an Schärfe gewinnen können, wenn etwas deutlicher auf die unterschiedlichen Situationstypen eingegangen worden wäre, die durch smarte oder andere Verhaltenssteuerung beeinflussbar sind. Soweit ich sehe, werden in sämtlichen Beiträgen die unterschiedlichsten Normen generierenden Situationen eingeebnet. Die Voraussetzungen für die Entstehung und Durchsetzung von Regeln sind jedoch verschieden in Koordinations-, Verhandlungs- und anderen Situationen sozialer Dilemmata, unter anderem weil unterschiedlich starke Anreize für eine einseitige Abweichung von der Regel überwunden werden müssen. Ein Hinweis auf die Idee des „Nudging“ (Thaler & Sunstein, 2008), die für eine empirisch fundierte Erklärung der Funktionsweise smarter Ordnungen hilfreich sein könnte, und seine kognitiv-psychologischen Grundlagen, hätte der Darstellung ebenfalls gutgetan.

Aus Raumgründen kann nicht auf sämtliche der weiteren Beiträge aus Ethnologie, Geschichte, Kommunikationswissenschaft, Sozialpolitik oder Politikwissenschaft eingegangen werden. Ein deskriptiv informativer Beitrag von SusanneSchröter behandelt den Dschihadismus und seine ideologischen Quellen und die Kontextbedingungen seiner Ausbreitung. Ein Aufsatz des Soziologen SighardNeckel befasst sich auf knappstem Raum mit einem großen Thema – dem „Zerfall von Ordnungen“ auf globaler Ebene.

Der sorgfältig edierte Band bietet mit Blick auf verschiedene Disziplinen sicherlich einige Anregungen. Weniger überzeugen kann die besonders von Forst vorgetragene Idee, wonach „Rechtfertigungsnarrative“ entscheidendes „noumenales Kapital“ im politischen und sozialen Raum bildeten. Es entsteht der Eindruck, dass solche Narrative und Diskurse in dieser Konzeption sozusagen als ein synthetisches Apriori und als anthropologisches Universale fungieren. Zweifel hinsichtlich der empirischen und kausalen Wirksamkeit solcher Narrative könnten ausgeräumt werden, wenn auf entsprechende empirische Evidenz verwiesen würde – sofern vorhanden.

Wir kommen nun zum zweiten zu besprechenden Band, an dem als bekannter Vertreter der Frankfurter Schule AxelHonneth beteiligt ist. Der Band lässt sich vermutlich durch zwei Leitideen, die im Hintergrund stehen, charakterisieren. Erstens die kulturkritische und kulturpessimistische Vorstellung einer „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer & Adorno), wonach bestimmte Ideen und Institutionen, die ihre Entstehung der Aufklärung verdanken, unbeabsichtigte oder unerwünschte soziale Folgen hatten, so dass aufklärerische Werte nicht verwirklicht, sondern korrumpiert wurden. Zweitens ist die Analyse unbeabsichtigter, „paradoxer“ Wirkungen geradezu ein Grund für die Existenzberechtigung der Sozialwissenschaften und in jedem Fall eine entscheidende Aufgabe der Soziologie (Popper, 1962, [These 23]). In klassischer Weise haben nicht nur Autoren der Schottischen Moralphilosophie wie Adam Smith oder David Hume, sondern auch Marx, Tocqueville, Max Weber und nicht zuletzt Merton unterschiedliche Aspekte paradoxer Effekte beschrieben (Boudon, 1977, Kap. VII). Die Herausgeber des Sammelbandes „Normative Paradoxien“ berufen sich in ihrer Einleitung tatsächlich und zu Recht wiederholt auf Merton (Honneth et al., S. 17) und erläutern ihren Begriff einer „normative Paradoxie“ wie folgt: Es gibt institutionalisierte, sphärenspezifische Normen, die von den relevanten Akteuren in absichtsvolle Handlungen und soziale Interventionen umgesetzt werden, um einen gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen, die jedoch Wirkungen auslösen, die den normativ begründeten Zielvorgaben zuwiderlaufen.

Beispiele für solche Paradoxien kennen wir alle: Boudon (1977, Kap. II, III, IV) analysiert einige paradoxe Wirkungen von Bildungsreformen. Bei weitgehend stabiler Struktur des Arbeitsmarktes führt eine Erhöhung der Bildungsbeteiligung („Bildungsexpansion“) nicht zu verringerter ökonomischer Ungleichheit (Boudon, 1977, S. 37–38).

Im vorliegenden Band werden einige weitere Kriterien skizziert, die „normative Paradoxien“ erfüllen (Honneth et al., S. 21–22): Bestimmte normative Absichten (Beispiel: Verringerung sozialer Ungleichheit durch mehr Bildung für Alle) werden in gesellschaftlich breit geteilte Interventionen (Bildungsexpansion, „kompensatorische Erziehung“ usw.) übersetzt. Deren Umsetzung erzeugt jedoch Effekte, die eine Verfehlung normativer Erwartungen nahelegen (Verlängerung der individuellen Bildungslaufbahnen bei gleichbleibenden oder sogar schlechteren Mobilitätschancen). Die verfehlten Wirkungen bedeuten nicht, dass die ursprünglich angestrebten Ziele aufgegeben würden.

Der Band ist in die beiden Teile „Theoriegeschichtliche Perspektiven“ und „Materiale Studien“ gegliedert. Die Aufsätze zur Theoriegeschichte richten sich jeweils auf einzelne Autoren, nämlich Tocqueville, Nietzsche, Max Weber, Simmel, Siegfried Kracauer und Albert O. Hirschman. Man kann fragen, warum Nietzsches Moralkonzeption hier aufgenommen wurde. Eine Antwort wäre, dass auch kulturpessimistische Vorstellungen zur „Dialektik der Aufklärung“ durch Nietzsche inspiriert worden sind (Horkheimer & Adorno, 1944, S. 59 und passim). Axel Honneth erläutert im Kapitel über Weber, der ebenfalls ein Bewunderer Nietzsches gewesen sei (Honneth et al., S. 84), vor allem die bekannten unbeabsichtigten Wirkungen der protestantischen Ethik und anderer Aspekte gesellschaftlicher „Rationalisierung“. Honneth interessiert sich für die in der geisteswissenschaftlichen Weber-Rezeption besonders betonten kulturkritischen Aspekte in Webers Arbeiten und versucht die interpretatorische These zu prüfen, dass Weber, seiner kritischen Haltung gegenüber einer Geschichtsmetaphysik zum Trotz, eine Art historisches Entwicklungsgesetz annehme, wonach gute Absichten stets das moralisch Fragwürdige erzeugen (Honneth in Honneth et al., S. 106). Zur soziologisch wichtigen Frage nach den empirisch zurechenbaren kausalen Wirkungen kultureller Normen, etwa auch der religiösen Ideen des Protestantismus, gibt es keine Hinweise. Honneths Beitrag versucht offenkundig, im Sinn einer Direktinterpretation, die Frage zu klären: Was hat Weber wirklich gemeint? Aus systematischer Sicht einer analytischen Sozialtheorie wäre eine alternative Frage jedoch die nach den Komponenten von Webers Ideen, die sich mit Mitteln gegenwärtiger Theoriebildung rational rekonstruieren und empirisch begründen lassen.

Der zweite Teil enthält eine Reihe von Fallstudien. Stephan Voswinkel beschreibt einige Charakteristika moderner Arbeitsformen (über deren empirische Verteilung und Verbreitung keine Information geliefert wird), zum Beispiel Arbeitszeitsouveränität. Arbeitszeitsouveränität bediene nicht nur die Interessen der Beschäftigten, sondern könne paradoxerweise zu einer Falle werden, weil Arbeitszeit „kolonisiert“ werde, indem die Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit aufgeweicht wird (Voswinkel in Honneth et al., S. 222).

Beate Rössler untersucht in ihrem Beitrag das sogenannte „Privatheitsparadox“ im Internet, das darin bestehe, dass mächtige Konzerne ein Geschäftsmodell verfolgen, das auf der systematischen Sammlung und Verwertung privater Daten beruht. Bei der Nutzung des Internets sei man grundsätzlich am Schutz ihrer Privatsphäre interessiert, gebe aber dennoch private Informationen preis, weil nur so ein bequemer Zugang zu den von den Firmen angebotenen Inhalten möglich ist. Rössler erläutert und diskutiert einige Erklärungsansätze aus der Literatur für die durchweg apathische Haltung der Individuen angesichts der Diskrepanzen zwischen individueller Einstellung und Verhalten. Sie deutet an, dass sie Erklärungen über einen „rationalen“ Kosten-Nutzen-Kalkül oder über kognitive Prozesse (Framing usw.) nicht überzeugen, und plädiert dafür, Machtasymmetrien zwischen den Konzernen und individuellen Personen in den Blick zu nehmen.

Die Beiträge von Ferdinand Sutterlüty, von Kai-Olaf Maiwald & Sarah Speck und von Sarah Speck behandeln Themen aus der Familiensoziologie. Sutterlüty gibt eine gründliche und sorgfältig beschriebene Darstellung paradoxer Folgen, die Rechtsnormen im Bereich des Familienrechts auslösen oder ermöglichen können, wenn Konflikte über das Sorgerecht und das Kindeswohl auftreten. Es werden verschiedene Typen paradoxer Folgen aufgezeigt (in Honneth et al., S. 272–288). In den Beiträgen von Maiwald & Speck und von Speck geht es um paradoxe Folgen aufgrund von Geschlechternormen und um Konflikte und Verhandlungen in Paarbeziehungen. Die beiden Aufsätze basieren auf qualitativen Interviews und sollen deutlich machen, dass die Norm der Gleichheit der Geschlechter paradoxerweise zu einer verzerrten Wahrnehmung beiträgt, dass man dem falschen Syllogismus unterliegt: Wenn die Norm gilt, dann kann es keine Ungleichheit geben. Die Norm verhindere sozusagen, dass die Probanden sensitiv auf Ungleichheiten reagierten (Maiwald & Speck in Honneth et al., S. 331). Analoges vollziehe sich im Bereich der innerfamilialen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern (Speck in Honneth et al., S. 357).

Der sorgfältig edierte Band über Normative Paradoxien folgt einer fruchtbaren Leitidee, die keineswegs neu ist, sondern seit längerer Zeit zentraler Gegenstand auch der analytisch ausgerichteten Sozialtheorie. Die Leitidee wurde, wie die Beteiligten betonen, in der Soziologie insbesondere von Merton beschrieben und an Beispielen illustriert. Merton verlangt allerdings, dass soziologische Theorien empirisch prüfbare Aussagen implizieren, die am Ende auch strengen Tests unterworfen werden müssen (Merton, 1968, S. 39 und passim). Leider lassen die materialen Beiträge zu diesem Band hinsichtlich der vorgeschlagenen Erklärungen wie auch hinsichtlich der aus den (zumeist unscharf artikulierten) Theorien folgenden empirischen Hypothesen noch einige Wünsche offen.

Welches Fazit lässt sich aus soziologischer Sicht hinsichtlich beider Bände ziehen? Wer im Sinn der Ziele einer analytischen, erklärenden Sozialtheorie an der Entstehung und den Wirkungen von Normen und normativen Ordnungen interessiert ist, wird in beiden Bänden anregendes Material finden. Die angebotenen „Theorien“ sind allerdings in der Regel unterkomplex und zu undeutlich artikuliert. Es ist meist nicht erkennbar, welche neuen und überraschenden empirischen Hypothesen sich aus ihnen ergeben könnten. Die starke Betonung von Diskursen und „Rechtfertigungsnarrativen“ wäre überzeugender, wenn die entsprechenden Vorstellungen nicht nur aus der philosophischen Tradition des Deutschen Idealismus hergeleitet, sondern durch empirische Befunde untermauert würden. Auch die wenigen empirisch orientierten Beiträge (vor allem im Band über „Normative Paradoxien“) liefern aufgrund ihres qualitativen Charakters lediglich heuristische Ideen, können aber keine Begründungen für eine kausale Zurechnung von Effekten erzeugen.

Literatur

Boudon, R. (1977). Effets pervers et ordre social. Presses Universitaires de France.Search in Google Scholar

Horkheimer, M., Adorno, T.W. [1944] (1968). Dialektik der Aufklärung. De Munter.Search in Google Scholar

Lewis, D. K. (1969). Convention. Harvard University Press.Search in Google Scholar

Merton, R. K. (1968). Social Theory and Social Structure, enlarged edition. Free Press.Search in Google Scholar

Parsons, T. [1937] (Nachdruck in zwei Bänden 1968). The Structure of Social Action. Free Press.Search in Google Scholar

Popitz, H. (1980). Die normative Konstruktion von Gesellschaft. Mohr.Search in Google Scholar

Popper, K. R. (1962). Die Logik der Sozialwissenschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 14, 233–248.Search in Google Scholar

Thaler, R., Sunstein, C. R. (2008). Nudge: Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness. Yale University Press.Search in Google Scholar

Young, H. P. (1996). The Economics of Convention, Journal of Economic Perspectives, 10(2), 105–122.10.1257/jep.10.2.105Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Neuerfindung der Grenzforschung?
  6. Grenzsoziologie
  7. Essay
  8. Systemtheoretische Perspektiven auf Organisationen – Luhmanns bekannte und unbekannte Schriften zur Organisation
  9. In welcher Gesellschaft werden Menschen unterschieden?
  10. Sammelbesprechung
  11. Die Gegenwart der Vergangenheit: Kollektive Erinnerungen und Medialisierungen als Vermittlung von Geschichte
  12. Doppelbesprechung
  13. Normative Ordnungen und Paradoxien – Beiträge aus dem Kontext der Frankfurter Schule
  14. Einzelbesprechung Analytische Soziologie
  15. Gianluca Manzo (Ed.), Research Handbook on Analytical Sociology. Cheltenham, UK: Edward Elgar 2021, 515 S., gb., 288,59 €
  16. Einzelbesprechung Geschlecht
  17. Eva Illouz / Dana Kaplan, Was ist sexuelles Kapital? Berlin: Suhrkamp 2021, 125 S., kt., 22,00 €
  18. Einzelbesprechung Klima
  19. Bruno Latour, Kampf um Gaia: Acht Vorträge über das neue Klimaregime. Berlin: Suhrkamp 2020, 523 S., kt., 25,00 €
  20. Einzelbesprechung Körper
  21. Stefan Dreßke, Empfindliche Körper: Kopfschmerzpraktiken zwischen Alltag und Medizin. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 330 S., kt., 35,00 €
  22. Einzelbesprechung Religion
  23. Christel Gärtner / Gert Pickel (Hrsg.), Schlüsselwerke der Religionssoziologie. Wiesbaden: Springer VS 2019, 669 S., kt., 42,99 €
  24. Einzelbesprechung Umwelt
  25. Cordula Kropp / Marco Sonnberger, Umweltsoziologie. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2021, 237 S., br., 24,00 €
  26. Replik
  27. Heidegger war ein Nationalsozialist. Was war Schmitz?
  28. Rezensentinnen und Rezensenten des 3. Heftes 2022
  29. Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 28.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2015/html
Scroll to top button