Startseite Clive Hamilton/Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020, 495 Seiten
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Clive Hamilton/Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020, 495 Seiten

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Veröffentlicht/Copyright: 3. Juni 2021

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Larson Deborah W. Shevchenko Alexei Quest for Status Chinese and Russian Foreign Policy, New Haven Yale University Press 2019 1 334


„Has China won?“ So lautet der Titel von Kishore Mahbubanis im Jahr 2020 erschienenen Buches, und es könnte keine treffendere Einführung in die derzeitige weltpolitische Gemengelage geben. Eine Gemengelage, die von der Multipolarisierung einer einst unipolaren Welt geprägt ist, von der Deliberalisierung der ehemals liberalen Weltordnung, von potentiellem Machtverlust des Westens und Machtgewinn des Nichtwestens, und damit von der Möglichkeit eines Machtübergangs im internationalen System.

„Macht“, indes, beschreibt die Fähigkeit, jemanden dazu zu bringen etwas zu tun, das er oder sie nicht freiwillig, also nicht ohne vorausgegangene Machtausübung, getan hätte.[1] Damit umschreibt der Begriff der Macht und insbesondere der Machtfülle oder gar der Machtdominanz im zwischenstaatlichen Verständnis die Fähigkeit, Einfluss oder Kontrolle über das Verhalten anderer Staaten auszuüben – mit militärischen, ökonomischen, und auch normativen Mitteln. Macht ist in einem von Anarchie geprägten internationalen System keine Kleinigkeit – sie ist existentiell, denn sie bedeutet Sicherheit und Überleben. Machtvergessenheit wird zu einem Risiko.

Entsprechend intensiv und auch unterschiedlich fallen die Reaktionen auf die Möglichkeit eines bestehenden oder sich gar bereits abzeichnenden Machtübergangs von der international (noch) dominanten, liberal und demokratisch geprägten Macht des Westens hin zur aufstrebenden, dezidiert illiberalen und autoritär regierten Volksrepublik China aus. Die hier zunächst besprochenen Bücher von Clive Hamilton und Mareike Ohlberg sowie von Kishore Mabuhbani stehen in ihrer Analyse des Aufstiegs Chinas und auch in ihren Empfehlungen stellvertretend für unterschiedliche – westliche beziehungsweise nichtwestliche – Sichtweisen auf die voranschreitende Machtverschiebung im internationalen System. Das Buch von Deborah Welch Larson und Alexei Shevchenko hingegen geht über die Deutung der Multipolarisierung hinaus. Stattdessen versucht es, die Vehemenz der damit verbundenen Wahrnehmungen durch eine sozialpsychologische Linse zu erklären und Strategieansätze zur kooperativen Bewältigung der Herausforderungen des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu erarbeiten.

Clive Hamilton/Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020, 495 Seiten

In ihrem Buch „Die lautlose Eroberung“ verfolgen Clive Hamilton und Mareike Ohlberg das Ziel, ein aus ihrer Perspektive im Westen fehlendes Bewusstsein dafür zu schaffen, dass China die „(liberale) internationale Ordnung zu verändern und die Welt nach ihren (autoritären) Vorstellungen zu gestalten“ versucht (S. 17). Die Autoren zeigen in 13 Kapiteln detailliert auf, wie und mit welchen Mitteln die Volksrepublik China dabei vorgeht, und auch, warum sie das tut. Letzteres vorweg: Das wichtigste Anliegen der kommunistischen Regierung Chinas bei der Umgestaltung der Weltordnung sei die Stabilisierung des eigenen Regimes – es gehe darum „die Herrschaft daheim abzusichern,“ und zwar über den Umweg einer Entwestlichung (und damit einhergehenden Deliberalisierung) des internationalen Systems: „Wenn die chinesische Führung davon spricht, die internationale Ordnung ‚inklusiver’ zu machen, will sie damit sagen, dass die Weltgemeinschaft autoritäre Systeme akzeptieren soll, deren Werte denselben Stellenwert erhalten sollen wie die demokratischen“ (S. 362). In umgekehrter wilsonianischer Logik strebe die autoritäre KPCh also danach, die Welt sicherer für sich – und nebenbei auch für andere Autokratien – zu machen.

Dabei gehe die KPCh strategisch und auf verschiedenen politischen Ebenen vor: innenpolitisch, so veranschaulichen Hamilton und Ohlberg, stellen die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Westens eine äußerst relevante Zielgruppe für chinesische anti-liberale Einflussnahme dar. Dazu gehören auch die Medien, der Kultursektor, die Denkfabriken, die Universitäten und Institutionen der Zivilgesellschaft. Diese unterwandere Peking durch gezielte negative und positive Anreizsetzung – durch Propaganda, Cyberattacken, Spionage, die Steuerung der eigenen Diaspora im Ausland, das Herausstellen der Attraktivität seiner Kultur und, nicht zuletzt, durch medial breit dargestellte materielle „Großzügigkeit.“ So stelle Peking von Fördergeldern und Kooperationsprogrammen bis hin zu lukrativen Posten in chinesischen Unternehmen ein breites Spektrum an Motiven für China „verstehende“ und „an freundlichen Beziehungen interessierte“ Meinungsführer und Interessenvertreter bereit.

Das Ziel all dieser Bemühungen sei es, eine Selbstzensur und Verhaltensanpassung zugunsten Chinas bei strategisch relevanten Interessengruppen des Westens zu erzeugen. Damit solle die Machtposition des Westens geschwächt werden. Das gleiche Muster zeichne sich auch auf der regionalen und internationalen Ebene ab. Auch hier schaffe die Partei asymmetrische Verflechtungen und biete Alternativen in Form von materiellen Anreizen, insbesondere für die bereits mit dem Westen verbundenen aber dennoch finanzschwachen, oftmals weniger entwickelten Länder der sogenannten Peripherie. Auch diese, so Hamilton und Ohlberg, seien relevant für die Erschaffung der bereits erwähnten „inklusiven“ internationalen Ordnung, und damit einer soliden anti-westlichen Front – sei es im Rahmen der Vereinten Nationen, der von China-geführten Seidenstraßeninitiative, oder anderer nichtwestlicher Integrationsformate.

Vor diesem Hintergrund ist die Diagnose von Hamilton und Ohlberg eindeutig: das Ziel Chinas und die Folgen der derzeitigen Kooperation mit Peking für den Westen sind dieselben – ein geschwächter Westen auf der einen Seite und ein erstarktes China auf der anderen.[2] Entsprechend pointiert formulieren die Autoren ihr Heilmittel gegen diese Bedrohung des Machtübergangs: eine effektive Selbstverteidigung benötige die Transparenzmachung und Benennung, sowie die Bloßstellung und (moralische) Verurteilung der Kollaborateure Pekings; und das auf jeder politischen Ebene, in jedem politischen Bereich, und unter Zuhilfenahme der möglichen machtpolitischen Optionen. In den Worten des Autorenpaars: „Die demokratischen Länder in aller Welt müssen sich zusammenschließen, um die universellen Menschenrechte zu schützen und die demokratischen Prinzipien zu verteidigen. Bündnisse mit Entwicklungsländern werden hier ebenso wichtig sein wie solche zwischen den Industrieländern“ (S. 388).

Diese Kampfansage gegenüber dem autoritären China ist absolut, sie zielt darauf ab, den von China anvisierten Machtübergang zu verhindern, und zwar nicht nur im materiellen, sondern auch im ideellen, normativen, diskursiven Bereich. Hamilton und Ohlberg verdeutlichen – und das ist das Verdienst dieses Buches – das, was in der Politik bereits bekannt sein sollte, aber gerne in Anbetracht wirtschaftlicher Zwänge und globaler Herausforderungen vergessen wird: dass der Kern der Bedrohung durch China nicht ausschließlich im Wettbewerb um den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Einfluss liegt, sondern auch, und gerade, um die Deutungshoheit in der Zukunft – darum, wer die Grenzen des Mach- und Sagbaren bestimmen und den Rahmen für legitime Handlungen im Internationalen und Nationalen setzen wird. Es geht, in Kürze, um den Charakter der sich derzeit formierenden multipolaren Ordnung und den Platz, die Rolle und das Machtpotential der westlichen Welt darin – und damit um die eigene Identität als progressive, liberale, normsetzende und sozialisierende Kraft.

Es ist die Identitätsfrage, die die Bedrohung durch China so existentiell und die Suche nach einer effektiven Antwort darauf so dringlich macht. Die „politische Streitschrift“ Hamiltons und Ohlbergs zwingt den Leser, trotz bestehender handwerklicher Mängel wie der Überspitztheit im Ton und auch der bemerkenswerten Subjektivität der Analyse sich der ideellen Bedrohung durch China bewusst(er) zu werden und nach Lösungen zu suchen.[3] Das macht dieses Buch, vor dem Hintergrund eines potentiellen Machtübergangs und dem immer kürzer scheinenden Hebel des Westens, relevant.

Kishore Mahbubani: Has China Won? The Chinese Challenge to American Primacy. New York: Public Affairs 2020, 320 Seiten

Trotz diametral unterschiedlicher Perspektive lässt sich in dieser Hinsicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Schrift Hamiltons und Ohlbergs und dem Werk Mahbubanis „Has China won?“ beobachten: Auch seine Analyse, ebenfalls noch in der Ära Donald Trumps erschienen, lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die derzeit schwierige Lage des Westens, und besonders der USA. Suggestiv wie der Titel ist, setzt sich das Buch eingehend, und von verschiedenen Standpunkten aus, mit der Beziehung zwischen der Volksrepublik und den Vereinigten Staaten auseinander, jedoch immer und explizit unter der Berücksichtigung des Machtübergangsszenarios. Mahbubanis (mal mehr, mal weniger erfolgreiche) Bemühung, eine gewisse Objektivität erkennen zu lassen und die ehrliche Benennung der Rationale seiner Analyse – es geht um die Weichenstellung globaler Machtverteilung und Vorherrschaft für die Zukunft – sind, zusammen mit der nichtwestlichen Perspektive auf die Lösung des „Problems“, die Hauptunterscheidungsmerkmale zur „Lautlosen Eroberung“.

Mahbubani eröffnet seine Analyse mit zehn aus seiner Sicht der Dinge wegweisenden Tatsachen über die USA. Diese hält er für das Verständnis der Entwicklung globaler Machtverhältnisse für unerlässlich. Sie betreffen die vergleichsweise schwachen und tendenziell innenpolitisch destabilisierenden sozialökonomischen und politischen Indikatoren der amerikanischen Systems; die Lähmung von Amerikas internationaler Soft Power, und damit auch der generellen ideellen Attraktivität des Westens; die Rücksichtslosigkeit und den Egoismus des Landes, die sich sowohl in der Beziehung gegenüber den eigenen Alliierten und Partnern bemerkbar machten (Handels- und Verteidigungsfragen) als auch auf globaler Bühne (der unilaterale Einsatz der Dollar-Macht, laut Mahbubani die „Weaponization“ des US-Dollars, S. 5); die Fehleinschätzung der normativen Strahlkraft und Legitimität des eigenen liberal-demokratischen Systems einerseits (welches, wie der Autor später erläutert, dieses Kriterium ohnehin nicht mehr erfülle) und der internationalen Bedrohungswahrnehmungen, die das nichtdemokratische China „angeblich“ produziere andererseits; sowie ungeeignete psychologische Voraussetzungen für diesen auf Langfristigkeit und Geduld, Sachlichkeit und Rationalität und Wissen über den jeweils anderen ausgelegten Wettbewerb.

Diese „Fragen“ leiten den Leser an, „das Undenkbare zu denken“ (S. 8) und zeichnen die Essenz seiner Analyse: Die globale Vorherrschaft Amerikas (und damit auch des Westens) sei kein Automatismus: „It is clear that America remaining the preeminent world power, while not impossible, is going to become more and more unlikely unless America adapts to the new world that has emerged“ (S. 10). Wie diese Anpassung aussehen könnte (oder sollte), erläutert Mahbubani eingehend anhand des von ihm identifizierten kardinalen Fehlers der amerikanischen Hybris und der damit einhergehenden Selbstgerechtigkeit und Egozentrik. Diese hätten sich in den verschiedensten Bereichen amerikanischer Innen- und Außenpolitik offenbart und die USA entsprechend wirtschaftlich, politisch und ideell geschwächt.

Diese Behauptung untermauert er mit Argumenten, die zumindest dem westlichen Leser durchaus einiges an Vorstellungsvermögen abverlangen. So seien die USA längst keine Demokratie mehr, sondern eine Plutokratie: „a society run by the moneyed aristocracy that uses its money to make major political and social decisions“ (S. 189). Darüber hinaus untergrabe die amerikanische Gesellschaft bewusst die soziale Mobilität der eigenen Bevölkerung und bremse so eine Verbesserung ihres Lebensstandards aus. All das, was die USA ursprünglich ausmachte – die Großzügigkeit gegenüber den Partnern und Alliierten, die intellektuelle Freiheit und Flexibilität, die politischen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten der amerikanischen Bürger, die intellektuellen Fähigkeiten der amerikanischen Politiker und Staatsbediensteten – verortet er hingegen in der (fernen) Vergangenheit des Kalten Kriegs. Im autokratischen Regime Chinas genieße die Bevölkerung hingegen nicht nur bessere Aufstiegschancen, sondern auch einen sozialen Zusammenhalt – eine zuverlässige Ordnung und Sicherheit. Diese sei in dem von Ungleichheit geprägten derzeitigen System der USA nicht möglich. Zudem seien die Chinesen von einer Regierung vertreten, deren „quality of mind“ ungleich höher sei, als die der amerikanischen (S. 140).

Außerdem erörtert Mahbubani im Detail, warum Xi Jinpings „starke Hand“ („strong rule“, S. 137), nicht nur gut für China, sondern auch gut für die Welt sei: eine Demokratie, so der Autor, wäre gefährlich, würde sie doch stark nationalistisch geprägte Politiker an die Macht bringen, und damit nicht nur das Land selbst, sondern auch die Nachbarschaft und möglicherweise die westlichen Partner, allen voran die USA, zu destabilisieren versuchen. Des Weiteren ermögliche das auf „Langfristigkeit“ ausgelegte Regime eine effektive Bekämpfung globaler Herausforderungen wie der Klimakrise oder auch Armut. Das dritte globale Kollektivgut der autokratischen Volksrepublik im Allgemeinen und Xi Jinpings im Besonderen sei die nichtexpansionistische Haltung. China sei eine defensiv ausgerichtete Status Quo Macht, die grundsätzlich nicht in die inneren Angelegenheiten anderer Länder eingreife und, im Gegensatz zu den USA, keine größeren Kriege führe, sondern lediglich das „Wiederaufblühen“ seiner Nation vorantreibe (S. 254/5).

Was die USA benötigten, sei die Entwicklung einer „dualistischen Denkweise“ („dualistic mindset“, S. 260) – eine Einsicht in die grundsätzlich wohlwollende und Frieden und Kooperation suchende, wenn auch nicht immer fehlerfreie Natur des chinesischen Regimes. Mahbubani widmet in diesem Zusammenhang der Problematik der Eigentumsrechte, des Technologietransfers und der allgemeinen Handelspolitik Chinas ein Kapitel und rügt diese als reputationsschädigendes, allerdings vom Westen abgeschautes Fehlverhalten. Im Großen und Ganzen bleibt er dabei, dass eine intellektuelle und mentale Anpassung notwendig sei, die China als normativ alternativen, aber zum Westen gleichwertigen Akteur akzeptiere. Diese Akzeptanz könne die Grundlage für eine zukunftsfähige Kooperation bilden und so die (zumindest in Kaufkraftparität bereits überholten) USA vor einer grundsätzlichen Niederlage bewahren. In diesem Zusammenhang rät er den Europäern zu einer selbstbewussten Entkopplung von den USA. Diese gelte insbesondere bezüglich der Entwicklung des afrikanischen Kontinents: „China has already emerged as the largest new economic partner of Africa. If Europe wants to preserve its own long-term interests, it should make the development of Africa, in partnership with China, an immediate priority. … With a strong African economy, there will be less incentive for widespread African migration to Europe“ (S. 222). Ob dies als wohlwollender Ratschlag oder als implizite Drohung zu verstehen ist, liegt natürlich im Auge des Betrachters.

Insgesamt verfolgt laut eigener Aussage der sowohl China- als auch USA-affine und in Singapur ansässige Mahbubani mit seiner durchweg interessant und äußerst lesbar geschriebenen Analyse das Ziel, das gegenseitige Wissen der beiden Schlüsselakteure des 21. Jahrhunderts übereinander zu erweitern und so die Missverständnisse zwischen beiden aufzulösen, um eine gemeinsame konstruktive und ideologisch nicht aufgeladene Koexistenz zu ermöglichen. Und doch ist seine Analyse nicht neutral: Er macht keinen Hehl daraus, dass er Chinas „flexibles“ und auf „Meritokratie“ ausgelegtes System (S. 140) gegenüber dem amerikanischen bevorzugt, dessen Zenit – wie auch Amerikas Zeit als wirtschaftliche und normative Führungsmacht – er für überschritten hält. Er veranschaulicht zudem, dass die USA, und damit auch der Westen, nicht mehr als der unangefochtene, universelle Standardsetzer und normative Leuchtturm angesehen werden können; nicht von ihren eigenen Gesellschaften und schon gar nicht vom Nichtwesten. Heute, so argumentiert der Autor, stelle der liberal-demokratische way of life des Westens lediglich nur einen möglichen Weg zu ökonomischem Wohlstand und Fortschritt dar, und es ist nicht (mehr) gesagt, wem die anderen Länder folgen werden. So ist, in dieser dezidiert nichtwestlichen Perspektive, der Vorsprung amerikanischer (westlicher) Machtausübungsmöglichkeit bereits erschöpft. Der Machtübergang sei im Prinzip bereits vollendet und Westzentrismus habe keine Berechtigung mehr – das ist der Tenor von Mahbubanis Analyse, die in ihrer Tonlage an Francis Fukuyamas triumphalistisches „Ende der Geschichte“ erinnert.

Auch Larson und Shevchenko setzen sich in ihrem Werk „Quest for Status. Chinese and Russian Foreign Policy“ mit potentiellen Machtübergangsszenarien auseinander. Sie tun dies jedoch aus einer rein wissenschaftlichen und deswegen politisch weniger aufgeladenen Position. Ihr Ziel ist es, jenseits von Schuldfragen dem Leser ein Verständnis dafür zu vermitteln, warum die nichtwestlichen Mächte China und Russland sich in ihrer Außenpolitik gegenüber dem Westen bisweilen so feindselig verhalten wie sie es tun. Auf dieser Grundlage arbeiten sie dann heraus, was der Westen seinerseits tun könnte, um konstruktive Zusammenarbeit zwischen Westen und Nichtwesten möglich zu machen – und bedrohliche Machtübergänge zu vermeiden.

Wie der Titel bereits erahnen lässt, stehen internationaler Status und nationale Identität (das Bedürfnis nach Anerkennung und die Erfahrung von Zurückweisung und Demütigung durch andere (Groß-)Mächte) im Zentrum von Larsons und Shevchenkos Analyse. Sie sind es, so die Autoren, die den Charakter der Außenpolitik eines Landes nachhaltig beeinflussen, sei es in die kooperative oder konfrontative Richtung. Entsprechend wichtig sei es, das auswärtige Verhalten eines Staates durch die Linse des Statusmanagements zu betrachten, um einerseits begreifen zu können, was dieser Staat will und andererseits, warum er es will. Um die Verknüpfung zwischen Status und Außenpolitik sozialpsychologisch herzuleiten, entwickeln die Autoren einen theoretischen Rahmen, der veranschaulicht, dass Regierungen drei außenpolitische Strategien zur Verfügung stehen, um die Statusposition ihres Landes im internationalen System zu verbessern: die der sozialen Mobilität; die des sozialen Wettbewerbs; und die der sozialen Kreativität.

Die erste Strategie kennzeichnet eine dem Westen (und dem Nichtwesten) wohlbekannte Vorgehensweise – die Nachahmung. Sie beschreibt, wie Akteure mit vergleichsweise niedrigem Status ihre traditionellen Wertevorstellungen, Normen und politische Institutionen an die von statusbehaftete(re)n Akteuren anpassen, um den Zutritt zu den prestigeträchtigen Gruppen dieser Akteure zu erlangen und so ihre ursprüngliche Statusposition zu verbessern. Die Demokratisierungswelle der postsozialistischen Länder seit dem Ende des Kalten Kriegs ist ein typisches Beispiel für die Strategie der sozialen Mobilität, ebenso wie Chinas Öffnung gegenüber dem internationalen System unter Deng Xiaoping, Jiang Zemin und Hu Jintao. Die Autoren unterstreichen, dass eine solche Strategie für Akteure mit Großmachtidentität auf lange Sicht nicht infrage kommt, da das notwendige Ablegen von der ursprünglichen Identität mit dem Selbstverständnis der „Einzigartigkeit“, das sogenannten „Great Powers“ zu eigen ist, nicht vereinbar ist (S. 241).

Die Strategie des sozialen Wettbewerbs, hingegen, sei sehr wohl mit Großmachtidentität vereinbar, denn sie beschreibt keinen Anpassungs-, sondern einen Überholungs- oder zumindest Angleichungsprozess, und äußert sich in allen statusbehafteten Bereichen internationaler Macht – militärisch, ökonomisch und normativ. So kann sich sozialer Wettbewerb in Form von Wettrüsten, Einflusssphärenrivalität, militärischen und wirtschaftlichen Interventionen in schwächeren Ländern, Störungsverhalten und anderen Vorgängen, die der Machtdemonstration (nicht jedoch der Sicherheitsmaximierung) dienen, manifestieren (S. 11). Wichtigste Voraussetzung dafür ist das Empfinden von Ungerechtigkeit und Unzufriedenheit mit der bestehenden Statushierarchie des internationalen Systems, und dem damit einhergehenden Bedürfnis, diese nachhaltig zu verändern.

Diese Strategie, so die Verfasser, beschreibe nicht nur recht passgenau die derzeitige Sachlage der sich entwickelnden Multipolarität, sondern gibt auch den entsprechenden sozialpsychologischen Hintergrund, den Antrieb eines solchen Wettbewerbs und der daraus entstehenden Konfrontation: „Humiliation – involving a (prior) lowering of a state’s status position – may provoke anger and even an offensive response if the demeaned state has sufficient power“ (S. 243). Es geht also um die Überwindung erfahrener Demütigung einerseits und um das (Wieder-)Erlangen von Anerkennung andererseits – ein Thema, dass Russland und China mit einigen anderen nichtwestlichen Nationen durchaus teilen. Ein Wettbewerb, der dazu gedacht ist, die dominante Macht zu überholen, und damit nicht nur die bestehenden Hierarchien und Ordnungen zu verändern, sondern auch sich gegebenenfalls für vorausgegangene Demütigungen zu rächen und Anerkennung zu erzwingen, müsse nicht notwendigerweise zu einem offenen (Hegemonial-)Krieg führen, aber die Gefahr, so Larson und Shevchenko, bestehe.

Auflösen ließe sich dieser Zustand mit der letzten Strategie des Statusmanagements durch Außenpolitik, nämlich der sozialen Kreativität. Diese Strategie beschreibt einerseits, wie ein als Niedrigstatusakteur positionierter Staat die eigenen, als minderwertig konnotierten Eigenschaften zu besonderen – einzigartigen – Eigenschaften umdeuten kann, um so seine Statusposition zu verbessern. Andererseits legt die Strategie dar, dass auch die Erschaffung neuer, alternativer Statusmerkmale und damit insgesamt die Umdeutung eines bestehenden (dominanten) Wertesystems im Interesse des „Status-Suchenden“ sein kann. So kann ein bestehendes Wertesystem, zum Beispiel die „moralische Philosophie“ oder die „traditionelle Spiritualität“ gegenüber anderen, technologisch fortschrittlicheren Akteuren aufgewertet werden, mit dem Ziel, alternative Statusmarker zu schaffen (wie jeweils im Falle der Kaiserreiche Chinas und Russlands im 19ten Jahrhundert). Das helfe, „das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit zu lindern und das eigene Selbstbewusstsein zu stärken“ (S. 245).[4]

Es geht bei sozialer Kreativität also um internationale Anerkennung und Aufwertung der eigenen nationalen Identität. Diese Strategie wird erwogen, wenn Mobilitätsmöglichkeiten nicht gegeben sind – entweder, weil die Hierarchie undurchlässig oder der nationale Anpassungswille (qua Großmachtsidentität) nicht gegeben ist – und/oder wenn ausgeprägte Rivalität unerwünscht ist – sei es durch die aufsteigende oder die dominante Macht. Das macht soziale Kreativität zu einer Strategie, die nicht auf Nachahmung und Anpassung beruht und dabei trotzdem Konfrontation vermeidet. Tatsächlich betonen Larson und Shevchenko in ihrer Analyse, dass soziale Kreativität die einzige außenpolitische Strategie ist, die aufstrebenden, in jeder Hinsicht nicht- (oder gar anti-)westlichen Mächten eine realistische Integrationsperspektive in bestehende westlich-dominierte Strukturen ermöglichen könnte.

Dabei heben die Autoren hervor, dass sowohl Russland als auch China sich in der Vergangenheit durchaus kooperativ gezeigt haben, wenn sie die Möglichkeit erhielten in exponierter Rolle am bestehenden System teilzuhaben – sei es im Rahmen des Krieges gegen den Terror (Moskau) oder im Kontext der Finanzkrisen der späten 1990ger und 2000er Jahre (Peking).

Die Voraussetzung für einen solchen Kooperationserfolg war allerdings genau das: Wertschätzung und Anerkennung der eigenen Rolle durch die dominierende Macht. Das bedeutet, so Larson und Shevchenko, dass eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen dem Westen und (dem ökonomisch und auch militärisch machtvollen) Nichtwesten nur denkbar sei, wenn die bestehende Hierarchie den neuen Teilnehmern, samt ihrer individuellen Fähigkeiten, Wertevorstellungen und Interessen, nicht nur Raum böte, diese zu entfalten, sondern diese auch entsprechend mit Status würdigte. In dieser Hinsicht identifizieren die Autoren die Möglichkeit einer Kooperation-durch-soziale-Kreativität-Strategie für China im Bereich der Infrastrukturentwicklung in Entwicklungsländern. Aber auch im Bereich der erneuerbaren Energien sollte der Westen Pekings führender Rolle anerkennen. Ihr Fazit ist damit erkennbar optimistisch, insbesondere wenn die machtpolitischen Realitäten der heutigen Zeit entsprechend angeführt werden: „Status in the international system is not necessarily a zero-sum game, in which an ascendant nation’s enhanced status diminishes that of the dominant state. On the contrary, when a state uses social creativity to increase its international standing, it complements and enriches the entire international order” (S. 251).

Eine solche auf gegenseitiger Wertschätzung beruhende Strategie wäre natürlich ideal – aber leider nur in der Theorie. In der derzeitigen, machtübergangsgeprägten Realität ist diese Strategie weder im Sinne der sich gegen den Abstieg stemmenden noch im Sinne der um den Aufstieg kämpfenden Mächte. Dennoch ist das Werk Larsons und Shevchenkos von großem Wert, auch in der derzeitigen, von machtpolitischen Nullsummenspielen gezeichneten Gemengelage. Es bietet nicht nur einen intellektuell inspirierenden und exzellent recherchierten Exkurs in die russische und chinesische Geschichte, sondern auch eine selten gebotene sozialpsychologische Perspektive, die die Handlungen der aufstrebenden, den Westen herausfordernden Mächte (be)greifbarer machen.

Insofern bietet es den westlichen Entscheidungsträgern genau das, was Mahbubani bei diesen vermisst: das Wissen über „den Gegner“, ein Verständnis dafür, wie die eigene Politik wahrgenommen und verarbeitet wird. Dieses Wissen wäre ein fundamentaler Bestandteil der Machtsicherung des Noch-Hegemons, ebenso wie eine damit einhergehende Selbstreflexion und achtsamere (aber nicht notwendigerweise nachgiebigere) Strategiegestaltung. Um eine Hegemonialposition zu behalten, bedarf es, zusätzlich zu bestehendem materiellem Machtpotential, auch der normativen Macht: der Legitimität und Anerkennung durch andere und der damit einhergehenden Deutungshoheit über bestehende Verhältnisse. Diese hatte sich der Westen im Kalten Krieg erarbeitet und so seine exponierte internationale Position gesichert. Ob er es schafft, sie auch im multipolaren Zeitalter zu behalten, trotz bereitstehender Alternativen, wird sich zeigen. Langfristig wird sich allerdings ein geopolitischer Wettbewerb dieses Kalibers nicht allein auf der Grundlage von düsteren Bedrohungsszenarien und Feindbildern gewinnen lassen.

Published Online: 2021-06-03
Published in Print: 2021-06-01

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Russland und der Westen: Von „strategischer Partnerschaft“ zur strategischen Gegnerschaft
  6. Die Modernisierung der russischen Streitkräfte
  7. Kurzanalysen und Berichte
  8. Perspektiven der Strategischen Rüstungskontrolle
  9. Eine normenbasierte Strategie zur Verringerung nuklearer Gefahren
  10. Abrüstung und Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert. Weshalb es zu nichts führt, das 20. Jahrhundert künstlich zu verlängern
  11. Deutsche Rüstungskontrollpolitik im strategischen Niemandsland
  12. Die Rüstungskontrolle den neuen Realitäten anpassen
  13. Können die Vereinigten Staaten einen Krieg um Taiwan verhindern?
  14. Ergebnisse strategischer Studien
  15. Russlands Politik im postsowjetischen Raum
  16. Dmitri Trenin: Moscow’s New Rules. Moskau: Carnegie Moscow Center, 11. November 2020
  17. Der Krieg um Nagorny-Karabach
  18. Anna Maria Dyner/Arkadiusz Legieć: The Military Dimension of the Conflict over Nagorno-Karabakh. Warschau: Polnisches Institut für Internationale Beziehungen (PISM), 26. November 2020
  19. Europa, das transatlantische Verhältnis und China
  20. Mikko Huotari/Jan Weidenfeld/Claudia Wessling: Towards a “Principles First Approach” in Europe’s China Policy. Drawing lessons from the Covid-19 crisis. Berlin: MERICS, September 2020
  21. Matthew Kroenig/Jeffrey Cimmino (Lead Authors): Global Strategy 2021: An Allied Strategy for China. Washington, D.C.: The Atlantic Council, Februar 2021
  22. Sanktionenpolitik
  23. Daniel Fried: US sanctions policy: Lessons learned and recommendations for the new administration. Washington, D.C.: The Atlantic Council, November 2020
  24. Europäische Sicherheit
  25. Mark Leonard/Jeremy Shapiro: Sovereign Europe, Dangerous World: Five Agendas to Protect Europe’s Capacity to Act. Berlin, London: European Council on Foreign Relations, November 2020.
  26. Hans-Peter Bartels/Rainer L. Glatz: Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß. Berlin: SWP-Aktuell, Nr. 84, Oktober 2020
  27. Naher und Mittlerer Osten
  28. Thomas Clayton: Afghanistan – Background and U.S. Policy: In Brief. Washington D.C: Congressional Research Service Report, November 2020.
  29. Leonid Issaev: Russia’s „Return“ to the Middle East and the Arab Uprisings. Istanbul und London: Al Sharq Forum Research, Februar 2021
  30. Buchbesprechungen
  31. Clive Hamilton/Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. Wie China westliche Demokratien unterwandert und die Welt neu ordnet. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020, 495 Seiten
  32. Thorben Lütjen: Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert. Darmstadt: WBG Theiss, 224 Seiten
  33. Gerhard Schindler: Wer hat Angst vorm BND? Warum wir mehr Mut beim Kampf gegen die Bedrohungen unseres Landes brauchen. Eine Streitschrift. Berlin: Econ 2020, 256 Seiten
  34. Bildnachweise
  35. Bildnachweise
Heruntergeladen am 27.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2021-2019/html
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