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Anna Maria Dyner/Arkadiusz Legieć: The Military Dimension of the Conflict over Nagorno-Karabakh. Warschau: Polnisches Institut für Internationale Beziehungen (PISM), 26. November 2020

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Published/Copyright: June 3, 2021

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Dyner Anna Maria Legieć Arkadiusz The Military Dimension of the Conflict over Nagorno-Karabakh Warschau Polnisches Institut für Internationale Beziehungen (PISM) 26. November 2020


Gustav Gressel: Military lessons from Nagorno-Karabakh: Reason for Europe to Worry. Berlin: European Council for Foreign Relations (ECFR), 24. November 2020

Bei ihrer Untersuchung der militärischen Dimension des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan unterscheiden die Autoren der beiden Expertisen – Anna Maria Dyner und Arkadiusz Legieć sowie Gustav Gressel – zwischen Merkmalen, die speziell für die beiden Länder gelten und denen, die von mehr genereller Bedeutung sind und Lehren für die NATO beinhalten könnten. Zur ersten Kategorie rechnen die Autoren die folgenden Faktoren, die den raschen und für die armenische Seite praktisch vernichtenden Sieg der aserbaidschanischen Streitkräfte erklärten.

  • Aserbaidschans größeres militärisches Potenzial. Seine Streitkräfte hätten etwa 130.000 Soldaten (doppelt so viele wie Armenien) und etwa 850.000 Reservisten (das Vierfache des Gegners) umfasst.

  • Unterschiedlich hohe Verteidigungsausgaben. Im Gegensatz zu Eriwan hätte Baku seit mehr als einem Jahrzehnt viel Geld in Rüstung gesteckt. Im Jahr 2019 waren es etwa 3,8 Prozent des BIP − 1,8 Milliarden US-Dollar oder das Dreifache der Ausgaben Armeniens.

  • Umfassende Modernisierung. Den Geldsegen hätte Aserbaidschan dazu verwandt, seine Streitkräfte zu modernisieren. Es hätte seine Abhängigkeit von Waffenlieferungen aus Russland verringern können, indem es unter anderem die Importe aus der Türkei und Israel erhöhte. Dies beinhaltete den Kauf von Systemen, die nicht in Russland erhältlich sind, einschließlich türkischer und israelischer Drohnen.

  • Die aktive Rolle der Türkei. Ankara sei ein wichtiger militärischer Verbündeter Bakus gewesen und hätte ihm während seiner Offensive in Bergkarabach erhebliche Unterstützung, einschließlich der Bereitstellung von etwa 5.000 Söldnern aus Syrien von einer Spezialeinheit, der Hamsa-Division, geleistet. Russland hätte sich dagegen militärisch aus dem Krieg herausgehalten.

  • Sorglosigkeit und taktische Fehler Armeniens. Die seit 2018 amtierende Regierung Nikol Paschinjans hätte das armenische Militärwesen sträflich vernachlässigt, so Dyner und Legieć. Viele erfahrene Kommandeure hätten den Dienst quittiert, was die Wirksamkeit der Reaktion der Streitkräfte auf den aserbaidschanischen Angriff beeinträchtigt hätte. Eriwan hätte auch Signale ignoriert, dass sich Aserbaidschan auf eine groß angelegte Operation vorbereitete. Die armenischen Stellungen waren praktisch ungeschützt, insbesondere gegen Angriffe von Drohnen.

Die Verfasser beider Analysen behandeln zudem ausführlich die Rolle bewaffneter Drohnen während des Konflikts. Sie unterscheiden dabei zwischen zwei Arten von Drohnen

  • Kampfdrohnen (combat drones): Hierbei handelt es sich um wiederverwendbare, mit Waffen bestückte Trägersysteme, die es in verschiedenen Größen und mit unterschiedlichen Reichweiten, Flughöhen und Nutzlasten gibt,

  • „Bummelnde“ oder „herumstreunende“ Drohnen (loitering munition): Diese werden zunächst ohne bestimmtes Ziel gestartet und kreisen anschließend über dem Zielgebiet. Später wird ein Ziel durch einen Operator am Boden per Datenlink zugewiesen und angegriffen. Je nach Ausführung können auftauchende Ziele auch mittels eigener Sensorik entdeckt, klassifiziert und durch einen autonom eingeleiteten Angriff bekämpft werden. Sie werden auch als Kamikaze-Drohnen bezeichnet, da sie beim Aufprall auf das Ziel explodieren.)

Zum Einsatz kamen den drei Autoren zufolge die türkische Bayraktar TB2, eine Kampfdrohne großer Reichweite, die autonom in mittlere Höhe fliegen und mit Lenkflugkörpern bewaffnet ist, und die israelische Harop, eine Mischung aus Drohne und Marschflugkörper mit einer geschätzten Reichweite von 1.000 km und die vor dem Angriff bis zu 6 Stunden über dem Ziel kreisen kann. Gerade in Anbetracht des Ausscherens der SPD aus der Koalitionsvereinbarung über die Anschaffung bewaffneter Drohnen sind die möglichen Lehren aus dem Krieg für die entsprechende Diskussion in Deutschland und anderen NATO-Staaten von erheblicher Bedeutung. Dazu lassen die Studien einige Überlegungen erkennen.

Erstens ist dabei ihre Bedeutung für Offensivoperationen zu nennen. In Aserbaidschan stationierte türkische Militärberater, so Dyner und Legiéc, hätten ihren Verbündeten mit Informationen darüber versorgt, wie die Kampf- und „Kamikaze“-Drohnen wirksam eingesetzt werden können und dabei Lehren aus den Erfahrungen gezogen, die sie in den Operationen 2018 in Syrien (Olivenzweig) und 2020 (Spring Shield) in Libyen gewonnen hätten. Die Drohnen seien vor den Kampfhandlungen zu umfassenden Aufklärungsaktivitäten in Armenien und Bergkarabach herangezogen und dann, wie Gressel im Einzelnen zeigt, wirksam im Verbund mit Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und ballistischen Raketen eingesetzt worden. So versetzten die Drohnen Baku in die Lage, Stellungen der armenischen Streitkräfte aufzuklären und zu zerstören, ihre gepanzerten Waffen und Raketenwerfer zu vernichten sowie Nachschub zu unterbinden. Zudem wurden sie für gezielte Tötungen verwandt, einschließlich des „Verteidigungsministers“ von Bergkarabach.

Zweitens habe der Einsatz der Drohnen die Probleme ihrer Abwehr grell beleuchtet. Darauf weist insbesondere Gressel hin. Die „modernsten“ Luftabwehrsysteme, über die Armenien verfügt hätte, seien die in den 1980er Jahren entwickelten russischen Systeme der Serien S-300-PT und -PS sowie der 9K37M Buk-M1 gewesen. Die Raketen selbst seien zwar leistungsfähig, ihre Sensoren aber lediglich darauf ausgelegt, schnell fliegende, große Flugkörper zu erfassen und zu bekämpfen, nicht aber kleine, langsame Drohnen. Wie bei vielen Systemen der 1980er Jahre seien die Berechnungen durch das Hardwarelayout vorgegeben und erforderten Neuprogrammierungen mit einer umfassenden Überarbeitung des gesamten Systems. Ohne derartige Änderungen seien derartige Systeme auch nicht in der Lage, Radarechos verschiedener Quellen zu sammeln und zu einem aggregierten Situationsbericht zu verschmelzen (plot fusion). Diese Funktion sei jedoch wichtig, um Drohnen erkennen und bekämpfen zu können. Die Luftverteidigungssysteme russischer Herkunft, über die Armenien verfügte, besäßen aber diese Fähigkeiten nicht. Baku zufolge seien sechs der ins Kampfgebiet verlegten S-300 Armeniens zerstört worden. Allerding gebe es einen großen Leistungsunterschied zwischen russischen Luftverteidigungssystemen zum Schutz russischer Stützpunkte in Armenien (und Syrien) und den Versionen, die Russland in andere Länder exportiere. Der Leistungsunterschied sei deswegen von Bedeutung, weil Gressel zufolge, keine europäische Armee über ein hochauflösendes Sensor-Fusion- oder Plot-Fusion-fähiges gepanzertes Luftverteidigungssystem zum Schutz ihrer eigenen gepanzerten Kräfte verfüge. Nur Frankreich und Deutschland besäßen Drohnenstörsender mit kurzer Reichweite. Europa, so der Autor abschließend, sollte die militärischen Lehren aus diesem Konflikt sorgfältig prüfen und ihn nicht als kleinen Krieg zwischen armen Ländern abtun.

https://www.pism.pl/file/afd0f41f-8976-46eb-8042-3719527557bd

https://ecfr.eu/article/military-lessons-from-nagorno-karabakh-reason-for-europe-to-worry/

Published Online: 2021-06-03
Published in Print: 2021-06-01

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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