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Können die Vereinigten Staaten einen Krieg um Taiwan verhindern?

  • Robert D. Blackwill and Philip Zelikow EMAIL logo
Published/Copyright: June 3, 2021

1 Einleitung

Taiwan wird zum gefährlichsten Spannungsgebiet in der Welt. Ereignisse in beziehungsweise mit Bezug zu dem kleinen demokratischen Land könnten in den kommenden Jahren einen Krieg auslösen, in den die Vereinigten Staaten, China, Japan und möglicherweise weitere Länder hineingezogen werden. Die Regierung von Präsident Joseph Biden sollte eine glaubwürdigere US-Strategie zur Vermeidung eines solchen Krieges entwickeln als es bislang der Fall war.

Beachtlich ist, wie sehr sich die Lage im Umfeld von Taiwan in den letzten Jahren geändert hat. Dies ist vielen Beobachtern der Weltpolitik entgangen, deren Aufmerksamkeit durch viele andere globale Probleme und „Krachmacher“ beansprucht wurde. Aber die Entscheidung der chinesischen Regierung, die lokalen Selbstverwaltungsbefugnisse und rechtsstaatlichen Mechanismen in Hongkong zu zerstören, hat weitreichende Folgen gezeitigt. Sie hat die politische Stimmung in Taiwan zugunsten einer Präsidentin verändert, die in den Augen Chinas eine Separatistin ist. Die chinesische Führung hat zudem ihren fremdenfeindlichen Nationalismus und ihre innere Repression verstärkt und sowohl rhetorisch als auch militärisch den Druck auf Taiwan erhöht. Taiwan seinerseits hat ein bedeutendes Aufrüstungsprogramm aufgelegt – in einem Umfang, wie es seit einer Generation nicht gesehen wurde.[1] Dabei wird es von den Vereinigten Staaten unterstützt. Aber bis dieses Programm nennenswerte Früchte tragen kann, wird noch einige Zeit vergehen.[2]

2 Die Einschätzung der Kriegsgefahr

Wir sind der Auffassung, dass die gegenwärtige Kriegsgefahr zwar halbwegs verstanden, aber zugleich verharmlost wird. Dahinter steht die unveränderliche menschliche Neigung, anzunehmen, dass zukünftige Ereignisse mehr oder minder eine Fortschreibung des Gestern sein werden. Dies ist ein altes Problem der strategischen Vorhersage. Die meisten internationalen Kriege kommen und verlaufen überraschend, außer für diejenigen, die sie planen.

Im Jahr 1962 hielten es die meisten Experten (wenn auch nicht der damalige CIA-Chef) für quasi ausgeschlossen, dass die Sowjets Atomraketen auf Kuba stationieren würden.[3] Im Jahr 1973 hielten es die meisten Experten, auch in Israel, weitgehend für ausgeschlossen, dass Ägypten und Syrien einen Krieg anzetteln würden.[4] Im Jahr 1979 hielten die meisten Experten es für unwahrscheinlich, dass die Sowjetunion in Afghanistan einmarschieren würde.[5] Im Jahr 1990 hielten die meisten Experten es für undenkbar, dass Irak Kuwait überfallen würde.[6] Im Jahr 2014 hielten es die meisten Experten für äußerst unwahrscheinlich, dass Russland in der Ukraine einmarschieren würde.[7] Bemerkenswerterweise war im Fall des Irak die einsame Stimme, die eine Invasion Kuwaits vorhersagte, der für Sicherheitswarnungen zuständige CIA-Abteilungsleiter Charlie Allen. Regionale Experten und auch Regierungen in der Region taten diese Warnung als unbegründet ab. Charlie Allen räumte später gegenüber einem von uns ein, dass er die Region nicht sonderlich gut kannte, aber er und seine Mitarbeiter verfolgten die entsprechenden militärischen Vorbereitungen des Irak und zogen daraus ihre Schlüsse.

Für uns ist die Tatsache, dass diese Ereignisse der jüngeren Geschichte nicht vorhergesehen wurden, etwas, das uns demütig stimmt. Wir behaupten nicht, dass ein Krieg unmittelbar bevorsteht oder auch nur, dass die Wahrscheinlichkeit eines Krieges bei über 50 Prozent liegt. Aber das Wenige, das wir wissen, hat uns zu dem Schluss geführt, dass das Risiko eines Krieges von China gegen Taiwan viel höher ist als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in den zurückliegenden Dekaden.

China tut genau das, was ein Land tun würde, wenn es sich für einen Krieg vorbereitet. Es stimmt die Bevölkerung politisch auf einen bewaffneten Konflikt ein. Gleichzeitig hält es in immer kürzeren Abständen Manöver ab und trifft militärische Vorbereitungen, die die Einsatzbereitschaft seiner Streitkräfte in einem breiten Spektrum verschiedener Eventualfälle zur See, in der Luft, am Boden, im Cyberspace und im Weltraum verstärkt und erweitert.[8] Dieses Niveau operativer Aktivitäten verkompliziert auch die Arbeit ausländischer Nachrichtendienste und erschwert es ihnen, in dem Hintergrundrauschen Signale zu erkennen, die nichts Gutes verheißen – wie es schon den Israelis erging, als sie im Vorfeld des Krieges von 1973 die Absichten Ägyptens zu entziffern suchten.

3 Strategien und Optionen der USA

Zu Beginn des Jahres 2021 hat die Regierung von Präsident Donald Trump dessen Nachfolger ein Dossier von wachsender Brisanz hinterlassen. Die Trump-Administration hatte zwar erkannt, dass die Gefahr zunahm, aber außer scharfer Rhetorik und unspezifischen Drohungen kam nichts.

Der erste Schritt der neuen Administration sollte darin bestehen, keine leeren Drohungen mehr auszustoßen. Die neue Regierung Biden hat die historische Haltung der USA zu Taiwan in beschwichtigender Absicht bekräftigt, aber gleichzeitig hat sie, nicht gerade sehr glaubwürdig hinzugefügt: „Wir halten unerschütterlich an unseren Verpflichtungen gegenüber Taiwan fest.“[9] Der Tonfall dieser Erklärung war tatsächlich „unerschütterlich“. Aber das, worauf sich „unsere Verpflichtungen“ konkret beziehen, ist nicht klarer als zuvor. Was fehlt ist eine klare Verpflichtung der Vereinigten Staaten jene Maßnahmen zu ergreifen, die das politische Gleichgewicht und die Abschreckung aufrechterhalten, die den Frieden in den letzten 50 Jahren bewahrt haben.

Zweitens sollten die Vereinigten Staaten umgehend eine Strategie zur Abschreckung von militärischen Schritten Chinas gegen Taiwan entwickeln, die glaubwürdig ist. Eine US-Strategie zur Unterstützung Taiwans sollte weniger von US-Flugzeugträgern abhängen, die dem Land in Gewässern, die von China dominiert werden, zu Hilfe eilen. Sie sollte mehr auf verstärkte und detaillierte koordinierte Planung mit dem Ziel setzen, China abzuschrecken und Taiwan zu helfen, sich selbst zu verteidigen. Wir haben diese Argumente in einem aktuellen Sonderbericht des Council on Foreign Relations vorgestellt.[10] Nach der Lektüre unseres Berichts nahmen einige Leser an, wir würden einfach den Status quo unterstützen, oder wir wollten, dass Washington aufhöre, sich für das Schicksal Taiwans zu interessieren. Keine dieser Vermutungen trifft zu. Aber unser Vorschlag fordert die herkömmlichen Argumentationslinien bezüglich dessen heraus, was die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten tun sollten, um eine Krise über Taiwan zu vermeiden, oder wie sie reagieren sollten, wenn sich eine solche Krise entwickelt.

In dem Beitrag stellen wir drei militärische Szenarien vor: (1) Angriffe auf die Peripherie von Taiwan (wie etwa eine küstennahe Insel), (2) eine Luft- und Seeblockade, die den Luft- und Seeverkehr nach Taiwan kontrolliert, um ausländische Waffenlieferungen oder angebliche ausländische Einmischungen zu unterbinden, und (3) eine direkte Belagerung und Invasion. Anschließend diskutieren wir zahlreiche (optimistische und pessimistische) offene Analysen, die einschätzen, was sich im Rahmen dieser Szenarien ereignen könnte.

Es ist unserer Meinung nach aus politischen und militärischen Gründen nicht länger realistisch, davon auszugehen, dass US-Streitkräfte, ohne Koordination mit Alliierten, irgendeinen dieser verschiedenen Typen von Angriffen auf Taiwan abwehren könnten. Und es ist auch nicht realistisch, anzunehmen, dass die Vereinigten Staaten einen solchen Konflikt einfach zu einem allgemeinen Krieg gegen China mit umfassenden Blockaden oder Angriffen gegen Ziele auf dem chinesischen Festland eskalieren sollten. Wenn US-amerikanische Einsatzpläne nur solche unrealistischen Szenarien enthalten, werden sie wahrscheinlich vom US-Präsidenten und dem US-Kongress abgelehnt (falls der Kongress überhaupt Gelegenheit hat, darüber zu entscheiden, was zweifelhaft ist). Die sich daraus ergebende politische Lähmung der USA wäre nicht das Ergebnis von Schwäche oder Zaghaftigkeit des Präsidenten. Vielmehr dürfte das Problem darin bestehen, dass das mächtigste Land der Erde keine glaubwürdigen Optionen für die gefährlichste militärische Krise ausgearbeitet hätte, mit der es seit langem konfrontiert wäre.

Jeder, der alternative militärische Strategien der USA für Taiwan analysieren will, tappt heute mehr oder minder im Dunkeln. Einige behaupten, die gegenwärtigen Verteidigungspläne seien ausreichend, auch wenn diese Einsatzbereitschaft für die breite Öffentlichkeit nicht ersichtlich sein möge. Andere behaupten, die gegenwärtige Strategie sei ein Potemkin’sches Dorf, ein von Wunschdenken geprägtes Versprechen eines Landes, das in den letzten Jahren schon so oft gezeigt hätte, dass es mit realen Krisen überfordert sei – von Irak bis Afghanistan, bei Pandemien und beim tiefen texanischen Winter.

Einige gegenwärtige und ehemalige Insider haben uns in unserer Skepsis bestätigt: Wenn der Kaiser auch nicht unbedingt nackt ist, so sind seine Kleider doch fadenscheinig. Wieder andere behaupten, wir könnten die Kleider beziehungsweise die Schneider, die so fleißig bei der Arbeit seien, nur nicht sehen. Von daher besteht die Herausforderung, Kriegspläne und den Stand der Verteidigungsbereitschaft in aller Offenheit zu diskutieren, ohne allerdings auf Informationen zurückgreifen zu können, die der Geheimhaltung unterliegen.

Wir gehen nicht davon aus, dass die pessimistischsten Szenarien zutreffend sind. Aber in Anbetracht des Ausmaßes an Unsicherheiten und angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, wollen wir vagen Versicherungen und Geheimniskrämerei nicht vertrauen. Effektive Verteidigungspläne sind nur selten geheimnisvoll, insbesondere, wenn sie der Abschreckung dienen sollen. Ihre Plausibilität sollte offensichtlich sein. Grundsätzlich sehen wir vier Hauptstrategien, wie die Vereinigten Staaten auf verschiedenste chinesische Aktionen reagieren könnten. Wir unterstützen nur die letzte davon. Alle gehen davon aus, dass die USA weiterhin gewillt sind, Waffen an Taiwan zu verkaufen, um seine Verteidigungsfähigkeiten zu verbessern, und dass der Taiwan Relations Act weiterhin nachdrücklich unterstützt wird.

3.1 Strategischer Ansatz Nr. 1

Die Vereinigten Staaten könnten ihre Waffenverkäufe fortsetzen, um Taiwan zu helfen, sich selbst zu verteidigen, aber sie würden keine Verantwortung für die direkte Verteidigung Taiwans übernehmen. Außerdem würden die Vereinigten Staaten abweichend von den gegenwärtigen militärischen Einsatzplanungen der USA, wie wir sie verstehen, nicht militärisch in einen Konflikt zwischen China und Taiwan eingreifen.[11]

3.2 Strategischer Ansatz Nr. 2

Die Vereinigten Staaten würden sich nicht im Vorhinein dazu verpflichten, die Verantwortung für die direkte Verteidigung Taiwans zu übernehmen, aber sie würden sich darauf vorbereiten. Der wahrscheinliche Einsatzplan bei einem Taiwan-Konflikt würde für Feinde und Freunde gleichermaßen unklar bleiben. Verbündete und Partner würden sich daher nicht an den Vorbereitungen für die koordinierte Umsetzung dieser Pläne beteiligen. Unseres Erachtens war diese Strategie bis zur Regierung Trump der Status quo, und sie wird es vielleicht wieder.

Bei dieser Strategie bleibt unklar, ob die Vereinigten Staaten die direkte Verteidigung Taiwans mit Angriffen auf das chinesische Festland verbinden würden. Es bleibt unklar, ob eine solche Ausweitung des Krieges notwendig ist oder nicht. Wenn derartige Pläne bestehen, würde das möglicherweise keine nennenswerten Veränderungen an der gegenwärtigen Struktur der US-amerikanischen und japanischen Streitkräfte sowie ihrer Dislozierung erfordern. Im Großen und Ganzen muss festgehalten werden, dass es nicht offensichtlich ist, wie die Streitkräfte der USA und ihrer Verbündeten im Falle einer militärischen Operation Chinas gegen Taiwan eingesetzt werden würden.

3.3 Strategischer Ansatz Nr. 3

Die Vereinigten Staaten könnten sich auf die, allerdings geteilte Verantwortung für die direkte Verteidigung Taiwans in unterschiedlichen Szenarien vorbereiten und entsprechende Planungen durchführen.[12] Sie könnten sich im Vorhinein dazu verpflichten, die Insel zu verteidigen.[13] Diese Pläne könnten die Entsendung zumindest von US-Militärberatern nach Taiwan in Friedenszeiten und US-Angriffe auf Einheiten der Volksbefreiungsarmee vorsehen, sofern diese Gewalt gegen Taiwan ausgeübt hätten. Diese Strategie würde allerdings erhebliche Veränderungen in der Struktur und bei der Dislozierung von US-amerikanischen und japanischen Streitkräften erfordern. Ebenso wären Veränderungen bei gemeinsamen Übungsaktivitäten notwendig, zudem eine deutliche höhere Einsatzbereitschaft als es derzeit der Fall ist. Die Bereitschaft der USA und Japans, diese Kriegspläne umzusetzen, müsste offen kommuniziert werden und durch gemeinsame Übungen zusätzliche Glaubwürdigkeit erhalten.

Diese dritte Strategie verdient es, sorgfältig erwogen zu werden, auch wenn wir sie nicht unterstützen. Umgesetzt werden würde sie vermutlich durch Maßnahmen, die chinesischen Streitkräften den Zugang zu See- und Luftgebieten verweigern sollen, wobei neue Raketen- und Sensortechnologien eingesetzt würden. Ziel wäre es, im Luftraum und in den Seegebieten um Taiwan ein Sanktuarium zu schaffen, welches China keine der oben aufgeführten militärischen Operationen erlauben würde.

In diesem Zusammenhang sind die laufenden rüstungstechnologischen Innovationen zu untersuchen, die notwendig wären, um diese Strategie umzusetzen. In den Quellen, die wir in unserem Bericht zitieren, werden diese Innovationen ausführlich diskutiert. Die einschlägigen Verteidigungsexperten, die diese Strategiepläne unterstützen, gehen davon aus, dass die Vereinigten Staaten gegenwärtig nicht über die nötigen Streitkräfte und die Bereitschaft verfügen, um diese Strategie umzusetzen.[14] Vielmehr sagen sie aus, dass diese Strategie nur dann umsetzbar sei, wenn die Vereinigten Staaten in den kommenden Jahren entsprechende Innovationen und Investitionen vornehmen werden.

Auch muss gegen diese Strategie eingewandt werden, dass sie vage bleibt, was eventuelle Angriffe auf China für den Fall betrifft, das die chinesische Volksbefreiungsarmee mit Angriffsoperationen beginnt. Dieses Manko ist riskant, denn die geografische Eskalation ist und bleibt eine ganz zentrale Frage. Diese Vagheit verstärkt ganz erheblich die Gefahr von Präemptivschlägen beider Seiten und würde daher das Risiko eines allgemeinen Krieges erhöhen. Dieser könnte sich auf die Territorien der Vereinigten Staaten und Japans ausweiten und auch extreme Szenarien über einen nuklearen Schlagabtausch umfassen.

Vor drei Jahren billigte der Nationale Sicherheitsrat der Regierung Trump strategische Leitlinien, die die Vereinigten Staaten aufforderten, eine Verteidigungsstrategie zu erarbeiten und umzusetzen, die in der Lage, aber nicht darauf beschränkt ist: (1) China in einem Konflikt innerhalb der „ersten Inselkette“ eine dauerhafte Vorherrschaft in der Luft und zur See zu verwehren, (2) die Nationen der ersten Inselkette einschließlich Taiwan zu verteidigen, und (3) sämtliche Gebiete außerhalb der ersten Inselkette zu dominieren. Das Weiße Haus hat diese Leitlinien am Ende der Amtszeit Trumps im Januar 2021 freigegeben und veröffentlicht.[15] Kurz gesagt hat sich die Regierung Trump, zumindest auf dem Papier, die hier beschriebene dritte Strategie zu eigen gemacht. Diese geht mit politischen Urteilen über die vitalen nationalen Interessen der USA und politisch-militärischen Urteilen über die Glaubwürdigkeit und Durchführbarkeit solcher Pläne einher – Schlussfolgerungen, die zumindest mit Taiwan und Japan geteilt und koordiniert werden sollten. Wir kennen keine glaubwürdige Evaluierung, die darauf hindeutete, dass die Vereinigten Staaten vor dem Hintergrund der US-Verteidigungspläne und in Anbetracht chinesischer Fortschritte im gleichen Zeitraum jetzt besser dazu in der Lage wären, irgendeine dieser drei Aufgaben zu erfüllen, als vor drei Jahren, als die Leitlinien heimlich verabschiedet wurden.

Daher sind wir fest davon überzeugt, dass es höchste Zeit ist, eine US-Verteidigungs- und Abschreckungsstrategie zu konzipieren, die mit der Herausforderung Taiwan, wie sie sich in der gefährlichen Gegenwart darstellt, angemessen umgeht, nicht, wie sie vielleicht in einer von Wunschdenken geprägten Zukunft einmal aussehen könnte. Es ist verlockend, wie Fitzgeralds Gatsby, „an das grüne Licht zu glauben, die orgiastische Zukunft, die Jahr für Jahr vor uns zurückweicht. Damals entwischte sie uns, aber was macht das schon? Morgen laufen wir schneller, strecken die Arme weiter aus … Und eines schönen Morgens …“.

Aber die Volksrepublik China bewegt sich ebenfalls. Auch sie hat eine Liste mit notwendigen Rüstungsprojekten sowie grundlegende Vorteile in Bezug auf Aufmerksamkeit, Geografie und Logistik. Um Donald Rumsfeld zu paraphrasieren:[16] Während das US-Militär bei der Volksbefreiungsarmee in die Schule gegangen ist, ist die Volksbefreiungsarmee auch beim US-Militär in die Schule gegangen, insbesondere was mögliche Taiwan-Krisenszenarien anlangt.[17]

Es gibt noch ein tieferes Problem. Theoretisch mag es eines Tages möglich sein, dass Taiwan, die Vereinigten Staaten oder Japan die Verteidigungssysteme aufbauen, die, wie von der Regierung Trump gefordert, eine ausreichende Dominanz erreichen können, um chinesische Angriffe zu vereiteln. In einem überaus dynamischen regionalen militärischen Umfeld könnte Peking dann zu dem Schluss kommen, dass das Zeitfenster seiner Überlegenheit kleiner wird – ein Punkt, den wir in dem Bericht hervorheben.[18] Diese konfrontativere Haltung der dritten Option, die Peking dazu zwingt, auf der Hut zu sein, weil die Vereinigten Staaten sich zügig darauf vorbereiten, Taiwan direkt zu verteidigen, könnte einen Krieg zu einem Zeitpunkt geradezu provozieren, an dem diese Fähigkeiten der USA und ihrer Alliierten noch nicht aufgebaut worden sind.[19]

Wir kommen daher zu dem Schluss, dass die dritte Strategie – die Planungen der USA auf Grundlage der Annahme einer erfolgreichen direkten US-Verteidigung Taiwans, die mit Japan und anderen Alliierten koordiniert wird – in den nächsten Jahren weder in politischer noch in militärischer Hinsicht realistisch ist.[20] Es ist eine Strategie, die auf unsicheren militärischen Versprechungen mit erhöhten Risiken der Provokation, der Lähmung beziehungsweise einer demütigenden Niederlage beruht.

3.4 Strategischer Ansatz Nr. 4

Wenn Chinas Zeitfenster der Überlegenheit im Lauf der Zeit in dem Maße kleiner wird, wie sich die Verteidigungsfähigkeiten Taiwans verbessern, was ist dann für die Übergangszeit die richtige US-Strategie? Wenn die Zeit letztlich auf der Seite derjenigen steht, die Frieden und Freiheit verteidigen, sollte unsere Strategie darauf abzielen, mehr Zeit zu gewinnen. Diese von uns empfohlene Option unterstützt die Planungen, die wir in der zweiten Strategie zur Erhaltung des Status quo beschreiben. In diesem Bereich verfügen die Vereinigten Staaten zwar über Eventualfallpläne, die ihre direkte Beteiligung an der Verteidigung Taiwans vorsehen, aber sie werden sich nicht im Voraus dazu verpflichten. Unseres Erachtens ist dies allerdings keine geeignete US-Strategie zur Verhütung eines Krieges. Wir glauben, dass die Vereinigten Staaten überdies – zumindest mit Japan und Taiwan – einen parallelen Plan abstimmen sollten, um jedem Versuch Chinas entgegenzutreten, den internationalen Zugang nach Taiwan zu blockieren. Die USA und ihre Alliierten sollten die notwendigen Vorbereitungen für den Konfliktfall treffen, u. a. durch einsatznah bereitgestellten US-Nachschub einschließlich Bevorratung für den Verteidigungsfall und durch Lieferungen von dringend benötigten Versorgungsgütern, um Taiwan zu helfen, sich selbst zu verteidigen.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten (vor allem Japan) sollten Pläne ausarbeiten, die sie befähigen, eine Blockade oder gar Belagerung Taiwans durch China hinreichend zu durchkreuzen. China muss dabei die Entscheidung aufgebürdet werden, ob es den Konflikt ausweiten will, indem es US-amerikanische oder alliierte Streitkräfte angreift, die Taiwan weiter mit Gütern beliefern. Falls es solche Pläne bereits gibt, sind sie nicht in gemeinsamen Manövern mit Alliierten erkennbar geworden. Auch fehlt es an einsatznah bereitgestelltem Nachschub sowie an entsprechenden Transportkapazitäten. Diese Pläne würden wahrscheinlich erhebliche Veränderungen an der Struktur und Ausrüstung und der Dislozierung US-amerikanischer und anderer alliierter Streitkräfte erfordern. Aber diese Veränderungen, die mehr darauf abzielen, Taiwan dabei zu helfen, sich selbst zu verteidigen, und weniger auf die schnelle Massierung von US-Eingreifkräften innerhalb der ersten Inselkette setzen, wären für die Volksrepublik China nicht so bedrohlich wie die dritte Strategie und enthielten damit keinen Anreiz für präemptive Optionen.

Wenn sich China entschließen würde, den Krieg auszuweiten, würden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sich selbst verteidigen und weiterhin alles in ihrer Macht Stehende tun, um Taiwan zu helfen, sich selbst zu verteidigen. Aber die Vereinigten Staaten würden nicht davon ausgehen müssen, dass sich ein solcher Krieg auf die Staatsgebiete Chinas, Japans oder gar der USA ausweitet.

Vielmehr würden die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten, in einer weiteren Revision der zweiten Strategie, glaubwürdige und sichtbare Planungen von Maßnahmen für den Fall anstellen, dass ihre Streitkräfte angegriffen würden: Sie würden sämtliche Finanzbeziehungen mit China kappen, chinesische Vermögenswerte einfrieren oder beschlagnahmen, wodurch die weltwirtschaftliche Verflechtung jäh zerrissen würde und es wahrscheinlich zu einer weltweiten Finanzkrise käme. Die Vereinigten Staaten und Japan würden sich auch in sichtbarer Weise auf die massiven Remilitarisierungs- und Mobilisierungsmaßnahmen vorbereiten, die sie, und vielleicht auch andere, als logische Konsequenz der gestiegenen Gefahr eines allgemeinen Krieges ergreifen würden.

Einige Kritiker behaupten, dies sei schon heute die Strategie der USA, aber uns sind keine derart umfangreichen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Pläne der Alliierten bekannt, die die Abschreckung stärken würden. Die Ausarbeitung dieser Pläne wäre eine ernste Angelegenheit. Denn sie hätten so schwerwiegende Folgen, dass ihre Umsetzung nur dann glaubwürdig angedroht werden könnte, wenn China amerikanische und alliierte Streitkräfte angegriffen hätte. In diesem Fall wären solche Schritte nicht nur glaubwürdig, sondern wahrscheinlich. Diese Maßnahmen sind nicht als Sanktionen gedacht, um einen chinesischen Rückzug zu erzwingen. Ihre gemeinsame Planung mit Verbündeten würde China im Voraus zeigen, was eine Ausweitung des Konflikts für die Zukunft Chinas und der Kommunistischen Partei Chinas bedeuten würde.

Die von uns favorisierte Strategie hat ihre Schwächen. Sie erlegt Taiwan die Bürde auf, ohne äußere Hilfe so viel zu tun, wie es kann, um aus eigener Kraft seine potentiellen Verteidigungskapazitäten vollumfänglich zu realisieren. Aber unser Vorschlag eröffnet Optionen, die als Abschreckungsmaßnahmen gegen einen Angriff auf Taiwan realistischer und glaubwürdiger sind als die drei anderen Alternativen. Diese vierte Strategie fokussiert auf die Eskalation, zu der es nach Ausbruch eines Konfliktes kommen könnte, und nimmt diese sehr reale Gefahr zum Anlass für Vorbereitungen, die schon lange vor einem möglichen Konflikt für die chinesische Führung sichtbar sind.

Wir betonen, dass unser Vorschlag nur dann erfolgreich sein kann, wenn zumindest mit Taiwan und Japan im Vorfeld Abstimmungen und gemeinsame Planungen stattfinden. Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten deren Präferenzen berücksichtigen müssen. Wenn sie andere Strategien befürworten, dann müssen sie die Verantwortlichkeiten und Risiken, die mit diesen Strategien verbunden sind, anerkennen, akzeptieren und gewillt sein, entsprechend zu handeln. Wenn sie andererseits in engem Schulterschluss mit den Vereinigten Staaten die in unserer vierten Option erwähnten weitergehenden Pläne erarbeiten, dann würde diese gemeinsame Planung dazu beitragen, in ihren Gesellschaften eine größere Bereitschaft zu einem gemeinsamen Vorgehen zu erreichen.

4 Fazit

An unserem Bericht wurde u. a. kritisiert, er überzeichne die von China ausgehende militärische Bedrohung. Wir sollten uns vielmehr auf Druckmittel in der „Grauzone“ konzentrieren, die China gegen Taiwan einsetzen könnte, da deren Einsatz wahrscheinlicher sei. Darauf antworten wir: China hat schrittweise den Druck in Xinjiang erhöht, aber als das nichts brachte, beschloss die Volksrepublik schließlich, den Hammer zu schwingen. Ebenso hat China nach und nach den Druck auf Hongkong erhöht, aber als dies nichts brachte, hat Peking beschlossen, den Hammer zu schwingen. Heute versucht es China mit einer Strategie der schrittweisen Erhöhung des Drucks auf Taiwan. Diese hatte aus chinesischer Sicht kontraproduktive Effekte in der taiwanesischen Politik. Von daher bleibt die Frage: Was wird China jetzt tun?

Wir würden uns bezüglich der potentiell gravierenden Folgen einer zukünftigen Taiwan-Krise gern irren. Wir hoffen, dass wir die Gefahr übertrieben haben. Wir können uns allerdings nicht selbst einreden, dass die aufziehenden, Unheil verkündenden Wolken bloße Einbildung sind.


Anmerkung

Die ehemaligen Karrierediplomaten haben unter mehreren US-Präsidenten – von Ronald Reagan bis Barack Obama – in führenden politischen Positionen gearbeitet; eine englischsprachige Version des Artikels ist zuvor auf der Webseite War on the Rocks erschienen (https://warontherocks.com/2021/03/can-the-united-states-prevent-a-war-over-taiwan/)


Literatur

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Published Online: 2021-06-03
Published in Print: 2021-06-01

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 29.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2021-2009/html
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