Der Autor stellt eingangs fest, dass fünfundzwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges das militärische Gleichgewicht zwischen NATO und Russland wieder zu einem wichtigen Thema im Westen geworden ist. Aus Sicht der NATO stelle Russland aus drei Gründen eine ernsthafte militärische Bedrohung für seine östliche Flanke und die euro-atlantische Sicherheit dar. Erstens habe Russland nach dem Krieg gegen Georgien 2008 ein umfassendes Militärreform- und Modernisierungsprogramm ins Leben gerufen, das mit deutlich erhöhten Verteidigungsausgaben finanziert werde. Dies habe dazu geführt, dass die Fähigkeiten der russischen Streitkräfte erheblich gewachsen seien. Zweitens habe Russland in den vergangenen zehn Jahren die Bereitschaft gezeigt, militärische Gewalt sowohl in seiner unmittelbaren Nachbarschaft als auch jenseits des post-sowjetischen Raums als Instrument seiner Außenpolitik anzuwenden. Drittens habe der Kreml eine militärisch akzentuierte, scharf anti-westliche Politik eingeschlagen. Dazu gehörten unter anderem provokative militärische Manöver in der Nähe der Grenzen von NATO-Mitgliederstaaten, nuklear unterfütterte Drohungen und die Stationierung nuklearfähiger Raketen in der russischen Exklave Kaliningrad. Sokolsky stimmt im Wesentlichen einer wachsenden Wahrnehmung im Westen zu, dass Russland als revanchistische, neoimperialistische, expansionistische und dem Westen feindlich gesonnene Macht zurückgekehrt sei, die sich von den in der Charta von Paris 1990 verankerten Prinzipien der europäischen Sicherheitssystem abgewandt habe.
In seiner Analyse der militärischen Kräfteverhältnisse legt der Autor den Schwerpunkt auf den Baltischen Raum. Dort gebe es große Ungleichgewichte zugunsten Russlands. Auch wenn man, erstens, die ständigen Kräfte der baltischen Staaten, zweitens, die Truppen, die andere NATO-Mitglieder in Friedenszeiten oder auf Rotationsbasis auf dem baltischen und polnischen Territorium einsetzen könnte und, drittens, die früh ankommenden Kräfte, die die NATO der östlichen Flanke als Reaktion auf eine strategische Warnung vor einem Angriff zugewiesen hat, in den Kräftevergleich mit einbezöge, habe Russland gegenüber der NATO bei der Truppenstärke und bei jeder größeren Kategorie von Kampfwaffen und Ausrüstung, die in einem anfänglichen militärischen Angriff gegen die baltischen Staaten verwendet werden würden, ein großes Übergewicht.
Sokolsky vergleicht dann im Einzelnen die Fähigkeiten Russlands und der NATO bei den Truppenstärken, Kampfpanzern, Artillerie, Boden-Boden-Raketen, Kampfflugzeugen und Hubschraubern. Die Vorteile, die Russland gegenüber der NATO in baltischen Raum hat, kommen für ihn in den folgenden Faktoren zum Ausdruck:
Die russischen Luftverteidigungsfähigkeiten sind in den letzten Jahren deutlich verbessert werden. Dazu gehörten vor allem die in Kaliningrad neu stationierten S-400-Flugabwehrsysteme.
Neu dislozierte landgestützte Raketenwerfer und nuklearfähige Marschflugkörper könnten NATO-Gegenangriffe von See unterbinden.
In seinem Westlichen Militärbezirk hat Russland mehrere umfangreiche Einheiten von Bodentruppen unter dem Kommando eines Hauptquartiers auf Korps-Ebene neu aufgestellt. Diese Truppen sind in hoher Bereitschaft.
Die vielzähligen regulären und überraschend angekündigten Militärmanöver haben gezeigt, dass Russland im vergangenen Jahrzehnt seine Truppen besser ausgebildet, ausgerüstet und in höhere Kampfbereitschaft versetzt hat. Außerdem seien die Befehlsstrukturen effektiver organisiert.
Die 2009 und 2013 und für den Herbst 2017 geplanten großräumigen „Sapad“- (Russisch: Westen) Manöver, an denen auch Einheiten der weißrussischen Streitkräfte teilnehmen, simulierten westlichen Militärbeobachtern zufolge eine Besetzung des Baltikums.
Die Baltischen Staaten sind zwischen Kaliningrad und dem Hauptteil Russlands eingeklemmt. Häfen und Flugplätze, die für die NATO-Verteidigung im Ostseeraum von entscheidender Bedeutung sind, sind verwundbar; einige von ihnen liegen nur wenig mehr als 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Im Endeffekt kommt auch Sokolsky zum selben Ergebnis wie die RAND-Studie vom April 2016 (https://warontherocks.com/2016/04/outnumbered-outranged-and-outgunned-how-russia-defeats-nato), wonach die russischen Streitkräfte, wenn sie einen Angriff gegen die Baltischen Staaten bei nur geringer Vorwarnung durchführen würden, in 36 bis 60 Stunden die estnische Hauptstadt Tallinn und die lettische Hauptstadt Riga erreichen könnten. Das gesamte Baltikum wäre praktisch nicht zu verteidigen.
Die Wahrscheinlichkeit eines umfangreichen konventionellen Angriffs auf die Baltischen Staaten sei allerdings gering. Der Kreml sei sich durchaus der großen Risiken bewusst, die ein konventioneller Krieg mit der NATO mit sich brächte. Infolgedessen sei es wahrscheinlicher, wenn er auf hybride Kriegführung setzen würde, wenn er beabsichtige die Kontrolle über die Baltischen Staaten wiederzugewinnen. Dies würde aber ebenfalls erhebliche Risiken mit sich bringen. Der Überraschungseffekt, der bei der Krim-Annexion eine wesentliche Rolle gespielt habe, fiele weg. Russland könnte in diesen Ländern kaum mit aktiver Unterstützung der russischsprachigen Minderheiten rechnen und müsste sich auf energische Gegenwehr der nicht-russischen Bevölkerung einstellen, die dann von der NATO unterstützt werden könnte. Zum Schluss listet Sokolsky Gegenmaßnahmen auf, die der Westen ergreifen sollte, um den Kreml von Gedanken abzuhalten, einen konventionellen Angriff oder verdeckte Operationen gegen die Baltischen Staaten durchzuführen.
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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