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Kann Kindertheologie auch unwahr sein?

Ein Plädoyer für differenzierte Bewertungskriterien in der Kindertheologie
  • Mirjam Zimmermann EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Mai 2016
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Abstract:

Dealing with the basic question of truth in „children's theology“ this article argues for a more complex approach. It adopts fundamental theories of truths by asking about the correspondence, coherence, consensus, and practical effect of children's theology on three levels (theology of, with, and for children). The article takes criteria into consideration which can best be used to evaluate children's theology, with special attention to the methods of empirical research, sustainability of children's ideas, coherence within theological tradition, and reflection on concrete Christian faith and spiritual experience.

„Die Wahrheit setzt sich durch“, heißt es im Sprichwort. Ist man bereit, diesen Erfahrungssatz auf die Kindertheologie anzuwenden, kann man die Antwort auf die als Thema gestellte Frage schnell geben: Kindertheologie ist wahr. Zumindest hat sich die Kinder- und Jugendtheologie in den letzten zwanzig Jahren als Konzept innerhalb der Religionspädagogik etabliert, sie hat sich als diskursrelevant ‚durchgesetzt‘ und wird nun neben kompetenzorientierten, konstruktivistischen, performativen, symboldidaktischen u. a. Ansätzen in Grundlagendarstellungen zu Konzepten und Perspektiven der Religionspädagogik aufgenommen.[1] Hatte noch vor knapp 20 Jahren niemand überhaupt den Begriff „Kindertheologie“ gekannt, so erfreut er sich heute einer weiten Verbreitung in unterschiedlichen religionspädagogischen Betätigungsfeldern: Einschlägige Zeitschriften publizierten Themenhefte,[2] es gibt nationale Netzwerktagungen (seit 2000) und internationale Kongresse (seit 2008) und dem seit 2002 veröffentlichten „Jahrbuch für Kindertheologie“ wurde seit 2012 ein „Jahrbuch zur Jugendtheologie“ an die Seite gestellt. Als Ausdruck der Konsolidierung darf auch die Veröffentlichung eines Handbuchs gewertet werden.[3]

Doch man muss nicht erst über die Wahrheitsfähigkeit von Sprichwörtern nachdenken, um zu erkennen, dass die Reflexion der Ausgangsfrage mehr Tiefgang erfordert. Der Erfolg der Kindertheologie besagt noch nichts über ihre Wahrheit im pädagogischen oder gar theologischen Sinn, noch weniger über ihre etwaige Anfälligkeit für ‚Unwahrheiten‘. Um die Frage zu diskutieren, kommt man nicht umhin, die zentralen Begriffe „Kindertheologie“ und „Wahrheit“ näher in den Blick zu nehmen, um dann präziser fragen zu können, in welchem Sinne die Kindertheologie bzw. einzelne Aspekte davon als „wahr“ oder „unwahr“ beurteilt werden könnten. Dies soll im ersten Teil dieses Beitrags geleistet werden. Im zweiten werden dann einzelne Aspekte anhand ausgewählter Beispiele vertieft.

1. Wahrheit und Kindertheologie – die Präzisierung der Fragestellung

Was ist also überhaupt „Kindertheologie“? Was ist der Gegenstand, der in der Ausgangsfrage als „wahr“ oder „unwahr“ beurteilt werden soll? Ist bereits die Verbalisierung eines religiösen Gefühls oder die Teilnahme an religiösen Vollzügen eines Kindes „Kindertheologie“? Oder beziehen wir das Label nur auf sprachliche oder künstlerische Artefakte von Kindern? Bedarf es einer Meta-Perspektive, eines reflektierenden Sprechens über die eigenen Erzeugnisse, mit denen das Kind einen Prozess des Nach-Denkens und Verstehens deutlich macht? Oder sollte man begrifflich und erkenntnistheoretisch präziser den Begriff „Kindertheologie“ auf den analysierenden Fachdiskurs der Erwachsenen über kindliche Äußerungen beschränken? Ist Kindertheologie nicht eigentlich immer schon „kindertheologische Forschung“?[4]

Bereits ein oberflächlicher Blick in die Publikationslandschaft offenbart, dass der Begriffsgebrauch sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kindertheolog(inn)en keineswegs einheitlich ist.[5]

Auch kritische Stimmen finden sich, die den gleichberechtigten Dialog zwischen Kindern und Erwachsenen in Frage stellen,[6] eine kognitive Engführung aufzeigen bzw. eine „kontextuelle Blindheit, die an den Herausforderungen der marginalisierten Kinder vorbeisieht“[7] und so die elitäre, nicht repräsentative Probandengruppe bemängeln[8] u. a. Die jüngste und vielleicht grundlegendste Kritik wurde von Bernhard Dressler formuliert, in der er sowohl die „Theologizität religiöser Bildungsprozesse“ als auch didaktische Aspekte der Kindertheologie (Kinderromantizismus, Konstruktivismus und Symmetrieideal) problematisiert. Am Beispiel der „Jugendtheologie“ führt er ernüchternd vor Augen, dass „unterschiedlicher (…) das, was bildungstheoretisch und religionsdidaktisch unter ‚Jugendtheologie‘ diskutiert wird, kaum ausfallen (kann).“[9]

In der Tat ist wenig gewonnen, wenn die Kinder- bzw. Jugendtheologie im Überschwang des Höhenflugs alle Teilbereiche der Religionspädagogik unter ihren Fittichen vereinen will, und dabei die ursprünglich programmatisch gelobte Nähe zu den Kindern und Jugendlichen aus dem Blick verliert. Auch Trennschärfe zur Religiosität oder Spiritualität der Kinder oder erkenntnistheoretische Selbstkritik ist unbedingt angeraten, weshalb ich mich im Rahmen meiner kritischen Begriffsexplikation entschieden für einen engen Begriff von Kindertheologie als einen inhaltsbegrenzten, medial an Sprache gebundenen Reflexionsprozess der Kinder und Jugendlichen ausgesprochen habe, der nur in methodisch reflektierter Wahrnehmung von Erwachsenen zugänglich ist.[10]

Bei aller Unübersichtlichkeit dieser Diskussion scheint die früh in die Debatte eingeführte Differenzierung zwischen einer „Theologie von Kindern“, „Theologisieren mit Kindern“ und einer „Theologie für Kinder“ nach wie vor heuristisch ertragreich.[11] Auf jeder dieser Ebenen stellt sich die Frage nach der Wahrheit anders und neu.[12] Bei der „Theologie von Kindern“ muss geprüft werden, ob überhaupt Minimalbedingungen von „Theologie“ (z. B. Reflexion, Bezug zum Glauben) gegeben sind und ob die Erfassung kindlicher Artefakte dem Anspruch prüfbarer Wirklichkeitswahrnehmung entspricht. Auch das „Theologisieren mit Kindern“ steht unter einem methodischen ‚Wahrheitsanspruch‘, insofern die Einhaltung bestimmter Regeln des Gesprächs bewertet werden kann oder aber die Relevanz- und Zielfrage des gemeinsamen Sprechens zur Disposition stehen. Die „Theologie für Kinder“ setzt schließlich einen normativen Wahrheitsbegriff voraus, der formal z. B. an Kriterien der Kohärenz oder des Abstraktionsniveaus der Kinderäußerung und material an der Kompatibilität mit theologischer Sprachtradition der Glaubensgemeinschaft bemessen wird.

Nun wurde bei den bisherigen Ausführungen bereits ein oder mehrere Begriffe von „Wahrheit“ stillschweigend vorausgesetzt. Die Reflexion der Ausgangsfrage gewinnt Tiefe und Präzision, wenn wir auch hier erst einmal einen Schritt zurückgehen. In einem zweiten Anlauf soll deshalb die Frage nach der „Un-/Wahrheit der Kindertheologie“ nun aus der Perspektive der Wahrheitstheorie gestellt werden. Während bei der „Kindertheologie“ die kurze Diskursdauer zur Undeutlichkeit des Begriffsgebrauchs führt, so ist bei der „Wahrheit“ genau das Gegenteil der Fall. Weil die Frage nach der „Wahrheit“ und philosophisch-theologische Antwortversuche bald so alt wie die Geschichte des Denkens sind, hat sich auch die Begriffsgeschichte in viele Verästelungen hinein ausdifferenziert. Die Dauer der Reflexion zeigt deshalb nicht mindere Komplexität, allerdings haben sich elementarisierte Wahrnehmungsraster etabliert, die helfen können, die Ausgangsfrage nach der „Un-/Wahrheit der Kindertheologie“ zu präzisieren.

Man kann grundsätzlich vier Theorieansätze unterscheiden:[13] 1) Die Korrespondenztheorie der Wahrheit, die die Wahrheit schon seit Thomas von Aquin als die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und Sache definiert. Dieser Ansatz kann hinsichtlich der Ausgangsfrage dahingehend aufgenommen werden, als man fragen kann, ob eine Aussage in Bezug auf die Sache ‚wahr‘ bzw. angemessen ist. Dies gilt zunächst hinsichtlich der kindertheologisch-wissenschaftlichen Reflexion in Bezug auf ihren Gegenstand. Wird der wissenschaftliche Diskurs den Äußerungen der Kinder gerecht? Wie wurden die kindertheologischen Artefakte überhaupt erfasst, wie werden sie ausgewertet und bewertet? Hier ist also letztlich die Frage nach der empirischen Dimension der kindertheologischen Forschung, dem Forschungsdesign, gestellt.[14] Zugleich kann man aber auch auf der Inhaltsebene fragen: Ist eine kindertheologische Aussage im Blick auf den Referenzbereich sachgemäß, konkret: Ist eine Aussage z. B. über Gott für den christlichen Gott angemessen?

Genau genommen kann allerdings hierbei nicht die Seinsweise Gottes zum Bewertungskriterium erhoben werden, vielmehr kann nur die Angemessenheit einer Aussage im Blick auf die Sprach- bzw. Diskurstradition des Glaubens befragt werden. Ist – um am Beispiel zu bleiben – entsprechend die kindertheologische Äußerung mit dem Gottesbild kompatibel, das die biblisch-dogmatische Tradition entfaltet hat? Dabei sind wir dann aber bereits bei 2) der Kohärenztheorie der Wahrheit, die davon ausgeht, dass „Aussagen und nicht Tatsachen ausschlaggebend dafür sind, ob wir etwas als wahr anerkennen oder nicht.“[15] Eine Aussage gilt dann als wahr, wenn sie sich widerspruchslos in die Gesamtheit anderer Aussagen über einen Gegenstand einordnen lässt. Das heißt im Umkehrschluss: Steht eine Aussage im Widerspruch zur Gesamtheit anderer Aussagen z. B. über den christlichen Gott, dann ist sie ‚unwahr‘. Kohärenz und innere Stimmigkeit sind allerdings auch ein Bewertungskriterium für die Aussage(n) eines Kindes bzw. Jugendlichen selbst. Handelt es sich um assoziative Einfälle oder um eine nachvollziehbare Reflexion? Wie nachhaltig sind diese Aussagen, d. h. können sie nach einer gewissen Zeit noch abgerufen werden oder handelt es sich eher um Momentaufnahmen, die zwar interessant, aber nicht im Sinne religiöser Kompetenz belastbar sind.

Verbleibt die Kohärenztheorie weitgehend auf der Sachebene, so wird in der dritten Wahrheitstheorie, 3) der Konsenstheorie der Wahrheit, das Subjekt oder genauer die eine Diskursgemeinschaft bildenden Subjekte und ihre Kommunikation zentral fokussiert. Ausgangspunkt bei der von Jürgen Habermas[16] und Karl-Otto Apel vertretenen Theorie ist die Frage, wie wir entscheiden, ob wir eine Aussage als wahr einschätzen. Wahrheitsfragen ergeben sich erst dann, wenn, wie oben im Fall der Kindertheologie, von jemandem deren Wahrheitsgehalt angezweifelt wird. Zur Überzeugung des Kritikers/Zweiflers müssen dann gute Argumente angeführt werden. Für die Beurteilung einer Aussage als wahr ist hier nicht die Übereinstimmung mit der Sache oder die Einpassung einer Aussage in ein kohärentes Aussagesystem entscheidend, sondern allein die Frage, ob alle Sprecher einer Sprechergemeinschaft zum selben Schluss kommen würden. „Die Konsenstheorie der Wahrheit besagt, deine Aussage ist wahr, wenn jeder der Sprache mächtige Sprecher dieser Aussage zustimmt.“[17] Können im Idealfall alle Beteiligten einen Konsens finden? Hier ist kaum eine theologische Frage denkbar, bei der das der Fall sein könnte. Dennoch lohnt es sich, einige Überlegungen dieser Wahrheitstheorie aufzugreifen. Kinder und Jugendliche werden in der Kindertheologie als autonome, eigenständige Subjekte gewürdigt, ähnlich wie für Habermas und Apel die jeweils gleichberechtigten Teilnehmer am Diskurs. So kann die Äußerung, die Anfrage oder Idee des Kindes ernsthaft aufgenommen und diskutiert werden, auch wenn die ganze bisherige Tradition dem entgegensteht. Der innovative und provokante Zug der Kindertheologie kann damit gewürdigt werden. Ferner geht es bei der Konsenstheorie um die kritische Selbstreflexion der Diskursbedingungen. Besonders das „Theologisieren mit Kindern“ kann und muss sich hierbei also befragen lassen, nach welchen Regeln dieses Gespräch abläuft.

Schließlich ist 4) die pragmatische Wahrheitstheorie zu nennen, bei der eine Aussage dann als wahr gilt, wenn sie sich als nützlich oder hilfreich z. B. in der Lebensführung erweist. „Wahrheit ist etwas, was sich in der Praxis bewähren muss.“[18] Bezüglich der Kindertheologie wird gerade hier die Dimension der persönlichen Aneignung und Relevanz berührt. Insbesondere ein kompetenzorientierter Begriff von Kindertheologie sieht die Aussagen von Kindern und Jugendlichen auch im Kontext ganzheitlicher Identitätsaussagen. Kindertheologie ist „existenziale und persönliche Theologie“[19], die existenzielle Fragen in Auseinandersetzung mit theologischer Sprach- und Begriffstradition weiterentwickelt und somit zu eigenen Problemlösungsansätzen und Sinnstiftungsprozessen gelangt. In dem Maße, wie z. B. ein kindertheologisches Gespräch derartige Prozesse religiöser Kompetenz- und Identitätsentfaltung fördert, kann es als gelungen und gut angesehen werden.

Zwischenergebnis: Auch wenn wohl niemand erwartet hätte, dass die Ausgangsfrage nach der Un-/Wahrheit der Kindertheologie simplifizierend mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann, so mag doch überraschen, dass vor dem Hintergrund der Begriffsvielfalt der Kindertheologie wie auch der allgemeinen Wahrheitstheorien ein äußerst differenziertes Bild entsteht: Die Wahrheit der Kindertheologie kann auf den unterschiedlichen Ebenen der Theologie von, mit und für Kinder(n) sowohl hinsichtlich der Sachgemäßheit, Kohärenz, Konsensualität als auch der Pragmatik bewertet werden. Die Anerkennung unterschiedlicher Wahrheitstheorien setzt den Verzicht auf eine einzige, absolute Wahrheit voraus. Gleichwohl hat sich besonders auch die Kindertheologie darum bemüht, deshalb die Wahrheitsfrage nicht grundsätzlich etwa im postmodernen Überschwang zu verabschieden. Es gilt vielmehr, differenziert nach Kriterien der Bewertung, Güte und Wahrheitsfähigkeit der Kindertheologie weiter zu fragen. Die präzisierte Frage muss deshalb die simplifizierende Opposition von „wahr“ oder „falsch“ hinsichtlich einzelner Bewertungsfelder und komparativer Bewertungsraster aufbrechen. Hier ist es im Sinne guter kindertheologischer und didaktischer Arbeit geradezu geboten, nach Güte- und Bewertungskriterien zu fragen, um Kindertheologie als didaktisches Konzept weiterentwickeln und selbstkritisch verwenden zu können. Dies soll anhand einiger konkreter Felder der Kindertheologie im Folgenden vollzogen werden.

2. Von der Wahrheitsfrage zur Frage nach Bewertungskriterien in der Kindertheologie

2.1. Unwahr, weil konstruiert? Bewertungskriterien in Bezug auf die Wahrnehmungen der Kinderäußerungen

Kinder sprechen nicht von ‚Kindertheologie“, sie würden sich nicht als „Kindertheologen“ bezeichnen.[20] Wenn Kinderäußerungen als „Kindertheologie“ klassifiziert werden, dann haben sich bereits andere, in der Regel erwachsene Theologinnen und Theologen, in einen Kommunikations- und Erkenntnisprozess der Kinder hineinbegeben, meist sogar Fachtheologen und Religionspädagoginnen. „Wir üben eine Interpretationshoheit über Äußerungen von Kindern aus“,[21] daran kann nicht gezweifelt werden. „Kindertheologie“ ist deshalb immer schon ein analytisches Instrumentarium, mit dem auf einer Meta-Ebene ein theologischer Prozess bei Kindern wahrgenommen, klassifiziert und bewertet wird. Kindertheologie ist so gesehen eine Deutungskategorie, die in einem theoretischen Zusammenhang steht. Hierzu ein Beispiel: Zur Auslegung der Rut-Geschichte mit Kindern wird als „treffliches Argument für die Verwendung der Geschichte im RU“ der zehnjährige Pasqual mit dem Ausspruch zitiert „Diese Geschichte ist hammergeil, weil das sooo viel mit Frauenpower zu tun hat![22] Hier besteht m. E. der Verdacht, dass sich in der Kinderäußerung eher die Meinung seiner Lehrerin widerspiegelt, als dass hier die Meinung eines zehnjährigen Jungen zu Wort kommt.

Ist die Anfrage von Kritikern dann berechtigt, dass die Qualität der Kindertheologie durch die Qualität der theologischen Interpreten bestimmt wird, die aus Stroh Gold machen? Schon allein das Setting der Untersuchung ist künstlich. Bisher existiert keine Studie, die „Kindertheologie bei Gelegenheit“, z. B. Gespräche beim nicht angeleiteten (!) Spiel aufnimmt und auswertet. Es ist zwar heuristisch möglich, die Tätigkeit der Kinder als „Kindertheologie“ zu bezeichnen. Aus epistemologischen, empirischen und hermeneutischen Gründen muss eine solche unabhängige Kindertheologie aber ein uneinholbares Postulat bleiben.

Kindertheologie ist immer der abstrahierte oder wissenschaftliche Diskurs über diese Kinderäußerungen. Dieses hermeneutische Problem und der erkenntnistheoretische Vorbehalt werden kaum reflektiert. Dabei wird besonders dann die Gefahr bestehen, dass die Kindertheologie ein mythologisiertes Kinderbild propagiert oder ihrerseits zur Projektionsfläche einer speziellen Erwachsenentheologie werden kann.[23] Selbst die vielfältigen wissenschaftlichen Bemühungen der Kinderforschung können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Beschreibung der Kindheit eine „Projektionsfläche vielfältiger Wunschvorstellungen“[24] bleibt, die idealisierte Erinnerungen, Utopien und Mythen in hohem Maße einschließt.[25] Kindertheologie ist hierbei in den gleichen hermeneutischen Zirkeln gefangen wie die Kinderforschung überhaupt. Entsprechend konstatierte etwa Dieter Lenzen: „Über Kindheit lässt sich nur reden, wenn man über Erwachsene spricht. Über Kindheit zu reden heißt, dass Erwachsene reden. Insofern reden Erwachsene, wenn sie über Kindheit reden, über sich selbst.“[26] Die Erkenntnisse kindertheologischer Forschung sind deshalb nicht wertlos, wichtig ist aber, sich dieses Vorbehalts bewusst zu sein. M. E. ist es im Umkehrschluss nicht berechtigt, grundsätzlich eine Kindertheologie auseinanderzudividieren, um „im Abgleich festzustellen, was wirklich von den Kindern theologisiert wird und was lediglich die Imitation der Erwachsenentheologie ist.“[27]

Stimmt es außerdem, dass wir mit einer elitären Probandengruppe arbeiten,[28] die nicht repräsentativ für alle Kinder steht, und dass schließlich die Darstellung unserer Auswahl nur die Rosinen vorführt, nicht aber die Unzahl an Schweigen, problematischen bzw. falschen Darstellungen? Dann wäre im Sinne des Settings gemäß der Kriterien einer größtmöglichen Objektivität bzw. in Bezug auf den Forschenden das Ergebnis unwahr.

Die besondere Auswahl, die vor allem religiös sozialisierte Kinder berücksichtigt, lässt sich vielleicht auch mit der impliziten Einsicht begründen, dass damit das von Grümme geforderte Einverständnis, mit gläubigen Kindern über Glauben zu reden,[29] unbewusst eingeholt wird. Das Jahrbuch für Kindertheologie 2014[30] hat, hinsichtlich dieses Aspekts nicht immer überzeugend, versucht, gerade den nicht privilegierten Kindern einen Raum für ihre Theologie zu geben.

2.2. Unwahr, weil zufällig? Bewertungskriterien in Bezug auf die Nachhaltigkeit kindertheologischer Äußerungen

Im Rahmen einer kleinen empirischen Studie wurde untersucht, wie nachhaltig die Antworten von Kindern und Jugendlichen auf Fragen zum Thema Eschatologie sind, die Schülerinnen und Schüler im Abstand von fünf Monaten gegeben haben, in denen das Thema weder davor noch danach im Religionsunterricht behandelt wurde.[31] Hier ging es rein um die Erfassung einer „Theologie der Kinder“. Der Fragestellung lag einerseits die Perspektive zu Grunde, mehr über eschatologische Vorstellungen der Kinder und Jugendlichen zu erfahren, andererseits dem Aspekt der Zufälligkeit einer Theologie der Kinder nachzugehen. Nachhaltigkeit als Gegensatz zur Zufälligkeit einer Theologie der Kinder wird als Aspekt guter Kindertheologie konstatiert. Im Rahmen des Settings füllten Probanden im Abstand von 20 Wochen je einen Fragebogen zum Thema „Eschatologie“ aus. Die Antworten wurden zwei Codes zugewiesen, je nachdem ob der Inhalt gleich geblieben war oder nicht. Im Code 1 waren die Antworten identisch bzw. wiesen nur kleinere Zusätze oder Weglassungen auf, während die Kernaussage bestehen blieb. Bei Code zwei unterschieden sich die Antworten in deutlicher Weise. In der Gesamtschau der Fragen wurde deutlich, dass 82 % der Schülerinnen und Schüler im Abstand von 20 Wochen, ohne dass das Thema im Religionsunterricht bearbeitet worden wäre, verschiedene Antworten auf die gleichen Fragen gaben. Nur bei 18 % blieben die Antworten in etwa gleich. Wenn Kindertheologie in ihren Ergebnissen der Erforschung einer Theologie der Kinder wahr und für die Kinder selbst orientierend und sinnstiftend sein soll, dann muss sie auch nachhaltig abrufbar sein, also als Ergebnis eines Orientierungsprozesses als kindertheologische Kompetenz entwickelt sein.

2.3. Unwahr, weil falsch? Bewertungskriterien in Bezug auf den Inhalt der Kinderäußerungen

Bei einer „Theologie der Kinder“ möchte man zunächst wohlwollend erfassen, was Kinder zu biblischen Texten oder theologischen Fragen denken. Die Reflexionskunst der Kinder soll hierbei zunächst ungeachtet theologischer Sprachtraditionen gewürdigt werden. Aber gibt es Grenzen dieser wertschätzenden Wahrnehmung?

Friedrich Schweitzer zitiert eine Szene aus dem Religionsunterricht, bei der die Schülerin zum Gleichnis des verlorenen Sohnes zu folgendem Ergebnis kommt:

Also zuerst da waren alle beide bockig gegen sich einander, und als der Sohn dann wiedergekommen ist, da hat´s dem Vater leid getan. Und da … haben sich beide entschuldigt.“[32]

Wenn Kinder bei diesem Gleichnis mit dem Vater Gott gleichsetzen, dann hieße das, Gott hat einen Fehler eingesehen. Ist das theologisch richtig? Es geht „in dieser Geschichte eben nicht um einen bockigen Vater, der sich Vorwürfe macht, sondern es geht um einen Sohn, der in die Irre geht und den der Vater trotzdem wieder aufnimmt.“[33]

Wir kennen den Kontext des Gesprächs nicht, vielleicht würde das Kind schon auf eine Rückfrage sein Missverständnis selbst klären können, ein zweiter Blick in den Text z. B. würde genügen. Im Sinne einer Wahrnehmung der Theologie der Kinder wäre das möglich, denn es geht dabei ja darum, die Position der Kinder zu verstehen und damit die dahinterliegenden Reflexionsprozesse zu erhellen.

Doch gehen wir hier mit heuristischer Absicht davon aus, dass das Kind bei seiner Meinung bliebe, dürfen biblische Geschichten dann auch ‚unrichtig‘ verstanden werden, wofür z. B. Klaus und Philipp Wegenast vehement eintreten?[34] Das ist eine These, die in der Kindertheologie oft zitiert wurde. Ist dieser These in Anbetracht dieses Beispiels tatsächlich uneingeschränkt zuzustimmen? Hier werden doch nur Alltagserfahrungen in den Text eingetragen. Steht die Wahrheit des Textes dem nicht entgegen? Ist es nicht auch Absicht des biblischen Textes, neue Einsichten zur Versöhnung zu gewinnen, die am Verständnis dieses Kindes vorbeigehen? Ist diese Interpretation akzeptabel, wenn man nach der „Angemessenheit des kindlichen Verständnisses im Blick auf das biblische Gottesbild insgesamt“[35] fragt bzw. bezieht sich der Freischein der Auslegung nur auf biblische Texte oder auch auf theologische Fragen?[36] Meines Erachtens können in theologischen Gesprächen auch deutlich die Schwierigkeiten und auch die Grenzen solcher Deutungen benannt werden, wenn das in Klassengesprächen nicht bereits von den Mitschülerinnen und Mitschülern eingebracht wird.

2.4 Unwahr, weil ungläubig? Bewertungskriterien im Blick auf den Theologiebegriff, der Glauben und Reflexionsfähigkeit voraussetzt

Fast zeitgleich kritisieren Bernhard Grümme und Bernhard Dressler die Verwendung des Theologiebegriffes in der Kinder- bzw. Jugendtheologie. Grümme argumentiert, dass der wesentliche Bestandteil des Theologiebegriffs der Glaube sei. Dieser könne „im Kontext von religiöser Pluralität und Säkularität nicht mehr unterstellt werden“, deshalb würden die Kinder und Jugendlichen über den Theologiebegriff vereinnahmt, die Kindertheologie unterlaufe damit ihr „selbst gesetztes Postulat der Subjektorientierung und Pluralitätsfähigkeit.“[37]

In eine andere Richtung argumentiert Dressler: „Die mit der Unterscheidung von Religion und Theologie verbundenen Distinktionsgewinne (…) werden verspielt. Bis heute bleibt im kinder- und jugendtheologischen Diskurs der Religionsbegriff unterbestimmt, während der Theologiebegriff trivialisiert zu werden droht, wenn unter Theologie jeder reflexive Bezug auf Religion gelten soll.“[38] Damit drohe der „ohnehin schon virulente Verdacht befördert zu werden, der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen diene einem klerikalen Partikularinteresse“[39], weil eine religionswissenschaftliche Distanz nicht mehr möglich wäre. Besser sei es deshalb, gerade in Bezug auf kirchenferne Kinder und Jugendliche mit dem Religionsbegriff zu arbeiten.

In eine andere Richtung geht die Kritik von Bernd Schröder, der einwendet, dass Kinder „die Fähigkeit zur sogenannten ,Mittelreflektion‘ abgeht“, sie seien damit „im Licht entwicklungspsychologischer Forschung zu einer Meta-Reflexion über ihr religiöses Denken (…) gerade nicht in der Lage.“[40]

Nun zeigt diese Kritik wiederum einen Dissens über die verwendeten Begriffe von Theologie, Religion und Reflexion, der hier nicht zu lösen ist. Gleichwohl handelt es sich um einen Fehlschluss, wenn aus dem nicht bezweifelbaren Defizit an persönlicher Glaubenserfahrung die Unmöglichkeit kindertheologischer Reflexion abgeleitet wird. Ich habe gerade dafür plädiert, dass einerseits der Theologiebegriff vom Religionsbegriff zu unterscheiden ist und inhaltlich an die christliche Tradition gebunden bleiben sollte und sich entsprechend auf christlichen Glauben bezieht. Zugleich muss aber dieser Glaube nicht der eigene sein.[41] Es ist denkbar, dass Kinder und Jugendliche auch über den Glauben von anderen nachdenken. Bei der Frage nach der Wahrheit von Kindertheologie geht es dann nicht darum, sich anzumaßen, über religiöse Erfahrungen (auch Glaubender anderer Religionen) oder das Vorhandensein von eigenen Glaubenserfahrungen zu urteilen. Vielmehr geht es darum, kindertheologisch kompetent zu reflektieren, ob bzw. in welchem Maße z. B. bestimmte Sprachformen als christlich-theologisch beurteilt werden können oder nicht. Dies kann auch ein muslimisches oder atheistisches Kind mit innerer Distanz vollziehen, was sogar hinsichtlich bestimmter Kriterien bewertet werden kann. Nur wer aus dieser klar definierten Reflexionskunst einen normativen Bewertungsmaßstab für die eigene Religiosität ableitet, steht in der Gefahr falscher Vereinnahmung. Nicht ein enger Begriff von Kindertheologie, sondern die Verengung der Wahrheitsfrage führen zu problematischen Konstellationen. Wenn die Kindertheologie hingegen formal und inhaltsbezogen in einem klar umgrenzten Bereich verbleibt, dann steht sie keineswegs in der Gefahr, andere mit christlichen Wahrheitsansprüchen zu überfordern, ebenso wenig wie die Kunst, mathematische Aufgaben zu lösen, über einen kohärenten Wahrheitsanspruch hinausgeht.

3. Die Wahrheitsfähigkeit einer Theologie der Kinder

Alle diese Einwände sind in gewisser Weise berechtigt. Kindertheologie kann so gesehen auch „unwahr“ sein. Aber wie es viele Dinge gibt, die nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz wahr sind, sind Verbesserungen in Richtung einer „wahreren Kindertheologie“ möglich. In meiner Habilitationsschrift habe ich deshalb dafür plädiert, nicht alles, was unter dem Label „Kindertheologie“ präsentiert wird, als solche anzuerkennen. „Kindertheologie“ ist von der Religion oder Spiritualität des Kindes zu unterscheiden und bezeichnet gerade die reflexive Auseinandersetzung mit einer geschichtlichen, gegenwärtigen oder persönlichen Glaubenspraxis – mit dem Zugeständnis, dass es nicht unbedingt die eigene sein muss (zur Kritik von Grümme und Dressler).

Nur wenn durch ein kindliches Artefakt ein Prozess der Verarbeitung und Reflexion nachweisbar wird, ist es sinnvoll, von „Kindertheologie“ zu sprechen. „Formal lässt sich eine solche ‚Meta-Ebene‘ durch Konsistenz, Abstraktion, die Verwendung von Fundamentalkategorien, die Generierung kausaler Systeme und die Integration der Aussagen in kohärente, übergeordnete Systeme erkennen“.[42] In der Bewertung theologischer Kompetenz der Kinder können interne Kriterien wie Logik, Stringenz, Kohärenz, Sprachkompetenz, Angemessenheit, Referenzialität, Relevanz, Abstraktionsniveau, Komplexitätsgrad, Vernetzungsmöglichkeiten und externe Kriterien wie Bezug zu biblischer und theologischer Sprachtradition, Bezug zu Positionen biblischer Wissenschaft und der Bezug zur Vormeinung hilfreich sein (zur Kritik von Schröder).

Theologie will eine abrufbare und tragfähige Reflexion des Glaubens sein. Auch kindertheologische Kompetenz sollte deshalb auf nachhaltigen Ertrag ausgerichtet sein, nur so kann auch die damit verbundene kommunikative Kompetenz (im gesellschaftlichen Diskurs) oder die hermeneutische Kompetenz (bei der persönlichen Lebensbewältigung) wirklich zur Geltung kommen.

Zur Erfassung von kindertheologischen Voraussetzungs- und Resultatkompetenzen (Theologie der Kinder) als auch in der Förderung von Prozesskompetenzen ist der differenzierte Einsatz von bestimmten Methoden erforderlich, ein Bewusstsein zur Bedingtheit der Objektivität des Forschenden ist notwendig.

So kann die pauschal und sicherlich etwas missverständlich so genannte Kinder- bzw. Jugendtheologie tatsächlich als didaktisches Leitbild fungieren, deren Potenziale im religionspädagogischen Bildungsdiskurs noch lange nicht ausgeschöpft sind. Es wäre aber unwahr zu behaupten, dass die Kindertheologie damit alle Kinderäußerungen im Kontext religionspädagogischer Arbeit und alle Dimensionen der Religionspädagogik einschließt.

Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Artikel
  4. Vorwort der Herausgebenden
  5. Editorial
  6. Unterscheiden, was zusammengehört
  7. Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
  8. Gott sei Dank, die Wahrheit
  9. Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
  10. Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
  11. Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
  12. Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
  13. „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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