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Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens

  • Thorsten Knauth EMAIL logo
Published/Copyright: May 1, 2016
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Abstract:

In view of religious plurality, the question of truth in religious education requires dialogic learning. The connection between truth and subject, the emphasis on experience, as well as the relation of truth to practice, are features of a specific modality of truth with regard to religion. Thus, an interconnection of discovery for religion-related dialogic learning is constituted, in which the reasons of truth and the truth claims of different religions can be projected. The separation of possibility conditions of dialogue and the validity bases of propositions remains necessary for the talk about religious truth. Theologically, modesty is crucial with regard to truth claims. From a religious-pedagogical point of view, religious education has to be conceptualized as a place of understanding, in which an exchange of truth claims and the search for truth are fostered within the tension of subjectivation and exclusive validity claims.

1. Herausforderungen der Wahrheitsfrage für den Religionsunterricht

Im Religionskurs eines 9. Jahrgangs frage ich Schüler und Schülerinnen, wann in der Religion die Frage nach Wahrheit wichtig wird. Die Lerngruppe besteht aus christlichen SchülerInnen unterschiedlicher Konfessionen, Jungen und Mädchen mit sunnitisch-muslimischem Hintergrund, alevitischen Jugendlichen wie auch konfessionslosen Schülern. Auch ein Schüler mit buddhistischem Hintergrund gehört dazu. Das Gespräch verläuft angeregt. Zu diesem Thema haben – was mich erstaunt – alle etwas zu sagen. Die Schüler und Schülerinnen nennen ein großes Spektrum an Aspekten: in den Stunden zuvor hat die Gruppe Schöpfungstexte in Bibel und Koran miteinander verglichen. So ist nicht erstaunlich, dass das Gespräch gleich zu Beginn auf die „heiligen Schriften“ Bezug nimmt.

Die Frage nach Wahrheit tauche auf, wenn es um die Texte in Bibel und Koran gehe: ist das wahr, was da geschrieben steht? Bibel und Koran würden oft Unterschiedliches sagen und widersprächen sich, zum Beispiel in dem, was über Jesus erzählt würde. Wer hat Recht – und in diesem Zusammenhang: ist das, was in der Bibel steht, verfälscht worden, so dass nur im Koran steht, was früher auch in der Bibel aufgeschrieben war? Ist es überhaupt wahr, was Religionen glauben: dass Gott die Welt geschaffen hat, dass Gott am Ende die Menschen nach ihren Taten beurteilt und das Leben daher eine Prüfung Gottes ist? Sind die Geschichten von Wundertaten Jesu wahr? Kann nur eine Religion wahr sein? Oder geht es allen Religionen nicht um das Gleiche, so dass alle wahr sein können, auch der Buddhismus, in dem es gar nicht um den Glauben an Gott gehe? Oder besteht die Wahrheit nicht eigentlich darin, dass Menschen sich als Menschen achten, und sind nicht eher Liebe und Mitleid die Prinzipien, die die Religionen wahr sein lassen? Können dann nicht alle Religionen Anteil an der Wahrheit haben? Wer kann eigentlich sagen, was wahr und was nicht wahr ist? Glaube ist sehr persönlich, subjektiv, für den Einzelnen kann etwas wahr sein, was es für den anderen nicht ist. Aber heißt das dann auch, dass jeder im Namen seiner eigenen Wahrheit alles machen kann? Darf man im Namen der eigenen Wahrheit Bomben schmeißen, Menschen töten, in den Krieg ziehen? Oder ist nur wahr, was sich wissenschaftlich beweisen lässt, so dass vielleicht alle Religionen gar nicht wahr sein können?

Gegen Ende der intensiven Diskussionsrunde, in der sich die Schüler und Schülerinnen per Meldekette das Wort erteilen und ich kaum moderierend eingreifen muss, meldet sich noch einmal ein Schüler mit konfessionslosem Hintergrund und versucht seine eigene Bilanz:

„Wahrheit ist ein großes und schwieriges Thema, vor allem, wenn es um Religion geht, kann es schnell zum Streit kommen. Das ist jetzt bei uns nicht so gewesen, weil wir uns schon ganz gut kennen. Aber sonst würde ich es eher nicht besprechen.“

Das Beispiel aus dem Unterricht verdeutlicht, vor welchen Herausforderungen Religionsunterricht steht, wenn es im Kontext einer religiös heterogen zusammengesetzten Lerngruppe um die Wahrheitsfrage geht: in sichtbarer Gegenwart von Schülern und Schülerinnen unterschiedlichen religiösen Hintergrundes wird die Frage nach Wahrheit selbstverständlich in einen mehrperspektivischen religiösen Bezugshorizont gestellt und relational bzw. vergleichend erörtert; von Anfang an werden auf einer Sachebene schwierige und in der Unterrichtskommunikation auch schwer entscheidbare religionstheologische, erkenntnistheoretische und schrifthermeneutische Fragen aufgeworfen; und im Blick auf die Beziehungsebene steht die Frage im Raum, wie denn unterschiedliche Ansprüche und Auffassungen kommuniziert werden können, ohne dass die Gruppe im Streit auseinander geht.

Der Schüler, der es eher vorziehen würde, das Thema wegen drohender Konflikte zu vermeiden, thematisiert einen Pol des Spannungsfeldes, in dem die Wahrheitsfrage in interreligiösen Lernprozessen angesiedelt ist: auf Grund wechselseitig bestehender exklusiver Geltungsansprüche droht ein Scheitern der Kommunikation.

Aber auch der andere Pol ist im Gespräch der Lerngruppe präsent: wenn nämlich die Wahrheitsansprüche so stark subjektiviert werden, dass ein „Streit um die Wahrheit“ nicht mehr als lohnenswert erscheint, weil jede/r seine/ihre eigene Wahrheit hat und für sich selbst entscheiden sollte, was er/sie glaubt und für wahr erachtet.

Es scheint also, als führe das Thema Wahrheit das interreligiöse Lernen in ein kommunikatives Dilemma zwischen exklusiven Wahrheitsansprüchen und radikaler Subjektivierung der Wahrheitsfrage: „Nur meine Religion“ oder „jedem seine Wahrheit“ – diese Positionen sind in religiös heterogenen Lerngruppen sehr häufig gleichermaßen vertreten und schaffen eine herausfordernde Voraussetzung für interreligiöses Lernen, das mehr sein möchte als Informationsvermittlung über Religionen oder wechselseitiger Austausch über religiöse Fakten ohne Bezug zur persönlichen Dimension.

Erscheint aus der Perspektive der exklusiven Wahrheitsbesitzer unter den Jugendlichen eine Kommunikation auf Augenhöhe mit den religiös Anderen kaum möglich, besteht bei den relativierenden Subjektivisten die Schwierigkeit, dass religiöse Differenzen zum Anlass genommen werden können, den Geltungsansprüchen der Anderen durch Rückzug in eine unverbindliche formale Toleranz zu entkommen.

Im Folgenden möchte ich darlegen, dass diese kommunikative Signatur der Wahrheitsfrage in interreligiösen Lernprozessen weder bedeuten muss, die Wahrheitsfrage in religionsbezogenen Dialogen zu vermeiden, noch dazu führen sollte, auf interreligiöse Kommunikation und Begegnung im Religionsunterricht zu verzichten.

Dazu möchte ich zunächst erläutern, dass Religionsunterricht unter den gegebenen Bedingungen religiöser Pluralität eine hermeneutische Ausgangsvoraussetzung für religiöses Lernen schafft, die im interreligiösen Lernen besonders deutlich wird, aber über das interreligiöse Lernen hinaus für alle religionsbezogenen Lernprozesse anzusetzen ist.

In einem zweiten Schritt möchte ich einige Merkmale herausarbeiten, die mir für das Verhältnis von Wahrheit und Religionen sowie im Hinblick auf den interreligiösen Dialog über Wahrheit als bedeutsam erscheinen.

Diese Überlegungen führen dann in einem dritten Schritt zu Konsequenzen für interreligiöses Lernen im Religionsunterricht.

2. Religiöses Lernen in der Pluralität:

Von der Hermeneutik des gegebenen Einverständnisses zur Hermeneutik des

zu suchenden Einverständnisses

Zu den Ausgangsbedingungen von Religionsunterricht angesichts religiöser Pluralität gehört die Vielfalt biographischer und religiöser Hintergründe, unterschiedlicher Nähen und Distanzen zu überlieferten Formen des Glaubens wie auch hochgradig individueller Stile von Religiosität. Die Aufgabe von Religionspädagogik besteht u. a. darin, eine Kommunikation über diese Vielfalt von Religiositätsstilen und Glaubensformen zu ermöglichen[1], die ja auch von unterschiedlichen Voraussetzungen des Verstehens bestimmt sind. Wenn in diesem Kommunikationsprozess auch der Eigensinn von Religion in ihren überlieferten Gestalten eine Rolle spielen soll, verändert sich für elementare religiöse Lernprozesse die Ausgangsvoraussetzung auf eine entscheidende Weise. Mit Blick auf diese Situation hat Karl-Ernst Nipkow davon gesprochen, dass sich religiöse Kommunikationsprozesse nicht mehr im Medium einer „Hermeneutik des schon gegebenen Einverständnisses“[2] vollziehen, weil eine gemeinsam geteilte Grundlage des Verstehens für das Erschließen von Religion fehlt.

Diese Veränderung in den hermeneutischen Ausgangsbedingungen ist eine Herausforderung für die klassischen Modelle, in denen religiöses Lernen in einer gleichsam elliptischen Struktur der wechselseitigen Erschließung von Lebenswelt und Tradition verstanden wird. Denn es ist gerade der fehlende gemeinsame hermeneutische Horizont und die Vielfalt von Verstehensvoraussetzungen, durch den die elliptische Struktur einer wechselseitigen Erschließung aufgebrochen wird. Die wilde Buntheit von Hintergründen, Einstellungen und Deutungsmustern, die sich kreuzenden und überlappenden individuellen hermeneutischen Horizonte sind mit der didaktischen Figur wechselseitiger Erschließung nicht mehr abzubilden. Vor diesem Hintergrund muss die Ausgangsthese des Elementarisierungsansatzes unterstrichen werden, dass die „Lernmöglichkeiten und Orientierungsbedürfnisse der Kinder und Jugendlichen (…) von Anfang an in ihrer didaktisch konstitutiven Bedeutung wahrgenommen werden müssen.“[3]

Aber nicht nur auf Seiten der lernenden Subjekte verändert die Pluralisierung die Ausgangsbedingungen didaktischen Handelns. Auch im Blick auf die überlieferten religiösen Gestalten wird die Annahme einer homogenen Sinnwelt der Vielfalt von Deutungsperspektiven und Geltungsansprüchen nicht gerecht.

Die Pluralisierung von Wahrheitsperspektiven gilt bereits in der intrareligiösen Binnenperspektive einer religiösen Tradition. Nimmt man allein die christliche Tradition als Beispiel, wird deutlich, wie viele perspektivisch gefärbte Geltungsansprüche, Auslegungen und daraus abgeleitete religiöse Praxen sich bereits aus dem für Christen identitätsbestimmenden Satz ergeben, dass Jesus der Christus sei. Im Blick auf interreligiöse Pluralität ist ferner dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die unterschiedlichen religiösen Traditionen nicht nur auf vielfältige Weise eigene Geltungsansprüche formulieren, sondern zum Teil die Ansprüche anderer Religionen bestreiten oder sie auf eine spezifische Weise interpretieren.

Sowohl auf der Seite der Lernenden als auch mit Blick auf die zu erschließenden Gegenstände, die religiösen Traditionen, lässt sich Wahrheit demnach nur noch im vielstimmigen Plural von Perspektiven und Geltungsansprüchen buchstabieren. An die Stelle der Ellipse tritt ein Prisma[4] als Figur für die Struktur elementarer Lernprozesse, das den komplexen Prozess der Reflexion, Aneignung und Entwicklung eines eigenen Glaubens[5] in der Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven, zu denen auch individuell unterschiedliche Nähen und Distanzen bestehen, auszudrücken vermag. Die damit verbundene religionspädagogische Herausforderung hat Karl Ernst Nipkow als „Hermeneutik des zu suchenden Einverständnisses“[6] bezeichnet und damit die Aufgabe formuliert, eine „pluralisierende Hermeneutik und Didaktik“[7] zu entwickeln. Im Blick auf den religionspädagogischen Umgang mit der Wahrheitsfrage ist damit eine entscheidende Bedingung benannt: Die Auseinandersetzung mit Wahrheit ist als kommunikativer Prozess zu gestalten, in dem man sich nicht eines gegebenen Einverständnisses versichert, sondern in Anerkennung unterschiedlicher Voraussetzungen und Geltungsansprüche in einer offenen Bewegung gemeinsam nach Wahrheit sucht.

Es ist außerdem kritisch zu fragen, ob dieser Prozess mit dem Attribut interreligiös zutreffend bezeichnet ist, das zu sehr ein Bild evoziert, wonach der Austausch zwischen klar markierten Positionen und abgesteckten Grenzen zwischen Religionen stattfinde. Zutreffender ist jedoch davon auszugehen, dass auf Seiten der Subjekte stärker individuelle Perspektiven vorzufinden sind, die weniger auf Sinnwelten innerhalb klar umrissener religiöser Grenzen abgebildet werden können als vielmehr hybride und fragmentarischer Gebilde sind. Aus diesem Grund scheint mir der Begriff eines religionsbezogenen dialogischen Lernens die Aufgabe angemessener zu charakterisieren. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass es mit Bezug auf seinen Gegenstand sowohl darum geht, die Vielfalt subjektiver Sichten auf Religion wahrzunehmen als auch die semantischen Gehalte religiöser Traditionen zu berücksichtigen und in die Form eines dialogischen Austausches zu bringen.

3. Religion und Wahrheit im Dialog. Überlegungen zum Wahrheitsbegriff angesichts religiöser Pluralität

In diesem Abschnitt beleuchte ich das Verhältnis von Religion, Wahrheit und Dialog in zwei Schritten. Ich umreiße zunächst drei Merkmale eines religionsbezogenen Wahrheitsverständnisses, von denen ich in einer vorsichtigen Generalisierung behaupten möchte, dass sie auch in interreligiöser Perspektive zutreffende Bestimmungen enthalten. Damit soll Wahrheit keineswegs in einer vereinnahmenden Bewegung vorbestimmt werden. Mir geht es vielmehr um den Gedanken, dass die religiösen bzw. religionsbezogenen Perspektiven auf Wahrheit möglicher Weise Elemente gemeinsam haben, die es als gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem spezifischen Profil bzw. einer Modalität der religionsbezogenen Wahrheitsfrage zu sprechen.

(1) Wahrheit und Subjektbezug

Wahrheit aus der Perspektive von Religionen – so meine erste These – geht es nicht um die Verifizierung oder Falsifizierung von Informationen; sie ist daher auch nicht in einem primär kognitiven Sinne als Übereinstimmung des Verstandes bzw. der Vernunft mit Tatsachen der Realität zu verstehen. Sie ist von Anfang an perspektivisch auf das Subjekt gerichtet, d. h. sie ist als Beziehungsgeschehen zu verstehen, das nicht etwa nur besonders ausgegrenzte Teilbereiche des Subjekts (Intellekt, Emotion, Seele, Körper) betrifft, sondern sich auf die gesamte Person und umfassend auf das Leben der Person bezieht. Wahrheit gibt es daher nicht an und für sich, sondern in ihrer spezifischen Gerichtetheit auf das Subjekt. Wahrheit ist Wahrheit in Beziehung auf das Subjekt und Deutungsperspektive für das gesamte Leben. Die subjektive Perspektivierung der Wahrheitsfrage führt im Bereich von Religion zu einer Konvergenz von Wahrheit und Wahrheitsgewissheit. Außerhalb ihrer subjektiven Perspektivierung ist Wahrheit nicht feststellbar. Sie hat kein valides Kriterium der Verifikation, sondern allein die individuelle oder gemeinschaftlich geteilte Erfahrung; ihre Ausdrucksform ist nicht die objektivierte Formel, sondern das subjektiv wahrhaftig gesprochene Bekenntnis – mit anderen Worten: die konfessorische Behauptung erfahrener Wahrheit.

(2) Wahrheit als Erfahrungszusammenhang und Begegnung

Religiöse Wahrheitsgewissheit verdankt sich einem „Erfahrungszusammenhang“[8]. Was Hans-Martin Barth für den Bereich christlicher Wahrheit formuliert, trifft auch für andere Religionen zu. Das Selbstverständnis von Religionen wird durch Schlüsselerfahrungen seiner Stifter konstituiert; diese formieren sich zu einem Erfahrungszusammenhang, weil sie von anderen wiederholt und nachvollzogen werden können und als Erfahrung von Evidenz das Leben ausrichten. Glaubensaussagen, Regeln und Formeln sind geronnene Ausdrucksform von Evidenzerfahrungen. Sie bleiben abstrakt und starr, wenn sie nicht auf den vitalen Erfahrungszusammenhang bezogen und auf diese Weise mit (Ex)Leben gefüllt werden. Wahrheit ist kein Formelwissen, sondern subjektiv erschlossenes Erfahrungswissen, das durch Wiederholung, individuellem und gemeinschaftlichem Nachvollzug stabilisiert, aber auch durch eigene Erfahrung und Deutung erneuert werden kann. Wahrheit als Erfahrungszusammenhang gründet sich gleichfalls auf Begegnungen, in denen sie sich erschließt bzw. erschlossen und weitergegeben wird.

(3) Wahrheit und Praxis

So wie religiöse Wahrheit in einem Erfahrungszusammenhang gründet, folgt aus ihr auch eine in ihrem Licht interpretierte und begründete Praxis. Die erfahrene Wahrheit geht in dieser Praxis nicht auf und gibt auch keine eindeutigen Kriterien vor, die Praxis anleiten können. Die Praxis aber steht in einem hermeneutischen Zusammenhang mit der Wahrheitserfahrung, so dass von einer Hermeneutik der Praxis gesprochen werden kann, die sich von spezifischen Axiomen leiten lässt. Für den christlichen Glauben hat Hans-Martin Barth folgende axiomatischen Prinzipien christlicher Wahrheit formuliert, die sich für ihn „auf der Basis der Heiligen Schrift und in der Gemeinschaft der Glaubenden“ ergeben: „-- Gnade vor Recht, – Freiheit vor knechtender Abhängigkeit, – Liebe vor Haß, – Heil vor Unheil; – Leben vor Tod; – Beziehung vor Beziehungslosigkeit, Verantwortung vor Verantwortungslosigkeit…“[9]. Barth betont den exemplarischen Charakter dieser Aufzählung und schlägt zugleich vor, den „Begründungszusammenhang der genannten Axiome“ (…) „in der Begegnung mit außerchristlichen Optionen“ und „durch diese Begegnung zugleich in neue Kontexte hinein“[10] zu entfalten.

Ebenso gilt es aber auch zu eruieren, welche praktischen Axiome sich aus den Wahrheitsansprüchen der anderen Religionen ergeben, welche Überlappungen und Differenzen festzustellen sind.

Wahrheit im Dialog

Die oben genannten Merkmale versuchen – wie gesagt – ein gemeinsames Profil der Wahrheitsfrage im Kontext von Religionen zu beschreiben: Dass Wahrheit im Blick auf Religionen subjektiv gerichtet, in Erfahrung gegründet und auf eine Praxis bezogen ist, könnte dann als Voraussetzung für die Konstitution eines Entdeckungszusammenhangs gelten, in den schließlich auch die spezifischen Begründungszusammenhänge der Wahrheitsansprüche von Religionen eingespielt werden.

Dass dieser Entdeckungszusammenhang nur als dialogischer Austausch auf Augenhöhe, also unter der Voraussetzung gleichberechtigter Geltungsansprüche möglich ist, ergibt sich nicht zuletzt auch aus dem gegenwärtigen Stand der Diskussion über eine Theologie der Religionen.[11] Das Verdienst der herfür einschlägigen Pluralistischen Theologie der Religionen ist zweifellos, anhand der tripolaren Unterscheidung von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus theologische Begründungsmuster für das Verhältnis zu anderen Religionen und daraus resultierende Haltungen der Religionenbegegnung herausgearbeitet zu haben.[12] Mit einer Haltung beispielsweise, die für die eigene Religion den ausschließlichen Anspruch auf Heil erhebt, lässt sich schlecht ein Dialog auf Augenhöhe führen, in dem die Wahrheitsansprüche einer anderen Religion als gleichberechtigt anerkannt sind. Zugleich werden aber auch Aporien des Versuches deutlich, eine theologische Begründung der Verankerung von Religionen in einer universalen Transzendenz auszuarbeiten, weil sie von Voraussetzungen ausgeht, die außerhalb oder oberhalb des Selbstverständnisses konkreter geschichtlicher Religionen liegen[13]. Festzuhalten bleibt als Ertrag dieser Diskussionen jedoch, dass es in jeder großen traditionsreichen Religion auch theologische Elemente bzw. religiöse Motive der Selbstrelativierung, Selbstrücknahme von absoluten und exklusiven Heilsansprüchen, gibt, die sich aus dem Erfahrungswissen einer nicht einholbaren und den Geltungsbereich der eigenen Religion überschreitenden Transzendenz speisen[14]. Ein wichtiges Ergebnis ist ebenfalls die theologische Absage an exklusive Wahrheitsansprüche und der so genannte „dialogische Imperativ“[15] der Religionenbegegnung. Ob dieser Dialog unter dem Vorzeichen struktureller Familienähnlichkeit im Sinne einer „Heilspartnerschaft der Religionen“[16], als ein auf Befreiung zentriertes (soteriozentrisches) Projekt im Sinne einer Hermeneutik der Praxis[17] oder unter Verzicht auf die vorgängige Formulierung von Gemeinsamkeiten zu führen ist[18], bleibt umstritten.

Offen ist ebenfalls, ob als Voraussetzung für den Dialog ein „mutualer Inklusivismus“[19] von Religionen anzunehmen ist, also die wechselseitige Unterstellung, dass jede Religion für sich einen Geltungsanspruch auf die unüberbietbare Heilsbedeutung der eigenen religiösen Wahrheit erhebt, die auch die religiösen Geltungsansprüche anderer Religionen bereits enthält. Oder lassen sich religiöse Heilsansprüche von Religionen – wie Paul F. Knitter[20] vorschlägt – von vorne herein als perspektivisch begrenzte Statements einer unbedingten, aber eben nicht universalisierbaren Bindung an das als wahr Erkannte interpretieren?

Dessen ungeachtet gilt für den dialogischen Imperativ jedoch, dass wechselseitige Anerkennung, die den Dialog ermöglicht, nicht als Prinzip auf die Geltung von Aussagen übertragen werden kann. Die Trennung von Möglichkeitsbedingungen des Dialogs und Geltungsgrundlagen von Aussagen bleibt für das Gespräch über religiöse Wahrheit unabdingbar. Die Geltung von Aussagen einer Religion kann nicht ohne weiteres von der Zustimmung der Gesprächspartner anderer religiöser Traditionen abhängig gemacht werden. Aber zugleich gilt der zwanglose Zwang des dialogischen Imperativs, dass die eigenen theologischen Sätze im Lichte der Aussagen anderer Religionen zu prüfen und gegebenenfalls mit Bezug auf die in ihnen formulierten Ansprüche zu reformulieren sind.

Damit ergibt sich für den religionsbezogenen Dialog eine doppelte Aufgabe: zum einen sind in der je eigenen religiösen Tradition Lehrinhalte im Lichte religiöser Pluralität zu rekonstruieren und danach zu befragen, welchen Beitrag sie zur Deutung von religiöser Vielfalt und zur dialogischen Öffnung auf Andere leisten. Eine wichtige Zukunftsaufgabe der Religionenbegegnung besteht darin, dass das Verhältnis von Wahrheit und Dialog gleichsam aus dem inneren Selbstverständnis der Religionen selbst begründet wird. Komplementär zu dieser Aufgabe geht es darum, die dialogische Begegnung von Angehörigen unterschiedlicher Religionen als einen Entdeckungszusammenhang für die ergebnisoffene Suche nach Wahrheit zu konstruieren – damit ist die Aufgabe angesprochen, im mehrperspektivischen Dialog über zentrale Themen und Texte dialogische Theologie im Vollzug zu erarbeiten[21].

4. Dialogisches religiöses Lernen und die Wahrheitsfrage: Bescheidenheit, Bekenntnis und der Religionsunterricht als Raum der Verständigung

Die Herausforderung des Umgangs mit der Wahrheitsfrage im Religionsunterricht liegt sicher in der Komplexität des Themas. Aber dieser Komplexität kann nicht ausgewichen werden, denn sie ist eine Signatur von Wahrheit angesichts von Pluralität. Mehr noch besteht die Herausforderung aber im Umgang mit Positionen einer Verweigerung, diese Komplexität wahrzunehmen und anzuerkennen. Die Versuchung zur Vereinfachung ist der größte Gegenspieler der Wahrheitsfrage. Weder die Behauptung einer Gleichgültigkeit aller religiösen Wahrheitsansprüche noch der vollmundige Anspruch auf exklusiven Wahrheitsbesitz befördert den Dialog, der als Medium der Wahrheitssuche auch im Religionsunterricht unabdingbar ist.

Vor diesem Hintergrund ist für einen angemessenen Umgang mit der Wahrheitsfrage angesichts religiöser Pluralität auch im Religionsunterricht eine doppelte Aufgabe zu formulieren.

Aus theologischer Perspektive ist zur Bescheidenheit und Zurückhaltung im Blick auf religiöse Wahrheitsansprüche zu raten.

Aus religionspädagogischer Perspektive sollte Religionsunterricht als Raum der Verständigung konzipiert werden, in dem der Austausch über religiöse Wahrheitsansprüche und die Suche nach Wahrheit im Spannungsfeld von Subjektivierung und exklusiven Geltungsansprüchen nicht zum Erliegen kommt. Beide Aufgaben möchte ich abschließend kurz erläutern:

Bescheidenheit und Bekenntnis

Wer die Religionsgeschichte einigermaßen kennt, weiß, dass die Summe der Irrtümer, Verfehlungen und Verletzungen groß ist, die im Namen der Wahrheit geschahen. Allein dieser Hinweis macht Bescheidenheit als ein Gebot religiöser Selbstkritik erforderlich. Aber eine Haltung persönlicher Selbstrücknahme in Wahrheitsfragen kann auch als Resultat der Erfahrungen in interreligiösen Begegnungen entstehen. Wer die persönliche Integrität und Wahrhaftigkeit von Menschen anderen religiösen Glaubens selbst erfahren hat, wer die Schönheit ihrer aufrichtigen Hingabe an die Wahrheit ihres Glaubens erleben konnte und in der persönlichen Begegnung mitbekam, wie sie aus der erfahrenen Wahrheit ihres Glaubens leben, ist weit entfernt davon, gleichsam die Backen aufzublasen, um die eigene absolute Wahrheit, Abgeschlossenheit und Einzigartigkeit der eigenen Wahrheit vollmundig zu reklamieren. Gleiches gilt auch im Blick auf die Deutungen von Heranwachsenden, die erst noch im Begriff sind, ihren eigenen Glauben in kreativer Deutung ihrer Lebensverhältnisse zu entwickeln. Auch hier gebietet der Respekt vor den tastenden und experimentellen Versuchen ihrer existenziellen Selbstverortung Zurückhaltung gegenüber Bevormundungen aus dem Geist der Wahrheitsgewissheit.

Bescheidenheit ist aber auch eine Einsicht aus der hermeneutischen Reflexion der eigenen, in meinem Fall der jüdisch-christlichen Tradition: in den biblischen Texten gibt es viele Bilder von der Unerkennbarkeit und entrückten Ferne Gottes. Diese Bilder wollen deutlich machen: der/die sich zu erkennen gibt, ist zugleich der/die, der/die sich verbirgt und in seiner/ihrer Fremdheit sich dem aneignenden Zugriff entzieht. Fast scheint es, als teile Gott sich immer unter dem doppelten Aspekt von Nähe und Beziehung und Ferne und Distanz mit. Gott ist anwesend und offenbar wie auch abwesend und verborgen. Die Paradoxie dieser Erfahrung zeigt sich ebenfalls in Jesu Erfahrung am Kreuz. Sie ist ein Hinweis darauf, dass die Wahrheit sich mitteilt und schenkt, aber auch nie besessen werden kann. Viel mehr als ein Haben ist sie ein Sein und ein Werden. Sie ist vollem menschlichen Erkennen entzogen, weil auch Gott sich selbst in seiner/ihrer Präsenz entzogen ist: in die Zukunft wie auch in die Vergangenheit. Die Entzogenheit Gottes gilt nicht nur zeitlich, sondern auch räumlich-kontextuell. Gott entzieht sich unserem Besitzanspruch in andere raum-zeitliche Bedeutungs-Kontexte. Er/sie teilt sich mit, entzieht sich, teilt sich mit in einem dynamischen Wechselspiel aus Entäußerung und Selbstrücknahme. Christlich-theologisch äußert sich diese Bescheidenheit zum Beispiel in dem Versuch zu einer bescheidenen Christologie. Nach wie vor überzeugend ist m. E. der Ansatz von Paul F. Knitter, der die exklusiven christologischen Aussagen der Bibel im Sinne von Trajektorien als Bekenntnisperspektiven interpretiert, die kontextuell bedingt sind.[22] Die vermeintlich exklusivistische Sprache z. B. in Sätzen aus dem Johannesevangelium ist als Bekenntnissprache zu deuten, die gewissermaßen als Sprache der Liebe von der unbedingten Hingabe und Bindung an Jesus Christus als dem tragenden Grund des Lebens Zeugnis ablegt.

Religionsunterricht als Raum der Verständigung

In der Realität des Religionsunterrichts zeigt sich häufig, dass die Bedingungen für die Thematisierung der Wahrheitsfrage ungünstig sind. Die Unterrichtsarbeit zieht sich auf das vermeintlich sichere Gelände der Behandlung religiösen Faktenwissens zurück. Dass die Verreligionskundlichung des religiösen Lernens auch vor dem konfessionellen Religionsunterricht nicht Halt macht, zeigen empirische Untersuchungen.[23] Ebenso werden aber auch in empirischen Rekonstruktionen gelingenden dialogischen Unterrichtsbedingungen deutlich, unter denen ein offener und in rückhaltloser Subjektivität geführter Austausch gelingen kann.[24] Diese Erfahrungen deuten auf die Notwendigkeit hin, den Religionsunterricht stärker als theologische Werkstatt, als Labor für die experimentelle Suche nach tragfähigen Deutungen zu verstehen. Religionsunterricht ist dann weniger ein Raum der Vermittlung normativen Wissens als vielmehr ein „Raum für die Verständigung“[25], in dem „individuelle religiöse Selbständigkeit“[26] durch die wechselseitige Neugier auf die Weltsichten und Deutungsweisen der anderen gefördert wird. Dies setzt voraus, dass es in diesem Raum der Verständigung auch die Möglichkeit gibt, riskante und unabgesicherte, provokative und experimentelle Deutungen zu wagen, ohne beschämt oder auf diese Deutungen festgelegt zu werden.

In diesen diskursiven Raum können, ja sollten auch die normativen Bestände von religiösen Traditionen eingebracht werden. Religionsbezogenes dialogisches Lernen ist Arbeit am Lebensglauben[27] im Horizont des semantischen Potentials „irgendeiner der großen Weltreligionen“[28]. Es geht also um nichts Geringeres als darum, im Religionsunterricht die Liebe zur Wahrheitssuche zu kultivieren, indem man beginnt, einander mitzuteilen, was man liebt. Dass dies in Zeiten eines an Outcome und Verwertbarkeit orientierten neoliberalen Pragmatismus als realitätswidrige Forderung anmutet, spricht nicht gegen die Notwendigkeit der Aufgabe. Vielmehr scheint es gerade jetzt geboten, durch konsequenten Rückgang auf den Grund der (religionsbezogenen) Sache jene Gehalte freizulegen, die den Lauf einer alternativlos gewordenen Wirklichkeit stören können. Eine würdige Beschreibung der Aufgabe von Religionsunterricht ist, dass er ein Lernfeld eröffnen sollte, auf dem Raum geschaffen wird für das Gespräch über verdrängte Fragen. Die Frage nach Wahrheit gehört unbedingt dazu.

Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Titelseiten
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  5. Editorial
  6. Unterscheiden, was zusammengehört
  7. Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
  8. Gott sei Dank, die Wahrheit
  9. Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
  10. Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
  11. Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
  12. Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
  13. „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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