Abstract:
The article discusses arguments in favour and against the necessity and utility of truth-seeking. It starts with Nietzsche's statement that „truth at any price“ has been the reason for the decline of Christianity and adds post-modern perspectives. It seems that in a postmodern time, Christian religious teaching could and should focus on different topics and not stress the dangerous topic of truth. Surprisingly, however, in the post-modern discourse Michel Foucault rediscovered the importance of truth and described the connection between Christianity and parrhesia. The article pleads for the positive role truth-seeking and truth telling can play in Christian religious education.
Ein Dank an, ein Plädoyer für die Wahrheit erscheint heute vielleicht mehr denn je fehl am Platze. Eine Lizenz zum Lügen – ist es nicht dies, was wir alle brauchen? Ein Recht, nicht jedem alles zu sagen und manchmal vielleicht sogar bewusst die Unwahrheit zu sagen. Sollten Grundschüler nicht die Freiheit haben, nicht unbedingt wahrheitsgemäß zu antworten, wenn der Lehrer vor versammelter Klasse jeden Montag im Stuhlkreis fragt, wie denn ihr Wochenende war. Oder: Wie steht es mit dem Recht und vielleicht sogar der Pflicht als Pädagogen, Kinder vor Wahrheiten zu schützen, die sie wahrscheinlich nicht ertragen können? Soll man als Lehrer etwa schon in der Grundschule damit anfangen, Wundergeschichten zu entmythologisieren? Was ist von dem Recht zu halten, Jugendliche auf dem Weg ihres eigenen Denkens zu bestärken, auch wenn wir wissen, dass dieses Denken auf falschen Annahmen beruht. Und schließlich: Haben nicht Kinder und Jugendliche, hat nicht jeder Mensch ein Recht auf ein Privatleben mit kleinen Geheimnissen, die nicht jeder zu wissen braucht? Der Angst vor dem Wahrheitstotalitarismus, vor dem universalen Ausspionieren und Enthüllen, hat Jonathan Franzen in seinem neuen Roman „Purity“ (dt. „Unschuld“) ausführlich Ausdruck verliehen. Der männliche Held des Romans, Andreas Wolf war zunächst Oppositioneller in der DDR. Jetzt betreibt er von Bolivien aus im Internet eine Enthüllungsplattform, das Sunlight Project. Es geht ihm darum, in umfassender Weise Geheimnisse zu enthüllen, was letztlich zur totalen Überwachung jedes Fehltritts, jeder unkorrekten Bemerkung führt. Das Internet realisiert, was die Stasi nicht geschafft hat. Wäre es nicht ein vorrangiges Ziel der Pädagogik heute, vor dem Wahrheitstotalitarismus des World Wide Web zu warnen? Steht Gott nicht eher für das Geheimnis, das Nichtwissen, das Dunkel, den Schutz vor allzu grellem Licht?
Wahrheit mit Gott affirmativ zusammenzubringen, wirkt seit Nietzsche zudem unzeitgemäß und fragwürdig. Frühere Zeiten identifizierten Gott und die Wahrheit: Plato, Augustinus, das Johannesevangelium. Friedrich Nietzsche resümiert demgegenüber nicht ohne Grund die Entwicklung der Neuzeit dahingehend, dass der christliche Gott an der christlichen Tugend des unbedingten Willens zur Wahrheit zugrunde gegangen sei. „Man sieht, waseigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis“,[1] schreibt Nietzsche in „Die fröhliche Wissenschaft“. Es war die moderne Naturwissenschaft, die den Glauben an die wortwörtliche Wahrheit des biblischen Schöpfungsberichts, an die meisten Wunder und vielfach auch an die Lehre vom Jenseits zerstört hat, es war der moderne historisch-kritische Zugriff, der deutlich machte, dass vieles in der Bibel historisch unwahrscheinlich, ja eindeutig fiktiv ist. Es war die Philosophie, die zeigte, dass die Gottesbeweise nicht als Beweise im strengen Sinn gelten können und es waren Soziologie und Psychologie, die die menschlich-allzu menschlichen Entstehensbedingungen des Glaubens beschrieben haben. Dies führt zu einer ersten Frage:
Hat der christliche Glaube, hat Religionspädagogik nicht alles Interesse daran, den unbedingten Willen zur Wahrheit abzumildern, auf die Lückenhaftigkeit und Unsicherheit auch des wissenschaftlichen Wissens hinzuweisen und dann vielleicht sogar die Wissenschaft und den unbedingten Willen zur Wahrheit zu überwinden?
Nietzsche beschreibt die Wissenschaft als Form religiösen Glaubens: „Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andere Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ‚andere Welt‘ bejaht, wie? Muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsere Welt – verneinen? … Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brand nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch der Glaube Plato‘s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist …“[2]. Nietzsche stellt die Frage nach dem Sinn dieses unbedingten Willens zur Wahrheit. In der „Genealogie der Moral“ schreibt er hierzu: „Und hier rühre ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine unbekannten Freunde (– denn noch weiss ich von keinem Freunde): welchen Sinn hätte unser ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst als Problem zum Bewusstsein gekommen wäre?“[3] Hiermit vertiefen sich die Fragen, die wir heute stellen: Ist der unbedingte Wille zur Wahrheit nicht lebensfeindlich? Führt er nicht zu gewalttätigen Konflikten von Fundamentalisten, die keine Kompromisse machen, weil man über die Wahrheit bekanntlich nicht verhandeln kann? Beruht der unbedingte Wille zur Wahrheit nicht auf Täuschung, weil wir die Wahrheit in allen wichtigen Fragen ohnehin nicht erfassen können? Wäre nicht eine die Wahrheitsfrage sistierende Theologie eine bessere Grundlage für eine lebensfördernde und tolerante Religion, die dann ja auch viel leichter einer pluralistischen Gesellschaft vermittelt werden kann? Bieten sich hier nicht große Chancen, mit oder – aus Rücksicht auf die Kollegen vielleicht besser – ohne Kritik der wissenschaftlichen Weltsicht[4], Religionsunterricht als Kunst zu verstehen, als gemeinsame Poesie, als Feier des Lebens ohne Wahrheitsansprüche, die mit anderen in Konflikt geraten könnten? Auch Nietzsche beschreibt gelegentlich solche Formen von Religion: „Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann.“[5] Sollte in diese Richtung der Weg gehen? Hat sich de facto der Religionsunterricht nicht vielerorts bereits in diese Richtung entwickelt, wenn man an die Vielzahl nebeneinander gestellter christlicher, islamischer, buddhistischer, philosophischer, sozialwissenschaftlicher und anderer Sinnangebote denkt, die manchmal ohne Stellungnahme des Lehrers und ohne Diskussion der Wahrheitsfrage vermittelt werden?
Dieser Tendenz scheint ein neuer Trend entgegenzustehen. Nachdem die amerikanische Postmoderne mit Autoren wie Richard Rorty und Paul de Man als wahrheitskritisch rezipiert wurde, zeichnet sich in der gegenwärtigen philosophischen Szene ab, dass eine neue Konjunktur realistischer und die Wahrheit betonender Positionen zu beobachten ist. Konstruktivismus und Relativismus sind bei diesen sich neu formierenden Positionen die typischerweise attackierten Gegner. Zu den neuen Realisten gehören Autoren wie Paul Boghossian[6], Armen Avanessian[7] und Maurizio Ferrari[8]. In dem von Markus Gabriel herausgegebenen Suhrkamp-Sammelband „Der neue Realismus“ finden sich neben Boghossian auch Hilary Putnam, Umberto Eco und John Searle, die alle in ihrem Spätwerk eine gewisse realistische Wendung erlebt haben.[9] Ebenfalls in dieser Bewegung zu nennen ist das späte Werk „Truth and Truthfulness“ von Bernard Williams[10]. Bei einigen dieser Autoren ist ein pointiert ethisches Interesse vorhanden. So beschreibt Williams etwa, dass unterdrückte Minderheiten, wenn sie den Wahrheitsbegriff selbst als von den Herrschenden aufgezwungen ablehnen, nicht mehr viel mehr als physische Gewalt in der Auseinandersetzung mit ihren Unterdrückern haben. Bei dem New Yorker Philosophen Boghossian, der in gewisser Weise die Leitfigur des neuen Realismus ist, spielt implizit seine armenische Herkunft und die Leugnung des Völkermords an den Armeniern eine Rolle.[11] Die meisten Autoren des neuen Realismus sehen sich freilich vor allem als Verteidiger des common sense, der Autorität der Wissenschaften und als Kritiker der von ihnen als nicht überzeugend abgewiesenen Argumente des radikalen Konstruktivismus und Relativismus.
Der neue Realismus passt gut in einige Tendenzen der Gegenwart, sich von der Übermacht des Fiktiven und der Simulation in den Medien ab- und einem Realitätshunger zuzuwenden. David Shields Manifest „Reality Hunger“[12] spricht die Sehnsucht nach erlebter Realität ebenso aus wie der vor allem in Deutschland große Erfolg des Reality TV. Dennoch führt der neue Realismus bislang nicht zentral zu neuen oder erneuerten religiösen oder existentiellen Wahrheitsbehauptungen. Während der neue Realismus alltägliche und wissenschaftliche common sense Behauptungen rechtfertigt, bietet er für religiöse Wahrheit bis dato wenig an. Grundlegende Alltagswahrheiten wie, dass es heute in Hamburg von morgens bis abends geregnet hat, Geschichtswahrheiten wie dass Friedrich Nietzsche am 25. August 1900 in Weimar gestorben ist oder grundlegende naturwissenschaftliche Sätze wie, dass H2O unter bestimmten Randbedingungen bei ca. 100 Grad Celsius vom flüssigen in den gasförmigen Zustand übergeht, werden in der Tat vom neuen Realismus mit guten Gründen verteidigt. Die Theologie hat mit solchen Sätzen hingegen wenig zu tun. Deswegen könnte der neue Realismus in letzter Instanz wieder zu einer ähnlichen Trennung wie beim frühen Wittgenstein führen. Auf der einen Seite die klar sagbaren Wahrheiten und auf der anderen Seite das Mystische. Um wieder von Gott und Wahrheit zu sprechen, können Religion und Theologie beim neuen Realismus wohl keine weitreichende Unterstützung erhoffen.
Nun gibt es zweifellos eine lange und große Tradition, die Wahrheit als etwas Größeres verstanden hat als Faktenwissen und naturwissenschaftliche Gesetze. Lessings Ringparabel in „Nathan der Weise“ (1779) weist die Suche nach der Wahrheit dem Menschen, ihren Besitz aber allein Gott zu. Die endgültige Wahrheit über komplexe Zusammenhänge ist gerade für aufklärerisch-rationalistisches Denken transzendent, immer anzustreben, aber niemals erreichbar. Ohne von Gott zu reden, begründet Karl Poppers kritischer Rationalismus mit seinem Falsifikationsprinzip eine immer noch aktuelle Variante der von der Aufklärung entdeckten Unerreichbarkeit und Transzendenz der Wahrheit. Die Wissenschaft wie das Leben sind Wege, bei denen All-Aussagen stets nur durch ein Gegenbeispiel falsifiziert werden können, bei denen eine endgültige Verifikation für endliche Wesen aber unmöglich ist.
Eine Reihe von Autoren des 20. Jahrhunderts sind sich dessen bewusst, dass Wahrheit wie die anderen großen Worte Frieden, Liebe, Freiheit, Gerechtigkeit, Versöhnung, Glück usw. mehr und anderes sind als das, was messbar gemacht und konstatiert werden kann. Frieden ist mehr als die Abwesenheit bewaffneter Auseinandersetzungen, Liebe mehr und anderes als was physiologisch messbar und in Fragebögen ermittelt werden kann, Freiheit, Gerechtigkeit und Versöhnung sind mehr und anderes als in den zur Zeit so beliebten Indices und Rankings von Ländern erscheinen kann, Glück ist mehr als Wohlstand und ein hohes BSP. Wahrheit ist mehr und anderes als die Wahrheitswerte in den Tabellen der Logiker. Die Logiker, die Wahrheit berechenbar und handhabbar gemacht haben, stehen dabei zusätzlich vor einer instruktiven Beobachtung. Der Satz „a ist b“ und der Satz „a ist b. Das ist wahr“ sind logisch äquivalent. Das heißt nicht weniger als, dass die Wahrheitsbehauptung keine weitere Information zum Aussagesatz hinzufügt. Wahrheitsbehauptungen sind redundant. Wie alles Redundante ist die Wahrheitsbehauptung damit überflüssig. Wahrheit erlebt damit ein ähnliches Schicksal wie Gott im Pantheismus. Wenn alles Gott ist, dann wird er irrelevant, wenn alles, was gültig gesagt werden kann, wahr ist, dann braucht man nur noch gültig zu reden und kann die Rede von der Wahrheit sparen.
Der eben dargestellte Zusammenhang hat noch eine andere Implikation. Wenn man jedem wahren Satz die Behauptung „das ist wahr“ hinzufügen kann, dann ist Wahrheit undefinierbar, zumindest undefinierbar im Sinne der klassischen Lehre von Definition, nach der Bestandteile des zu Definierenden nicht – auch nicht implizit – in der Definition vorkommen dürfen. Hiermit nähern wir uns schon mehr Denkern wie Martin Heidegger und Walter Benjamin, die Frömmigkeit im Denken praktizieren und theologische Hintergründe aller wichtigen Begriffe wieder zur Geltung bringen wollen. So sagt etwa Walter Benjamin, dass „jede Wahrheit ihr Haus, ihren angestammten Palast, in der Sprache hat, dass er aus den ältesten logoi errichtet ist und dass der so gegründeten Wahrheit gegenüber die Einsichten der Einzelwissenschaften subaltern bleiben, solange sie gleichsam nomadisierend, bald hier bald da im Sprachbereiche sich behelfen, befangen in jener Anschauung vom Zeichencharakter der Sprache, der ihrer Terminologie die verantwortungslose Willkür aufprägt. Demgegenüber erfährt die Philosophie die segensreiche Wirksamkeit einer Ordnung, Kraft welcher ihre Einsichten jeweils ganz bestimmten Worten zustreben, deren im Begriff verkrustete Oberfläche unter ihrer magnetischen Berührung sich löst und die Formen des in ihr verschlossenen sprachlichen Lebens verrät.“[13]
Versteht man Wahrheit als ein Ereignis, das über den Menschen hinausgeht, dann werden neue Aussagen und Gedanken möglich. Menschen handhaben und konstatieren nicht mehr vorrangig Wahrheit, sondern sie sind auf die Wahrheit angewiesen, sie hoffen zu ihrer Wahrheit gebracht zu werden, sie versuchen, in der Wahrheit zu leben. Mit einem solchen Wahrheitsverständnis gelangen wir in einen Bereich, in dem die Rede von Wahrheit wieder Sinn und Attraktivität gewinnt und in dem der Zusammenhang zwischen Wahrheit und Gott wieder deutlich wird.
Beginnen wir mit Michel Foucault. Seiner letzten Vorlesung am Collège de France im Jahre 1983/84 gab er den Titel: Der Mut zur Wahrheit. Die Frage, die Foucault interessiert, ist eine doppelte: „Auf welche Weise konstituiert sich das Individuum selbst in seinem Akt des Wahrsprechens, und wie wird es von den anderen als ein Subjekt konstituiert, das einen wahren Diskurs hält“.[14] Die Vorlesung betont, dass bereits die griechische Antike die parrhesia als den Mut, die ganze Wahrheit über sich zu sagen und zu hören entdeckt und als Tugend geschätzt hat. „Damit es parrhesia geben kann, ist alles in allem für den Akt der Wahrheit folgendes notwendig: erstens das Bestehen einer grundsätzlichen Verknüpfung zwischen der ausgesprochenen Wahrheit und dem Denken dessen, der sie ausgesprochen hat; [zweitens] die Infragestellung der Beziehung zwischen den beiden Gesprächspartnern (demjenigen, der die Wahrheit sagt, und demjenigen, an den diese Wahrheit gerichtet ist). Daher rührt jener neue Zug der parrhesia: Sie beinhaltet eine bestimmte Form des Mutes, einen Mut, dessen Minimalform darin besteht, dass der Parrhesiast immer Gefahr läuft, diese Beziehung zu untergraben, die Bedingung der Möglichkeit seiner Rede ist. […] Dieser Mut kann jedoch in einer Reihe von Fällen auch eine Maximalform annehmen, wenn man für das Aussprechen der Wahrheit nicht nur akzeptieren muss, dass dadurch die persönliche, freundschaftliche Beziehung in Frage gestellt wird, die man zu der Person unterhält, [mit der] man spricht, sondern wenn es dazu führt, sein eigenes Leben zu riskieren. […] Die parrhesia ist also, kurz gesagt, der Mut zur Wahrheit seitens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt, sie ist aber auch der Mut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert.“[15] Dieser Abschnitt wurde so ausführlich zitiert, weil nach Foucault die parrhesia die einzige Chance des Menschen ist, aus den Verstrickungen in Täuschungen herauszukommen. Foucault schließt seine Vorlesung mit der Bemerkung: “ Die Wahrheit über sich selbst in dieser Welt entziffern, sich selbst im Misstrauen gegenüber sich selbst und der Welt entziffern, und zwar in der Furcht und im Zittern vor Gott, dies und dies allein kann uns Zugang zum wahren Leben verschaffen.“[16]
Foucault wendet sich hier nicht einfach dem Christentum zu. Sokrates ist das Vorbild der Parrhesia, nicht vorrangig Christus. Foucault affirmiert auch in den letzten Sätzen der Vorlesung die kynische Philosophie, die die Möglichkeit des Lebens in der Wahrheit bestätigt und zum Programm erhoben hat. Er grenzt auch das Reden des Parrhesiastes von prophetischer Rede ab. Der Prophet redet gerade nicht von sich, sondern im Auftrag eines anderen.[17] Foucault sieht im Christentum zwei Pole, einen historisch wirkungsvolleren anti-parrhesiastischen Pol und einen mystischen, parrhesiatischen Pol. „Dann gibt es im Christentum noch einen anderen Pol, einen anti-parrhesiastischen Pol, der nicht die mystische, sondern die asketische Tradition begründet. Das ist der Pol, demzufolge das Verhältnis zur Wahrheit nur im furchtsamen und ehrerbietigen Gehorsam gegenüber Gott und in Form einer argwöhnischen Selbstentzifferung durch Versuchungen und Prüfungen hergestellt wird.“[18] Foucault ist davon überzeugt, dass der asketische Pol des Christentums in der Zukunft nicht mehr die Form einer ganzen Lebensform annehmen kann. Seine Zeit ist im Grunde vorüber, auch wenn er sich noch vielfach geltend machen wird. Die Zukunft gehört der Wahrhaftigkeit, dem Freimut, der Parrhesia.
Wahrheit war auch ein Grundmotiv des Dissidententums in der Zeit der kommunistischen Herrschaft im östlichen Mitteleuropa. Václav Havels Buch „Versuch, in der Wahrheit zu leben“[19], beschreibt die Wirkungen der mit Macht kombinierten Ideologie als gegen die Möglichkeit, in der Wahrheit zu leben, gerichtete Repression. „Der Mensch muss nicht an alle diese Mystifikationen glauben [die die Ideologie vorschreibt; M.L.]. Er muss sich aber so benehmen, als ob er an sie glaubt, muss sie zumindest schweigend tolerieren oder sich wenigstens gut mit denen stellen, die mit den Mystifikationen operieren. Schon deshalb muss er aber in Lüge leben.“[20] Da die Ideologie den Machtinteressen untergeordnet ist, „hat sie in ihrem Wesen die Tendenz, sich von der Wirklichkeit zu emanzipieren, eine Welt des ‚Scheins‘ zu schaffen, sich zu ritualisieren“[21]. „Die Tatsache, dass der Mensch ein Selbstzwecksystem geschaffen hat und täglich weiter schafft, ein System, durch das er sich selbst seiner eigenen Identität beraubt, […] konnte und kann nur deshalb geschehen, weil der moderne Mensch offenbar bestimmte Veranlagungen hat, solch ein System zu schaffen oder zumindest zu ertragen.“[22] Havel vermutet, dass Akzeptanz des Systems der Lüge mit der „Unlust des Konsummenschen“ zusammenhängt, „etwas von seinen materiellen Sicherheiten zugunsten seiner geistigen und sittlichen Integrität zu opfern“[23].
Aus der Ablehnung einer Kultur der Lüge und des falschen Scheins ergibt sich die Hoffnung auf eine Religion, eine Kirche, einen Religionsunterricht, in denen Parrhesia weiterhin ermöglicht und verstärkt gefördert wird. Warum ist dies eine Hoffnung? Es ist eine Hoffnung deshalb, weil zahlreiche Menschen mit „beschädigter Identität“[24] leben. Es gibt Wahrheiten, die sie betreffen, aber über die sie nicht oder nicht offen sprechen wollen oder können. Irving Goffman hat in seinem Buch „Stigma“ eine Reihe von Techniken des Umgangs mit Identitätsmerkmalen, die nicht öffentlich akzeptiert werden, beschrieben. Solche Stigmata sind beispielsweise Krankheiten wie psychische Krankheiten oder Alkoholismus, Unfähigkeiten wie Analphabetismus, Verbrechen, die Menschen als Täter, aber auch als Opfer erlebt haben, Kriegserlebnisse, Zugehörigkeit zu verachteten ethnischen (z. B. Eta in Japan) oder sexuellen (z. B. Homosexuelle in afrikanischen Ländern) Minderheiten, Ausübung schlecht angesehener Tätigkeiten und Berufe (z. B. in der Prostitution, Mitarbeit bei der Stasi) oder auch Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Konkurs, usw. Bedenkt man diese Liste, dann fällt es schwer, Menschen zu benennen, für den oder dessen Verwandte und Freunde nicht das eine oder andere zutrifft. Auch wenn in westeuropäischen Ländern Homosexualität oder Scheidung in den letzten Jahrzehnten zunehmend akzeptiert worden sind und die Kriegsjahre länger zurückliegen, so sind die Möglichkeiten immer noch sehr groß, dass Menschen nicht mit Freimut ihre Lebensgeschichte in Wahrheit erzählen können. Die Gefahr dieses Zustandes ist, dass Menschen, weil sie anderen nicht die Wahrheit über sich selbst erzählen können, einen Teil ihrer Identität unbearbeitet lassen und Entscheidungen treffen, die sie davon abhalten ihr eigenes Leben zu führen. Stigmatisierungen haben schwere Folgen: Individuelle wie gesellschaftliche Entwicklungen werden blockiert, Einsamkeit, Entfremdung und Aggressionen werden verstärkt, die Heilung traumatischer Erlebnisse findet nicht statt. Die Wahrheit zu sagen, macht hier, wie auch bei allen anderen Fragen, frei. Auch wenn es noch nicht die Wahrheit Christi ist, die in der menschlichen Parrhesia zum Ausdruck kommt, so eröffnet menschliche Parrhesia einen Weg, auf dem die Wahrheit Christi begegnen kann. Etwa einen Weg der Annahme oder der Reue und der Vergebung, denn auch die Rechtfertigung des Gottlosen und des Sünders geschieht nicht an der Wahrheit vorbei, sondern in der Wahrheit und durch sie hindurch. Rechtfertigungsgeschehen setzt Mut zur Wahrheit frei, wie er mit allen Zweideutigkeiten aber doch vorbildhaft in der Beichte institutionalisiert worden ist.
In Religionsunterricht und Kirche ist es wichtig, dass die Freiheit zur Wahrheit besteht, dass Menschen ihre Glaubenszweifel, ihre vielleicht eigentümlichen Glaubensansichten oder auch ihre Glaubenspraxis nicht verbergen, sondern sie in Freimut zum Ausdruck bringen können und dass diese Aussagen auch Resonanz finden, von anderen wertgeschätzt, beantwortet und auch mit anderen Sichtweisen ins Gespräch gebracht werden, die die Wahrheit anderer Personen ausdrücken.
Neuere Arbeiten zur narrativen Identität[25] legen das Augenmerk darauf, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass ein Subjekt zu einem adäquaten Ausdruck seiner selbst kommt. Bedingungen der Beschämung, der Stigmatisierung, der Unaufmerksamkeit und fehlenden Gastlichkeit für Personen und ihre Erzählungen sind so weit verbreitet, dass viel stärker über eine Kultur der Annahme und Gastfreundschaft, des Zuhörens und der Bestärkung anderer nachgedacht werden muss als dies in bisherigen Ansätzen der Fall war. Kontexte und Machtbeziehungen spielen eine große Rolle für die Möglichkeiten, seine Wahrheit authentisch zu erzählen und in der Wahrheit zu leben. Postkoloniale Theorie hat dies auf die Frage gebracht: Wie kann der Subalterne sprechen?[26]
Als institutionalisierten Versuch, Räume für das Aussprechen der Wahrheit zu schaffen, hat das 20. Jahrhundert eine Innovation erlebt: die Entstehung der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, die durch die südafrikanische „Truth and Reconciliation Commission“ (1996–1998) weltweit große Aufmerksamkeit gefunden hat. Die Aufstellung des United States Institute of Peace berichtet über nicht weniger als 33 Wahrheitskommissionen[27], von denen einige bereits vor der südafrikanischen Kommission tagten. Ziel der Wahrheitskommissionen ist es, Täter und Opfer dazu zu ermutigen, die Wahrheit zu sagen, ihre Geschichte zu erzählen, sie in einen Dialog miteinander zu bringen und wenn möglich dahin zu gelangen, dass Täter sich zu ihren Taten öffentlich bekennen und Opfer Vergebung praktizieren. Ein Grund für das Entstehen von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen ist, dass klassische Strafverfahren häufig zu einer Verschleierung der Taten durch die Täter, die ja um ein geringeres Strafmaß kämpfen, führen und dass sie wenig zur Heilung der Beziehungen zwischen Menschen beitragen. Die nationale Einheit der neu entstehenden Regenbogennation Südafrika, die Gerechtigkeit gegenüber allen Opfern, die Stärkung von Menschenrechten und Demokratie waren weitere Ziele, die zum Auftrag der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission gehörten.[28] Trotz zahlreicher Unzulänglichkeiten, waren die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen in Südafrika ein Erfolg. Verglichen mit anderen Transitionsprozessen gelang es, schneller ein realistischeres Bild der Geschehnisse allgemein bekannt zu machen. Es gelang Gewalt zwischen früheren Täter- und Opfergruppen nachhaltig zu verringern und eine erstaunlich breite Identifikation aller Südafrikaner mit dem neuen Südafrika auf den Weg zu bringen.
Wahrheit wird ermöglicht im Gegenüber zu Personen, die für uns allererst die Bedingungen schaffen, in der Wahrheit zu sein und uns zur Sprache zu bringen. Daraus entsteht eine Theologie des Ich-Du-Verhältnisses. Emil Brunner ist der christliche Theologe, der – Anregungen von Martin Buber aufnehmend –, ein christliches auf der Begegnung beruhendes Wahrheitsverständnis entwickelt hat.[29] Wahrheit im christlichen Sinne ist keine kontextlose und kommunikationslose, überall verfügbare Aussagenwahrheit. Wahrheit im biblischen Sinne ist die Wahrheit, in der die Menschen nicht sind, sondern in die sie durch Jesus Christus hineinkommen, der sie allererst wahr macht. Die Wahrheit ist durch Jesus Christus erst in die Welt gekommen (Joh 1,17). „Das biblische Wahrheitsverständnis kann durch den Objekt-Subjekt-Gegensatz nicht erfasst werden, sondern wird durch ihn verfälscht.“[30] Wahrheit schafft eine Gemeinschaft zwischen Subjekt und Objekt, die grundlegender ist als die Korrespondenz zwischen Sätzen und Objekten. Brunner und in ähnlicher Weise auch Hans Urs von Balthasar [31]empfahlen der Theologie nicht objektivistisch (nach dem vermeintlichen Beispiel Barths, so Brunner) bzw. kosmologisch (nach der neuthomistischen Tradition, so Balthasar) oder subjektivistisch (wie nach Brunner angeblich Bultmann und nach Balthasar Rahner) zu begründen, sondern sie auf der Begegnung aufzubauen. Wahrheit ereignet sich in der Begegnung.
„Jeder Mensch (und nicht bloß der Philosoph) sucht nach dem letzten und tiefsten Wert der Wahrheit.“[32]
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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