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Editorial

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Published/Copyright: May 1, 2016
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Die Wahrheitsfrage gilt im Kontext öffentlicher Bildung als heikel. Das liegt vor allem daran, dass religiöse Wahrheitsbekundungen viel zu oft mit Intoleranz, Unterdrückung oder gar Gewalt einhergehen. Daraus auf eine Suspendierung der Wahrheitsthematik zu schließen, greift jedoch zu kurz: Gerade weil wahrheitsbezogene Kommunikation besondere Achtsamkeit fordert, weil sie leicht korrumpieren und ideologische Formen annehmen kann, muss sie in Bildungsprozessen reflektiert, erprobt und kritisch kultiviert werden. Auf sie im Kontext des öffentlichen Bildungswesens gänzlich zu verzichten, wie dies verschiedentlich gefordert und auch praktiziert wird, hieße sprachlos zu werden in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der überzeugungsbasierte Differenzen in vielfältiger Weise wirksam sind.

Angesichts der unübersehbaren Relevanz von Wahrheitsfragen im Überschneidungsfeld von Religion, Bildung und Öffentlichkeit überrascht es zunächst, wie wenig diese Dimension in den letzten Jahren explizit religionspädagogisch thematisiert worden ist. Obwohl fast alle aktuellen Kerndiskurse der Disziplin – beispielhaft genannt seien die Debatten um Kinder- und Jugendtheologie, um performative bzw. konstruktivistische Religionsdidaktik, um Elementarisierung und Kompetenzorientierung oder auch das aufwändig betriebene Denkprojekt einer pluralitätsfähigen Religionspädagogik – systematisch auf diese Frage zulaufen, wird sie im Ganzen eher selten gestellt und noch seltener tiefergehend bearbeitet. In gewisser Hinsicht ist die diesbezügliche Zurückhaltung dann aber auch verständlich: Wer nämlich die Wahrheitsfrage religionspädagogisch aufwirft, gerät unweigerlich vor die komplexe Herausforderung, die dieser Frage inhärenten Ansprüche mit der subjektorientierten Grundausrichtung des eigenen Faches und der gegebenen religiös-weltanschaulichen Pluralität auszubalancieren.

Den Beiträgen dieses Heftes ist gemeinsam, dass sie sich mit je eigenem Fokus dieser Herausforderung stellen. In seinem Grundlegungsbeitrag führt Michael Meyer-Blanck zunächst feinsinnig in das „spätmoderne Wahrheitsparadox von Suchen und Finden“ ein, das sich auf dem Gebiet religiöser Bildung noch einmal zuspitzt. Vor diesem Problemhorizont entfaltet er seine Grundthese, dass religiöse Bildung auf die Kompetenz zielt, „mit dem Verhältnis von Wahrheitsgewissheit und Wirklichkeitsdeutung produktiv umgehen zu können“.

Eben dieses Verhältnis wird in den drei darauffolgenden Beiträgen theologisch und erziehungswissenschaftlich ausgeleuchtet. Dass der religionspädagogische Wahrheitsdiskurs auf biblisch-hermeneutische Orientierung angewiesen ist, ergibt sich aus der theologischen Dignität und der positionellen Pluralität der biblischen Überlieferung: Auf der einen Seite ist die Bibel die maßgebliche Grundlage christlicher Wahrheitsbekundung, auf der anderen Seite gibt es in diesem Buch, worauf auch Schülerinnen und Schüler oft hinweisen, zahlreiche Spannungen, Inkonsistenzen und regelrechte Widersprüche selbst in fundamentalen Glaubensfragen. Der Beitrag des Tübinger Neutestamentlers Christof Landmesser ist für die Religionspädagogik insofern besonders anschlussfähig, als er diese Spannung in einer Weise aufnimmt und verarbeitet, die die Rationalitätsansprüche des aktuellen geisteswissenschaftlichen Wahrheitsdiskurses ernst nimmt und für eine zeitgemäße Bibelhermeneutik fruchtbar macht.

Aus systematisch-theologischer Perspektive macht Martin Leiner darauf aufmerksam, dass die mit Blick auf öffentliche Bildungsbereiche oft besonders vehement erhobene Forderung nach einer Ausklammerung der Wahrheitsfrage in vielerlei Hinsicht kontraproduktiv und auch durch die aktuelle geisteswissenschaftliche Diskussionslage weniger gedeckt ist, als es erst einmal scheint. Stattdessen müsse Bildung um Gottes und des Menschen willen dazu beitragen, „Räume für das Aussprechen der Wahrheit zu schaffen“ – wofür Leiner nicht nur gute Gründe, sondern auch ermutigende Beispiele ins Feld führt.

Auf eine Spurensuche nach „Pädagogischen Wahrheit(en)“ macht sich Ralf Koerrenz in einem imaginativen Gespräch mit Gerhard Mühlfellner. Dabei rückt er ein Verständnis von Wahrheit als individuelle Konstruktion ins Zentrum. Wahrheit erweist sich für ihn mit Blick auf „Bildung“ als die Fähigkeit zur Selbstreflexion der eigenen Bedingungen des Verstehens. Über die Diskussion von Orthodoxie und Orthopraxie gelangt der Autor zur Unterscheidung verschiedener Ebenen von Wahrheit in der Thematisierung im Kontext von Erziehung. Letztlich habe sich Erziehung als Erziehung selbst zu legitimieren.

Die letzten vier Beiträge befassen sich mit der Wahrheitsfrage im Kontext aktueller religionspädagogischer Ansätze und Diskurse. Zunächst wirft Mirjam Zimmermann eine unbequeme Frage auf, die in der stetig anwachsenden Literatur zur Kinder- und Jugendtheologie oft übergangen wird: Kann Kindertheologie auch unwahr sein? Diese Frage wird in ihrem Beitrag differenzierten Bewertungskriterien zugeführt, welche die gegenwärtige Debatte um diesen Ansatz auf festeren Boden stellen und besonders auch der kinder- und jugendtheologischen Praxis zugutekommen dürften.

Im Unterschied zu den meisten gängigen religionsdidaktischen Ansätzen wurde der Wahrheitsfrage im Elementarisierungskonzept von Anfang an ein fester Platz eingeräumt. Allerdings fällt auf, dass die zentrale Erschließungsdimension „elementarer Wahrheiten“ bislang noch nicht umfassend ausgewiesen worden ist. Indem Reinhold Boschki diese Begründungslücke schließt, leistet er einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses über die Konfessionsgrenzen hinaus einflussreichen religionsdidaktischen Planungsmodells.

Aufgrund divergierender und potenziell konfligierender Wahrheitsansprüche kommt man im Kontext Interreligiösen Lernens in der religionspädagogischen Theorie wie auch in der unterrichtlichen Praxis nur schwer an der Wahrheitsfrage vorbei. Jedoch beschränkt sich die Auseinandersetzung hier auffällig oft, wie bereits ein flüchtiger Blick in die religionspädagogische Einführungsliteratur lehrt, auf die religionstheologische Basisunterscheidung zwischen exklusivistischen, inklusivistischen und pluralistischen Positionen. In seinem Beitrag eröffnet Thorsten Knauth einen alternativen Zugang zu dieser Frage, der bereits von seinem Ausgangspunkt her deutlich näher an das spezifische Setting interreligiöser Lernprozesse in der Schule heranführt.

Im abschließenden Aufsatz dieses Heftes zeichnet Ingrid Schoberth die Wahrheitsthematik in einen Kontext ein, in dem sie auf den ersten Blick deplatziert wirkt. Sie fragt danach, ob „Wahrheitsfähigkeit“ in der Ära der Kompetenzorientierung als eine für die Religionslehrerbildung belangvolle Dimension professionellen Könnens von Religionslehrkräften aufgefasst werden kann. Der vielfältigen Inkompatibilitäten von Wahrheit und Kompetenz gewahr, bejaht sie diese Frage, allerdings unter der Prämisse, dass es sich dabei um die Befähigung handelt, „die gerade nicht heißt, Wahrheit schon zu haben, sondern bezogen auf sie hin zu unterrichten“.

Auch die Rubrik „Das besondere Buch“ nimmt sich der Wahrheitsfrage an, indem Thomas Schlag gleich zwei aktuelle, auch religionspädagogisch folgenreiche Auseinandersetzungen mit zunehmend intensiver artikulierten Wahrheitsansprüchen bespricht: zum einen das Buch des muslimischen Psychologen Ahmad Mansour „Generation Allah“, zum anderen „Islamismus als pädagogische Herausforderung“ des Hamburger Demokratiepädagogen Kurt Edler.

Ralf Koerrenz und Henrik Simojoki

Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Artikel
  4. Vorwort der Herausgebenden
  5. Editorial
  6. Unterscheiden, was zusammengehört
  7. Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
  8. Gott sei Dank, die Wahrheit
  9. Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
  10. Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
  11. Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
  12. Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
  13. „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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