Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
Andere Religionen werden auf Distanz gehalten – geographisch, geschichtlich und durch die Auswahl der Abgebildeten: Dies war vor zehn Jahren das Ergebnis einer umfassenden Untersuchung von Unterrichtsmaterialien und ihrer Bildauswahl (theo-web 2006, 2). Demgegenüber ist in den letzten Jahren der Blick auf Religionen unter hiesigen Verhältnissen und auf der Ebene Jugendlicher in den Fokus gerückt. Mirjam Zimmermann entwickelt diese Richtung nun mit Hilfe einer Erzählung weiter, die als roter Faden durch eine Unterrichtseinheit führt und an einem konkreten Ort, in Siegen, unter Fünft- und Sechstklässlern lokalisiert ist: Erzählt wird fast durchgehend aus der Perspektive von Lena. Sie ist von Mainz nach Siegen gezogen und lernt nun in der kleinen Stadt neue Freunde kennen, die (erwartungsgemäß) aus ganz unterschiedlichen Religionen stammen. Im Laufe eines Jahres erfährt sie dadurch viele Details zu Judentum, Islam und Hinduismus, aber auch Zusammenhänge zu ausgewählten Festen. Durch die Innenperspektive von Lena wird den Hörerinnen und Hörern nahegebracht, wie religiös und kulturell Fremdes aufgenommen und wie damit umgegangen werden kann. Hierin liegt die Stärke und nicht nur für interreligiöse Themen wegweisende Qualität des Ansatzes.
Die Autorin stellt diesen Zugang in zwei Bänden vor: einen zu Theorie und Unterrichtshinweisen, den anderen mit Material für die Schülerinnen und Schüler. Der erste Band enthält drei Abschnitte: im ersten geht es um konzeptionelle und generelle Fragen zu interreligiösem Lernen, im zweiten um den narrativen Ansatz und im dritten um die Unterrichtseinheit mit der Leiterzählung von Lena und konkreten Vorschlägen, die die Hälfte dieses ersten Buches ausmachen.
Zunächst erhält der Leser einen Abriss einiger grundsätzlicher Fragestellungen zum interreligiösen Lernen: Auf dreißig Seiten erläutert die Autorin in knappen Abschnitten unter anderem verschiedene Begriffe, die Geschichte der pädagogischen Beschäftigung mit anderen Religionen seit Johann Amos Comenius, Fragen zur Entwicklungspsychologie, Religionstheoretisches zu Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus sowie zu Grundtypen interreligiösen Lernens. Zielgruppe sind hierfür offenbar Studierende oder an einem raschen Überblick interessierte Lehrkräfte. Der theoretisch interessiertere Leser hätte sich hier schon tiefergehende Hinführungen zum spezifischen Ansatz der Verfasserin gewünscht. Dies gelingt in einigen Passagen, z. B. wenn es darum geht, dass der theoretisch (u. a. bei Leimgruber) gern empfohlene „Königsweg“ der direkten Begegnung auch scheitern kann (23, vgl. dann die weitere Aufnahme 43 f.) oder wenn es um fehlendes Hintergrundwissen andersreligiöser Jugendlicher geht.
Spezifischer für den eigenen Ansatz ist dann der zweite Teil, der über rund 15 Seiten die narratologische Theorie hinter Zimmermanns Vorschlägen ausführt. Der „homo narrans“ (Walter Fisher) respektive der Mensch als „story telling animal“ (MacIntyre) ist Ausgangspunkt. In Auseinandersetzung mit Ricoeur und Waldow, dem verdeckten „Mitspielen“ gelesener Szenarien und der Chance imaginativer Selbstentwürfe bis zur „Neukonstitution“ eigener Identität durch Erzählungen kommt die Verfasserin zu dem Schluss: „Die Erzählung ist eine idealisierte Reduktion von Lebenswirklichkeit.... [Sie] lädt ein, in diesen ‚geschlossenen‘ Erfahrungsraum einzutreten, mit den Protagonisten mitzuleben, mitzuempfinden, mitzudenken. Das lesende Subjekt wird dabei herausgefordert, sich selbst mit anderen Positionen auseinanderzusetzen.“ (51) Über Identifikationsangebote wird eigene Identität gebildet. Erreicht werden so neben „Sprachsensibilisierung“ und allgemeiner „Erfahrungserweiterung“ auch eine neue „Wirklichkeitserschließung“ sowie offene „Möglichkeitsandeutungen“. Gerade angesichts dessen, dass reale Begegnungen mit anderen Religionen durchaus in Schule und Wohnviertel misslingen können, wird hier ein „Spielfeld“ vor dem geistigen Auge eröffnet (vgl. 56 f.), dessen fiktionsbedingte Offenheit auf der Augenhöhe von Kindern (und werdenden Jugendlichen) Türen zu Haltungen und Einstellungen gegenüber Neuem in anderen Religionen öffnen kann. Nach einem Überblick über weiteres narratives Unterrichtsmaterial (Keshavjee, Landgraf, Meyer/Janocha, Pressler, Thiel) setzt die Verfasserin diesen Ansatz in die Praxis um:
Den Umzug nach Siegen erlebt Lena als Schock, sie erinnert sich zurück an Mainz und an dort erlebte christliche Feste wie Palmsonntag und Advent. Damit ist thematisch die Richtung für das Folgende eröffnet. Sie lernt bald das muslimische Nachbarmädchen Elif und später die jüdische Familie mit der Tochter Sarah kennen. Vom Purimfest bekommt sie zunächst etwas durch die Verkleidung und durch ein Backwarengeschenk mit. Sarah erzählt dann über die Hintergründe. Der Einstieg über einzelne Phänomene, die auch Außenstehende erleben können (später Knäckebrot als Brücke zu Pessach), und eine Erklärung aus dem Mund eines anderen Kindes sind für den Erzählansatz charakteristisch. Lena erfährt, dass Elif gerade fastet und Sarah einen kleinen Bruder bekommt. Mit der Einladung zum Beschneidungsfest und zu Mohammeds Geburtstag wird die Festthematik fortgeführt, im Fall des Beschneidungsfestes aber nicht durch die (potentiell denkbaren) Erfahrungen Lenas vertieft (war dies zu heikel?), sondern durch einen Lexikonartikel, den sie liest. Der Laut eines Schofars aus dem Inneren des Mehrfamilienhauses leitet Erklärungen zum Rosch ha-Schana ein, die Suche nach Osterkörbchen Fragen an die Großmutter zu diesem christlichen Fest. Mit dem Holi-Fest kommen schließlich über die abrahamische Perspektive hinaus auch hinduistische Traditionen in den Blick, eingeführt durch einen indischen Jungen. Der Zusammenhang all dieser Themen wird durch Lena und ihre schlüssige innere Auseinandersetzung mit ihrer neuen Umwelt geschaffen. Im Text kommen die Feste allerdings manchmal mehr als Stichwortgeber für den Unterricht in den Blick (zum Beispiel lediglich drei Sätze zum Holi-Fest, ausführlicher dagegen das Gespräch mit Sarah zu Purim und zu Chanukka).
Jeweils zu einzelnen Abschnitten finden sich kurz notierte Unterrichtsideen.
Der Materialband nimmt die gesamte Geschichte Lenas in Form von Arbeitsblättern auf und ergänzt sie durch einzelne sachorientierte Vertiefungen (z. B. Sederteller, Chanukka- und Esthergeschichte). Die Blätter sind dabei klar und einfach strukturiert. Religionswissenschaftlich irrtümlich werden Beschneidung, Pessach und Mohammeds Himmelfahrt und Holi unter der Überschrift „Lichterfest“ mit Weihnachten und Chanukka verbunden (M9.1); das eigentliche hinduistische Lichterfest Diwali wird gar nicht erwähnt. Hier mag sich bei der Überschrift ein Druckfehler eingeschlichen haben.
Die Leistung der Autorin liegt gleichwohl darin, nicht nur einen Aufhänger für viele verschiedene Details aus den Religionen erstellt, sondern in der lebendigen Erzählung tatsächlich einen Charakter geformt zu haben, mit dem sich vor allem die Schülerinnen identifizieren, mit deren Gefühlswelt sich aber auch die (männlichen) Schüler auseinandersetzen können. Ganz unterschiedliche Themen aus den Religionen werden so nicht nur lexikalisch hintereinander genannt, vielmehr entsteht durch den Spiegel von Lenas Erfahrungen ein roter Faden, der für die Lesenden einen Zusammenhang schafft, der hier und heute verortet ist.
Der große Lerngewinn entsteht daher weniger durch die vielen Religionsdetails. Er ergibt sich durch die Begegnungen des Mädchens – mit durchaus realistischen Problemen: Da ist die Großtante, die skeptisch gegenüber „Ausländern“ ist; die Mutter, die nichts davon hält, einen unbekannten indischen Jungen in der Wohnung übernachten zu lassen; da ist der ältere muslimische Nachbarsjunge, bei dessen Anblick Lena unangenehmerweise rot anläuft, und schließlich das Fasten von morgens bis abends, das sie sich „irre schwierig“ vorstellt. So können Schülerinnen und Schüler in der Tat die Kompetenz entwickeln, andere Wahrnehmungen nachzuvollziehen und „Perspektiven für eigene Haltungen“ auszubilden (70).
Etwas überraschend angesichts des Titels ist, dass das atmosphärische Erleben von Festen selbst kaum narrativ entfaltet und meist nur sekundär in Gesprächen benannt wird. Die einzige Ausnahme bildet Lenas Teilnahme am Geburtstagsfest Mohammeds und – mit dem Stilmittel der Erinnerung – an einen früheren Osternachtgottesdienst. Es wäre durchaus vorstellbar gewesen, Lena an mehr Festen partizipieren zu lassen oder auch der Innenperspektive der anderen Kinder mehr affektiven Raum zu geben und so in die Atmosphäre fremder Feste auch von Innen Einblick zu geben. Letzteres mag jedoch stilistische Geschmackssache sein und hätte das Konzept der Konzentration auf Lenas Perspektive aufgeweicht. Entscheidender ist, dass hier Lernarrangements zur Fremdheitsbegegnung nicht irgendwie neben inhaltlichen Klärungen vorkommen oder sich im Zuge des scheinbar leicht zu beschreitenden „Königswegs“ für Schulklassen en passant ergeben sollen, sondern narrativ in mehr oder minder „normalen“ Alltagssituationen für den Unterricht entfaltet werden. Das Medium ermöglicht, Fantasien im Geist durchzuspielen, ohne gleich den Tücken der Realität ausgesetzt zu sein. So wird endlich eine wesentliche Dimension interreligiösen Lernens nicht nur zu einem Seitenaspekt, sie tritt vielmehr in das Zentrum unterrichtlicher Materialgestaltung.
Damit verbindet sich eine weitere Eigenart, die von der Verfasserin in ihrer Theorie kaum erörtert wird: Im Unterschied zu vielen Materialien, die deduktiv Feste von ihrem theologischen Inhalt her erklären, wird der induktive Weg gewählt, wie ihn Kinder und Jugendliche normalerweise gehen: Details des Alltags fallen ihnen auf, sie lernen Religiöses – wie es Fulbert Steffensky einmal formuliert hat –von „außen nach innen“ kennen. Diese Verschränkung zwischen einer induktiven Neujustierung von Lernmaterialien zu Islam, Judentum oder Hinduismus und der narrativen Konzentration auf die Begegnungen mit Fremden bei interreligiösen Themen ist das große Verdienst von Mirjam Zimmermann.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
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- Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
- Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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