Abstract:
Talk of truth is ubiquitous in everyday life. In the postmodern discourse however concepts of truth are frequently deconstructed. To speak of truth yet remains necessary in order to orient oneself in our world. A responsible talk of truth requires a high theoretical effort. Coherency-theoretical deliberations however make the talk of truth lucent in regard to its plurality, communicability and criticizability. The Christ-faith, which is here defined as the mode of the believing existence oriented towards relational fidelity (‚Gemeinschaftstreue‘) can be perceived in the realm of Christian tradition as the necessary, but within the different concepts of world distinct, criterion of preference. In this manner talk of truth gains a potency for orientation for the understanding of self, world and god also under the conditions of our finitude and the plurality of truth-concepts.
1. Die Allgegenwart der Rede von ‚Wahrheit‘
Eine erste Beobachtung. In unseren alltäglichen Diskursen ist die Frage nach der Wahrheit hochpräsent. Die Ausdrücke ‚Wahrheit‘ und ‚wahr‘ verwenden wir in der Regel recht unbefangen, wenn wir die Aussagen anderer bewerten oder eigene Geltungsansprüche bekräftigen und durchsetzen wollen. Wir behaupten die Wahrheit unserer Sätze und bestreiten sie bei unseren Gegnern. Auch ein Blick in die Tageszeitungen liefert hinreichende Belege für die Allgegenwart behaupteter oder bestrittener Wahrheit. Vor Gericht muss mancher gar einräumen, auch einmal nicht die Wahrheit gesagt zu haben. Und wenn schon nicht die ganze Wahrheit gefunden wird, werden juristische Urteile durchaus auch mit aufgedeckten Wahrheiten begründet. Wir setzen auf unterschiedlichen Ebenen viel Energie bei der Suche nach Wahrheit ein. Die Frage nach Wahrheit ist allgegenwärtig. Es scheint in solchen lebensweltlichen Diskursen intuitiv klar zu sein, was wir unter ‚Wahrheit‘ verstehen. Umso beachtlicher ist es zu sehen, dass im Raum der Wissenschaft, einschließlich der Theologie, die Frage nach der Wahrheit zuweilen selbst fraglich geworden zu sein scheint in dem Sinne, dass bezweifelt wird, überhaupt sinnvoll von Wahrheit reden zu können.
Eine zweite Beobachtung. Dass der zumindest lebensweltlich beobachtbare, gleichsam unbefangene Umgang mit der Wahrheitsfrage im Raum der Wissenschaft zerbrochen zu sein scheint, ist geradezu aufregend.[1] Die Frage nach Begriff und Funktion von Wahrheit ist höchst strittig. Vielleicht befinden wir uns ja wirklich in der Epoche der Postmoderne, die ihre Kennzeichen in programmatischem Eklektizismus, bunter Vielfalt und ironischer Brechung hat.[2] Das kann dazu führen, dass der Begriff der Wahrheit radikal dekonstruiert wird. Dann aber entsteht eine merkwürdige Spannung zwischen dem lebensweltlichen Gebrauch der Begriffe ‚Wahrheit‘ und ‚wahr‘ und deren wissenschaftlicher Reflexion.
Eine dritte Beobachtung. Wer sich auf die Frage nach Wahrheit in einem philosophischen Diskurs einlässt, wird mit hochkomplexen Theorieentwürfen konfrontiert.[3] Die Frage nach Wahrheit hat es systematisch in sich. Einfache Antworten werden der Sache nicht gerecht, ein gewisser Theorieaufwand ist erforderlich, um einigermaßen seriös mit der Wahrheitsfrage umzugehen. Auf engem Raum können allenfalls basale Aspekte der Wahrheitsfrage erinnert werden. Immerhin soll Auskunft darüber gegeben werden, worin der Gewinn einer Rede von ‚Wahrheit‘ besteht, es soll bedacht werden, was mit ‚Wahrheit‘ überhaupt gemeint ist, und zuletzt soll auch vorgestellt werden, wie wir ‚Wahrheit‘ identifizieren können oder wie wir in einer intersubjektiven Kommunikation zumindest gewinnbringend so von ‚Wahrheit‘ reden können, dass Erkenntnisfortschritte und Handlungsoptionen deutlich werden.
Wird so ein zumindest vorläufiges Verständnis der Ausdrücke ‚Wahrheit‘ und ‚wahr‘ bereitgestellt, dann ist ein Blick auf neutestamentliche Texte zu werfen und nach ihrem spezifischen Beitrag für ein Wahrheitsverständnis unter den Bedingungen des christlichen Glaubens zu fragen. Der christliche Glaube interpretiert die Welt in einer besonderen und bestimmbaren Perspektive. Nur unter der Voraussetzung der Klärung dieser und damit verbundener Fragen kann der christliche Glaube auskunfts- und überhaupt gesprächsfähig werden.[4]
2. ‚Wahrheit‘ zur Orientierung in der Welt
Wir verwenden die Sprache, um uns in unserer Welt kommunikativ zu orientieren, um Entscheidungen zu treffen und um zu handeln. Dabei setzen wir in irgendeiner Weise voraus, dass wir mit unserer Sprache unsere Welt oder unsere Wirklichkeit erreichen. Das wäre die Voraussetzung, um in unserer Welt, diese Welt verstehend, zu handeln und uns in ihr zu orientieren. Unsere Behauptungen, unsere Sätze haben irgendetwas mit unserer Wirklichkeit zu tun. Diese Intuition hat schon die alte Formel aus Buch Γ der Metaphysik des Aristoteles als ihren Hintergrund: „Denn zu behaupten, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch. Aber zu behaupten, daß das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, ist wahr.“[5] Thomas von Aquin greift diese Überlegung auf und verdichtet sie zu der klassisch gewordenen Formel: „veritas est adaequatio rei et intellectus“[6]. Diese Vorstellung bildet die Kernaussage der verschiedenen Spielarten der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Aber auch wenn die Intuition einer Verbindung von Sprache und Welt oder Sprache und Wirklichkeit kaum aufgegeben werden kann, so stellt sie doch vor das gravierende Problem, wie denn der Zusammenhang zwischen Sprache und Welt beschrieben und vor allem überprüft werden kann. Denn sehen kann man den Zusammenhang von Sprache und Welt nicht.
Wenn wir sprechen, dann entwerfen wir sprachlich unsere Welt. Sprache hat unterschiedliche Ebenen. Im Anschluss und in Weiterführung früher semiotischer Einsichten zu den Dimensionen von Sprache lassen sich mindestens fünf Sprachebenen identifizieren: 1. Die Sprache hat eine Struktur (syntaktische Ebene). 2. Die Sprache hat Bedeutung (semantische Ebene). 3. Mit der Sprache können wir handeln, indem wir sprechen (pragmatische Ebene). 4. Unsere Sprache hat eine Wirkung (effektive Ebene). 5. Die Sprache hat eine Gestalt (ästhetische Ebene).[7] Alle Dimensionen der Sprache sind miteinander verbunden. Das Sprachpotential ist erst dann entdeckt, wenn alle fünf Sprachebenen ausgeleuchtet werden. Diese Sprachebenen existieren nicht je für sich, sie bedingen sich gegenseitig. Es können aber mit Blick auf die jeweilige Sprachebene klar bestimmte Fragen gestellt werden. Die Frage nach der Wahrheit im Sinne des Zusammenhangs von Sprache und Welt gehört in den Bereich der Semantik, hier wird also nach der Bedeutung unserer Sprache gefragt.[8]
Auf der semantischen Sprachebene finden wir auch die Entität, die uns sinnvoll von einem Zusammenhang von Sprache und Welt reden lässt. Dazu müssen semantisch-ontologische Überlegungen angestellt werden. Wenn wir etwas sagen, dann bilden wir Sätze. Wenn ein Satz beansprucht, etwas Wahres über unsere Welt zu sagen, dann ist er mehr als eine bloße Zusammenstellung von Worten in einer grammatisch nachvollziehbaren Abfolge. Ein Satz, der tatsächlich etwas über die Welt sagt, kann bestimmt werden als eine Proposition[9]. Eine Proposition in diesem terminologischen Sinn transzendiert den Raum der Sprache, sie bleibt aber immer sprachabhängig. Eine solche Proposition drückt einen wahren Sachverhalt aus und bildet die Verbindung zwischen Sprache und Welt. Sie ist selbst eine nichtsprachliche, aber doch eine sprachabhängige Entität. Eine Proposition in diesem Sinne ist als sprachabhängige Entität zugleich ein Teil der Welt.[10] Unsere erkannte Welt ist hinsichtlich unserer sprachlich vermittelten Erkenntnis somit selbst über Propositionen konstituiert. Eine Proposition ist eine wahre Aussage, insofern sie tatsächlich einen Teil der Welt zu erkennen gibt und auch selbst ein Teil dieser Welt ist. Alle Propositionen zusammengenommen bilden das Gesamte unserer erkannten Welt.
Nicht alle unsere Sätze sind in dem angedeuteten Sinn Propositionen, also wahre Aussagen. Wenn wir von Wahrheit reden, dann stellt sich unwillkürlich die Frage, wie wir solche Propositionen identifizieren können, wie wir also Sätze bestimmen können, von denen wir begründet annehmen, dass sie wahr seien. Ein praktikabler Vorschlag für den Raum der Wissenschaft findet sich in einer Version der Kohärenztheorie, die Nicholas Rescher in verschiedenen Ausformungen vorgelegt hat.[11] Dieser Theorie liegt die Einsicht zugrunde, dass keine Proposition nur für sich existiert. Alle Propositionen bilden einen Gesamtzusammenhang. In einem liminalen Sinn bedeutet die Gesamtheit der Propositionen die volle Einsicht in die ganze Wahrheit oder auch die umfassende Erkenntnis unserer Welt. Dass uns menschlichen Wesen ein solcher vollständiger Zugang zu unserer Welt nicht möglich ist, erklärt sich schon aus der einfachen Beobachtung, dass unsere Geschichte und mit ihr unsere Welt noch nicht abgeschlossen ist. Noch nicht einmal die Gesamtheit unserer gegenwärtigen Welt werden wir auch nur annähernd in den Blick bekommen. Und dennoch lehrt die liminale Perspektive den Umgang mit den Propositionen.
Alle Propositionen bilden einen Gesamtzusammenhang. Auch die Welt bildet einen Gesamtzusammenhang, einen Kontext. Für eine Proposition ergibt sich dann, dass sie nur als eine solche, also auch als eine wahre Aussage anerkannt werden kann, wenn ihr Kontext identifiziert wird. Würde dies bestritten, könnten wir über Teile der Welt und die sprachlich ausgedrückten Propositionen gar nicht verständlich reden. Indem wir verschiedene Teile der einen Welt behaupten, ist der sprachliche Zusammenhang schon hergestellt. Ein solcher Zusammenhang, ein solcher Kontext oder eine solche Kohärenz kann mit sprachlichen Mitteln im Sinne der Logik der Kohärenz festgestellt werden. Drei Kriterien helfen zur Identifikation derjenigen Sätze, die wir als wahr und somit als Propositionen in dem hier vorgeschlagenen Sinn akzeptieren. Aus der Wahrnehmung des liminalen Gesamtzusammenhangs ergibt sich die Forderung einer Umfassendheit. Es dürfen Sätze, die als Wahrheitskandidaten in Frage kommen, nicht unbeachtet bleiben. Das zweite Kriterium innerhalb der Logik der Kohärenz ist die Forderung der Konsistenz. Damit ist gemeint, dass die Sätze, die wir als wahr und damit als Propositionen anerkennen, sich nicht widersprechen dürfen. Das dritte Kriterium innerhalb der Logik der Kohärenz ist die Zusammengefügtheit. Keine Proposition, also kein Satz, den wir als wahr anerkennen, darf völlig unabhängig von den anderen Propositionen existieren.
Eine Evaluation mittels dieser drei logischen Kriterien macht es wahrscheinlich, dass wir unterschiedliche Mengen von solchen Sätzen auffinden werden, die wir in sich selbst als kohärent bezeichnen können. Zwischen diesen kohärenten Mengen von Sätzen müssen wir entscheiden, welche wir zur Erklärung unserer Welt heranziehen. Ein weiteres logisches Kriterium steht dabei nicht zur Verfügung. Die Wahrheitsfindung ist deshalb stets durch ein sehr subjektives Moment geprägt.
Zur Identifikation der von uns für wahr gehaltenen Sätze benötigen wir zusätzlich immer auch noch ein außerlogisches Präferenzkriterium, mittels dessen wir zwischen verschiedenen kohärenten Mengen von Wahrheitskandidaten entscheiden.[12] Es lassen sich ganz unterschiedliche Verfahrensweisen für die Auswahl derjenigen Sätze, die wir als Propositionen annehmen wollen, denken. Man könnte sich vorstellen, die größtmögliche Menge an Sätzen zu wählen. Aber vielleicht gehen dann entscheidende Einsichten, die nur in einer kleineren kohärenten Menge von Sätzen zu finden sind, verloren. Auch Plausibilitätsüberlegungen oder eine Entscheidung nach Wahrscheinlichkeiten sind vorstellbar. Allerdings wären beide sehr weiche außerlogische Kriterien, die kaum zu einer intersubjektiv kommunikablen Bestimmung der für uns relevanten Menge von Propositionen führen werden. Nicholas Rescher schlägt deshalb eine pragmatische Methode vor.[13] Das Präferenzkriterium richtet sich so nach den jeweiligen Handlungserfordernissen, in einer Wissenschaft nach den beabsichtigten Zielen. – Gegen einen solchen Vorschlag eines pragmatischen Präferenzkriteriums kann der Einwand vorgebracht werden, dass etwa lebensfeindliche oder egoistische Ziele als außerlogisches Präferenzkriterium herangezogen werden könnten. Eine solche Vorgehensweise ist auch denkbar. Der Schutz vor lebensfeindlichen und egoistischen Präferenzkriterien liegt in der vorgestellten Kohärenz der Welt als dem Gesamtzusammenhang aller Propositionen. Hier schon eine theologische Perspektive vorwegnehmend, bestünde die Erwartung, dass sich die Unwahrheit der aufgrund egoistischer oder lebensfeindlicher Präferenzkriterien behaupteten Propositionen zumindest eschatologisch, eben in der angedeuteten liminalen Perspektive, herausstellen wird. Positiv gewendet ließen sich die Lebensdienlichkeit und die Gemeinschaftsförderung als außerlogische Präferenzkriterien ebenso vorstellen. Freilich müssten intensive Diskurse darüber geführt werden, was denn als lebensdienlich und als gemeinschaftsfördernd angenommen werden soll. Die Konkretion beider Vorstellungen kann ja ganz unterschiedlich gedacht werden. Aber immerhin wären es mögliche außerlogische Präferenzkriterien. In jedem Fall macht das Präferenzkriterium deutlich, dass die Identifikation von Propositionen im Sinne wahrer Sätze einen eminenten Akt der Interpretation voraussetzt. Wahrheit im Raum der menschlichen Endlichkeit ist immer positionell, perspektivisch, subjektiv und zeitgebunden. Die von uns Menschen formulierte Wahrheit ist also immer relativ, auch wenn sie in logischer Hinsicht kohärent begründet ist.
In unseren alltagsweltlichen Diskursen werden wir allenfalls in seltenen Fällen ausdrücklich Rechenschaft darüber ablegen, welche Präferenzkriterien wir wählen. Dass wir solche haben, ist immer dann zwingend, wenn wir meinen, wahre Sätze zu formulieren. Denn anders als über eine Kohärenzbildung in dem angedeuteten Sinn können wir gar nicht sinnvoll die Wahrheit unserer Sätze behaupten. Ob wir das Verfahren dabei konsequent durchführen oder überhaupt reflektieren, ist völlig sekundär. Ein Nachdenken über unseren Weg zur Identifikation von wahren Sätzen ist sicher vorteilhaft, weil uns ansonsten Inkohärenz, Inkonsistenz oder Zusammenhanglosigkeit unterlaufen oder vorgeworfen werden können und so die Wahrheit unserer Sätze erfolgreich bestritten werden kann. Sollten sich aber Inkohärenzen in unseren Weltentwürfen herausstellen, dann wäre ein konsistentes Handeln kaum möglich; die Folge wäre ein irrationales, beliebiges oder gewaltsames Handeln, das jenseits eines gemeinschaftlich orientierten kommunikativen Handelns läge.
3. Das Neue Testament und die Wahrheitsfrage[14]
Der Raum der Religion lässt geradezu paradigmatisch erkennen, dass es nicht sinnvoll ist anzunehmen, dass unter den Bedingungen der Endlichkeit des Menschen und der Welt wie auch unter der Voraussetzung der Unabgeschlossenheit der Geschichte die eine Wahrheit aufzufinden ist. Neben Endlichkeit und Unabgeschlossenheit sind es die unterschiedlichen möglichen Präferenzkriterien, die es uns verwehren, jetzt schon die eine oder gar die abgeschlossene Wahrheit zu finden und zu kommunizieren. Und dennoch können wir auf die Frage nach Wahrheit gerade im Raum der Religion nicht verzichten, geht es doch hier immer um das Ganze der Existenz des Menschen. Wenn unsere eigene Existenz in Frage steht, dann wird es rasch plausibel, dass wir uns in den lebensorientierenden Fragen nicht so und zugleich auch ganz anders orientieren können. Auch im Raum der Religion verhilft uns die Logik der Kohärenz zu einem kommunikablen und zugleich kritisierbaren sprachlichen Zugang zu unserer Welt. Zur Kommunikabilität unserer Weltinterpretationen gehört ihre Kritikfähigkeit notwendig hinzu.
Die neutestamentlichen Texte als die Ursprungstexte des christlichen Glaubens bieten einen besonderen Zugang zu Gott und der Welt und zu uns selbst. Das Sprachpotential dieser Texte beschäftigt uns bis heute intensiv. Offensichtlich ist es so reichhaltig, dass wir von diesen Texten bedeutsame Einsichten für unsere Interpretation der Welt erwarten.
Ganz grundsätzlich ist festzustellen, dass diese Texte nicht einfach alle nur dasselbe sagen. Es gibt Spannungen, Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten schon innerhalb dieser Texte. Die Überlegungen etwa, welchen soteriologischen Stellenwert das Handeln des glaubenden Menschen hat, können zwischen dem Verfasser des Matthäusevangeliums und Paulus nicht ausgeglichen werden. Für Paulus ist die Frage nach dem umfassenden eschatologischen Heil allein von dem rettenden Handeln Gottes im Christusgeschehen abhängig, weshalb er von dem glaubenden Menschen als von einer neuen Kreatur redet,[15] deren eschatologisches Heil nicht mehr in Frage steht.[16] Nach dem Matthäusevangelium ist das Heil gerade der glaubenden Menschen von ihrem gerechten Handeln abhängig.[17] Beide Sichtweisen schließen sich kohärenztheoretisch betrachtet aus und sollten nicht zugleich behauptet werden,[18] da sonst ein orientiertes Handeln unmöglich oder beliebig wird.[19] Wollen wir heute aus diesen Texten des Neuen Testaments ein Orientierungs- und Handlungswissen gewinnen, dann müssen wir uns entweder zwischen den beiden genannten Autoren entscheiden oder eine andere Antwort auf die Frage nach dem eschatologischen Heil und der damit verbundenen Gewissheit gewinnen. In jedem Fall sind wir selbst und als christliche Dialoggemeinschaft zu einer Interpretation herausgefordert, die wir verantworten und auch vor uns und im Gespräch mit anderen Menschen vertreten können. Inkohärent sollte unser eigener Vorschlag aber nicht sein.
Die neutestamentlichen Texte geben uns aber eine Hilfestellung, wie im Raum des Christusglaubens kommunikabel, und damit auch kritisch, argumentiert werden kann. Paulus und das Matthäusevangelium haben wohl unterschiedliche soteriologische Vorstellungen. Sie teilen aber den Christusglauben. Das Matthäusevangelium ist gerahmt durch den Bezug auf Jesus Christus (Mt 1,21.23 und Mt 28,18) und im Zentrum der Briefe des Paulus steht das Evangelium Gottes oder Jesu Christi (Röm 1,1.16; 2Kor 10,14; Gal 1,6f u.ö.), das den Christusglauben hervorruft (Röm 10,17; Gal 2,16). Alle Texte des Neuen Testaments haben als ihr Ziel diesen Christusglauben. Geradezu paradigmatisch formuliert dies der letzte Vers des ursprünglichen Johannesevangeliums: ‚Dies aber ist geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus ist der Christus, der Sohn Gottes, und damit ihr als Glaubende das Leben habt in seinem Namen‘ (Joh 20,31).[20]
Es drängt sich geradezu auf, den Christusglauben als das Präferenzkriterium der neutestamentlichen Texte zu identifizieren. Folgt man Paulus, so wird dieser Glaube durch die Evangeliumspredigt den Glaubenden zugespielt (Röm 10,17), der Glaube wird von Paulus als ein Schöpfungsakt begriffen (2Kor 5,17; Gal 6,15). Und das Johannesevangelium spricht von einer Neugeburt bzw. einer Geburt ‚von oben‘ (Joh 3,3.7). Der Christusglaube als das Präferenzkriterium wird den Glaubenden also von Gott verschafft.[21] Der so begriffene Christusglaube ist selbst nicht ein Kompendium von Sätzen. Vielmehr ist der Christusglaube eine Weise der Existenz oder auch der Modus des von Gott verschafften Heils und Lebens.[22] Der implizite Vorschlag der neutestamentlichen Texte ist es, die heilvolle Existenz der Glaubenden als das Präferenzkriterium für die Wahrheit in der Perspektive des Glaubens wahrzunehmen. Die theologischen Sätze wären dann nicht einfach identisch mit dem Glauben, der als heilvolle Existenzweise der Glaubenden begriffen wird. Die Kommunikation der Glaubenden muss vielmehr darüber geführt werden, wie dieser Modus der heilvollen Existenz der Glaubenden begriffen werden kann.
4. Konsequenzen für die christliche Rede von Wahrheit
Die Frage nach der Wahrheit wird in einem christlich motivierten Diskurs immer durch den Christusglauben als das entscheidende Präferenzkriterium begleitet sein. Insofern dieser Christusglaube keine theologische Lehre, sondern den Modus der heilvollen Existenz der Glaubenden meint, bleibt diese Existenzweise stets unseren theologischen Sätzen vorgeordnet. Wenn sich unterschiedliche kohärente Mengen von Sätzen in unseren theologischen, religiösen oder ganz allgemein lebensweltlichen Diskursen ergeben, und das wird immer wieder der Fall sein, dann müssen wir uns die Frage stellen, was denn dem Christusglauben als dem Modus des Heils, als unserer eigenen heilvollen Existenzweise, der intakten Gottesbeziehung und der angemessenen Beziehung der Menschen untereinander am ehesten entspricht.[23] In biblischer Terminologie kann diese Existenzweise konkretisiert werden als eine Existenz in ‚Gerechtigkeit‘ oder – im Anschluss an alttestamentliche Redeweise – als
bzw. als ‚Gemeinschaftstreue‘.[24] Dieses hier nur anzudeutende Verständnis von Gerechtigkeit oder Gemeinschaftstreue umfasst unser Selbst-, Welt- und Gottesverständnis. Mit dem Christusglauben als dem Modus des Heils ist das entscheidende Kriterium für die christlich motivierte Frage nach der Wahrheit benannt.
Die neutestamentlichen Texte machen implizit mit der Wahl ihres Präferenzkriteriums einen Vorschlag für den Umgang mit der Wahrheitsfrage, der freilich einiges von den glaubenden Menschen erfordert. In Verbindung mit den kohärenztheoretischen Überlegungen lassen sich abschließend einige Konsequenzen aus dem vorgeschlagenen Umgang mit der Wahrheitsfrage hervorheben.
Die Endlichkeit unserer Existenz und die Unabgeschlossenheit der Geschichte lassen uns die Grenzen der uns stets begleitenden Frage nach der Wahrheit leicht erkennen. Wir bedürfen aber der Auskünfte über die Interpretation unserer Welt, um überhaupt sinnvoll, kommunikabel und kritikfähig handeln zu können. Die Frage nach der Wahrheit bleibt aber im menschlichen Raum unabgeschlossen.
Die Frage nach der Wahrheit können wir immer nur aus unserer je eigenen Perspektive beantworten und auch verantworten. Eine andere haben wir nicht. Die Logik der Kohärenz macht unsere Weltinterpretationen und unsere Sätze überhaupt erst kommunikabel, kritikfähig und auch korrigierbar. Perspektivität, Kommunikabilität und Kritikfähigkeit sind die Merkmale der kohärentistisch verstandenen Frage nach der Wahrheit. Das gilt für unsere eigenen Wahrheitsentwürfe, aber eben auch für die Weltinterpretationen unserer Gesprächspartner.
Insofern die Logik der Kohärenz nicht zur hinreichend begründeten Behauptung wahrer Sätze ausreicht und wir zusätzlich ein außerlogisches Präferenzkriterium einsetzen müssen, werden wir auch damit leben müssen, dass wir niemals mit allen an einem Diskurs Beteiligten dieselbe Perspektive auf die Welt gewinnen können. Ein Weg, damit umzugehen, wäre die Gewinnung allgemeinerer Präferenzkriterien, die für unterschiedliche Kommunikationsgemeinschaften gelten könnten. Unsere Endlichkeit, unsere Positionalität und manche unserer tatsächlichen Präferenzkriterien machen es aber unwahrscheinlich, oder sogar unmöglich, immer und in jeder handlungsrelevanten Hinsicht zu gemeinsamen Perspektiven zu kommen.[25] Die Pluralisierung von Wahrheitsvorstellung ist eine Konsequenz. Ein kohärentistisch begriffener Wahrheitsdiskurs erfordert ein hohes Maß an Toleranz. Kohärenz in dem hier vertretenen Sinn unter den Bedingungen der Endlichkeit schließt dann aber auch jeden Fundamentalismus per se aus.
In zentralen Texten des Neuen Testaments wird der Christusglaube als der Modus der glaubenden Existenz begriffen. Für die so glaubenden Menschen ist dieser Glaube das entscheidende Präferenzkriterium. Der als Modus der eigenen Existenz verstandene Christusglaube verschafft den Glaubenden ein Bewusstsein über ihr Selbst-, Gottes- und Weltverständnis. Insofern dieser Christusglaube sich einem Handeln Gottes verdankt, eröffnet er den Glaubenden eine Lebens-, Glaubens- und Selbstgewissheit, die auch eine der eigenen Perspektive entsprechende Interpretation unserer Welt ermöglicht. Insofern aber auch dieses in Gott gründende Selbstbewusstsein uns nur unter den Bedingungen der Endlichkeit zugänglich ist, ist die Wahrnehmung der Logik der Kohärenz erforderlich, um nicht doch in religiöse oder auch andere Fundamentalismen zu verfallen.
Unter den hier angedeuteten Bedingungen einer kohärentistisch verstandenen Wahrheit erweist sich die wissenschaftliche und die lebensweltliche religiöse Rede als grundsätzlich kommunikabel. Das ist die Voraussetzung dafür, aus dem christlichen Glauben gesprächs- und kritikfähige Interpretationen unserer Welt und in deren Folge auch entsprechende Handlungsoptionen zu gewinnen und zu vertreten. Genau das ist zumindest auch die Aufgabe einer theologischen Rede von uns selbst, von Gott und der Welt.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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