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Unterscheiden, was zusammengehört

Zum Verhältnis von Wahrheitsfrage und Wirklichkeitsdeutung im Kontext religiöser Bildung
  • Michael Meyer-Blanck EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Mai 2016
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Abstract:

In late modern times, the human task of finding ultimate truth represents special challenges. On the one hand late modern subjects are forced to find the truth autonomously, and on the other they desire to find it outside the self. These aspects, the so-called „truth paradox“ („Wahrheitsparadox“), are discussed in the first part of the article. In the second part, four different philosophical traditions of truth are explored: 1. The theory of „adaequatio intellectus et rei“ (Th. v. Aquin), 2. the transcendental theory of critical idealism (I. Kant), 3. the theory of consensus (Ch.S. Peirce, J. Dewey, J. Habermas), and 4. the theory of a perspective and plural truth. In the third part, the author argues for the role of religious education, stating that it can serve as a hermeneutics of understanding ultimate and religious truth.

1. Suchen und Finden: Das Wahrheitsparadox in seiner spätmodernen Form

Die Sinnfrage ist solange sinnlos, wie eine Gewissheit von Sinn ohne nennenswerte Probleme gegeben ist. Ein anderes Beispiel: Traditionsorientierung wird dann zum Thema, wenn die Geltung von Tradition schwindet. Oder auch: Die in den 1980er Jahren aufkommenden Programmkategorien „Gemeindeaufbau“ und „Gemeindepädagogik“ verweisen auf die schwindende soziale Bindungskraft des Glaubens. Entsprechend ist schon der Ausdruck „Wahrheitsfrage“ das Symptom einer Problemstellung. Die Wahrheit steht in Frage. Sie ist in der Gegenwart von einer die Wissenschaft, das Alltagsbewusstsein und den Glauben schlechthin verpflichtenden Größe zu einer (individuell) zu beantwortenden Frage geworden. Das ist allen Lehrenden in Schule und Gemeinde geläufig, und auch die Kirche als Institution hat sich darauf einzustellen, dass Religion primär zu einer Frage nach der „Relevanz“ für das Subjekt geworden ist.[1]

Religiöse Bildung hat die Aufgabe, für den Umgang mit den kulturell bedingten religiösen Realitäten kundig und kompetent zu machen, so dass die durch Bibel und Bekenntnis ermöglichte Wahrheitsgewissheit produktiv genutzt werden kann. Die Wahrheit soll im evangelischen Religionsunterricht als etwas Herausforderndes und auch Fremdes, aber nicht als etwas Festlegendes und Verstörendes begegnen; sie soll die Subjektivität der Lernenden ins eigene Deuten und in die Suche nach Gewissheit verwickeln. Evangelische Unterrichtsinhalte sollen mit der Tatsache konfrontieren, dass die vom Subjekt gesuchte Wahrheit per definitionem etwas sein muss, das zwar selbst gefunden werden, aber in diesem Finden als zugleich nicht der Konstruktion zugänglich gesetzt werden muss. Nicht umsonst lässt sich dieser Zusammenhang schon mit der Metaphorik der Rede Jesu in Verbindung bringen, wie sie in den Worten der Bergpredigt (Mt 7,7) und der Gleichnisrede (Mt 13,44 f.) überliefert ist.

Das Wahre wird individuell gesucht und gefunden, aber nicht hergestellt. Die Herausbildung von Einsicht in diese mit der Moderne gegebene Problemstellung ist höchst komplex und nur als Paradox zu beschreiben: Das Subjekt konstruiert etwas, das aber gerade als dieser Konstruktion vorgängig angenommen wird. Darin findet sich eine gewisse Nähe zum bekannten pädagogischen Paradox: Danach ist das Subjekt im pädagogischen Handeln als ein solches anzunehmen, das es (noch) nicht ist – als ein freies und autonomes Wesen. Ebenso ist die Wahrheit als etwas anzunehmen, was sie nicht ist, obwohl sie so behandelt werden muss: als der Subjektivität unterworfen („sub-iectum“). Kurz zusammengefasst: Religiöse Bildung bedeutet die Einsicht in den Zusammenhang und in die notwendige Unterscheidung von Wirklichkeitsdeutung und Wahrheitsgewissheit.

Damit erfüllt der Religionsunterricht eine Aufgabe auch für die (schulischen) Bildungsvorgänge insgesamt. Die Einsicht in das angedeutete Wahrheitsparadox gilt nicht nur für religiöse Bildungsinhalte, aber für diese gilt es in besonderem Maße. Auch ästhetische, ethische, sprachliche und historische Lerninhalte unterliegen dem spätmodernen Wahrheitsparadox von Suchen und Finden; aber die religiöse Frage als Thematisierung der konstitutiven Rationalität thematisiert mit der Frage nach der religiösen Wahrheit zugleich die Bedingungen und Möglichkeiten des Suchens und Findens von Wahrheit überhaupt. Erst die grundlegende Frage nach der Wahrheit, also die Frage nach der Wahrheitsfrage, ermöglicht auch die Einsicht in die Tatsache, dass die Beobachtungswahrheit, wie sie im naturwissenschaftlichen Experiment zugänglich wird, nur eine spezifische Form von Wahrheitssuche darstellt – und nicht „die“ Wahrheit. Religiöse Bildung klärt über die Modi des Erkennens von Wahrheit auf.[2] Sie kann deswegen weder „die religiöse Wahrheit vermitteln“ wollen noch religiöse Wahrheit als „etwas Subjektives“ darstellen. Religiöse Bildung hat vielmehr das Wahrheitsparadox im Kontext gegenwärtiger Formen und Weisen von Wahrheitssuche verständlich zu machen.

Dabei ist hinzuzufügen, dass das Paradox mit dem Aufkommen der nachaufklärerischen Subjektivität zwar in ein neues Stadium getreten ist, aber andererseits auch dem religiösen Selbst- und Weltverhältnis als solchem inhärent ist. Die religiöse Weltdeutung referiert immer auf die Aktivität der religiös symbolisierenden Person und zugleich auf das von diesem Symbolisieren kategorial unterschiedene Passive, wie es in der religiösen Aktivität als das „extra nos“ aller Aktivität aufscheint. Das eigene Handeln macht durch das Bewusstwerden dieses – spezifischen, religiösen – Handelns das Konstitutive des Nicht-Handelns erfahrbar. In der Sprache des Paulus: „Schaffet, dass ihr selig werdet […] Denn Gott ist's, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen“ (Phil 2,12–13, Predigttext am Reformationstag). Die grundsätzliche Paradoxie des Religiösen ist in der Neuzeit allerdings insofern verschärft worden, als das sich so Erschließende, also Gott oder die Wahrheit, nur als der Grund der eigenen Existenz plausibel werden kann. Der Mensch muss sich nun selbst als das für die Wahrheit ansprechbare Wesen verstehen können, „das nur dadurch seine Erfüllung findet, dass es solche Wahrheit in der der Wahrheit einzig gemäßen Weise, nämlich in Freiheit, ergreift.“[3]

Doch auch diese transzendentale Wende der (religiösen) Erkenntnis ist noch nicht das für die späte Moderne Entscheidende. Darüber hinaus gehen noch der sogenannte linguistic turn und, eng damit zusammenhängend, die sogenannte postmoderne Philosophie (bzw. das Denken der selbstreflexiv gewordenen Spätmoderne). Der linguistic turn besagt in seiner konsequenten Form, dass es keine außersprachlich gegebene Referenz geben könne, so dass die Zeichen der Wirklichkeit zugleich die unhintergehbare Wirklichkeit und damit die Wahrheit darstellen. Das Sein der Dinge, die letztgültig zu erkennende Wahrheit ist in den Zeichen und die Zeichen, die Worte, die Sprache sind das Sein, und dahinter ist nichts, was nicht bereits darin wäre. Davon sind selbstverständlich besonders religiöse Aussagen betroffen. Diese beziehen sich auf die Aussagengemeinschaft, auf die religiöse Sprache der Sprachbenutzer, aber nicht auf eine außersprachliche Realität des Ultimaten, Absoluten oder Göttlichen. Religion ist danach die Realität der religiös gesprochenen Sprache – und keine Entität außerhalb davon. Eine „An-sich-seiende Wahrheit“ ist in diesen Kategorien nicht mehr zu denken. In dieser „Krise des Wahrheitsbegriffs“ sah Walter Kasper schon 1987 die „Grundkrise der gegenwärtigen Theologie.“[4]

Radikalisiert wird diese Denkweise schließlich durch die sogenannte Postmoderne. Diese bestreitet nicht nur die Realität hinter der Sprache, sondern auch die integrierenden Perspektiven und Größen des Sprechvorgangs überhaupt, also 1. die einheitsstiftenden Faktoren des subjektübergreifenden („transzendentalen“) Ich und 2. die Geltung einer bereichsübergreifenden Logik. Die Sprache referiert damit nicht mehr auf das Gesprochene und dessen Sprechregeln, sondern auf eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von Interpretationen. Auch das denkende Ich und die überindividuelle Logik des Gesprochenen fallen als Voraussetzung weg. Die letzte Wirklichkeit und Wahrheit ist damit die Pluralität der Diskurse und Lesarten, und der Versuch, als Verständigungsbasis eine immerhin bereichsüberschreitende, „transversale“ Vernunft anzunehmen (so Wolfgang Welsch), kann als ein Gegengewicht dazu verstanden werden. Wiederum sind gerade religiöse Aussagen von diesem Verständnis der Wahrheit besonders betroffen.[5] Religiöse Wahrheit ist nach diesem Verständnis endgültig nichts mehr dem Erkenntnisvorgang Externes oder Vorausliegendes. Religiöse Wahrheit ist die momentan aufblitzende Evidenz einer bestimmten Lesart des Ganzen, die sich nicht historisch, transzendental oder gar institutionell begründen lässt, sondern nur plural, individuell und situativ. Das Religiöse wird darum gern mit Metaphern wie „Schwelle“, „Bruchlinie“ oder „Entzug“ umschrieben, wie das auch für ästhetische Erfahrung oder Erkenntnis typisch ist.

2. Wahrheit und Wahrheitstheorien

Um das bisher Beschriebene weiterzuführen und auf den Begriff zu bringen, kann man verschiedene philosophische Wahrheitstheorien unterscheiden, die jeweils spezifische Konsequenzen für das Verständnis religiöser Wahrheit haben. Dabei dürften die „Adäquationstheorie“, die transzendentale Theorie, die Konsenstheorie und die perspektivische Wahrheitstheorie die wichtigsten sein, denen sich die meisten Entwürfe zuordnen lassen.

Der klassischen antiken und dann mittelalterlichen metaphysischen Korrespondenz- bzw. Adäquationstheorie zufolge galt die Wahrheit als die adaequatio intellectus et rei[6]. Bei diesem Satz ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass er im doppelten Sinne verstanden werden muss. Die adaequatio bedeutet sowohl, dass sich das Denken den Dingen anzupassen hat (adaequatio intellectus ad rem) als auch, dass sich die Dinge auf den erkennenden Verstand zu beziehen haben (adaequatio rei ad intellectum). Darin findet sich eine Parallele zur Beschreibung der kognitiven Funktion bei Jean Piaget, der bekanntlich von einer gleichzeitigen Assimilation der Dinge und Akkomodation des Verstandes spricht. Dennoch wurde im Mittelalter vor allem die eine Seite betont. Die Wahrheit wurde als eine quasi handelnde Entität angenommen, die die menschliche Erkenntnis in einer Art von Transformation zu sich heranbildet – die veritas zieht den erkennenden Menschen zu sich heran und codiert ihn so um, dass er ihr adäquat wird. Der Erkennende ist aktiv, wird aber in der Entfaltung dieser Aktivität von etwas schlechthin Stärkerem bestimmt, das seine Aktivität ermöglicht und verändert. Die veritas ist eine objektive metaphysische Gegebenheit, der sich das erkennende Subjekt aussetzt. Dieser nach der antiken Tradition des Guten, Wahren und Schönen angenommenen Wahrheitstheorie fehlen zwei moderne Grundkomponenten. Dies ist neben der subjektiven Evidenz des Wahren vor allem die Geschichtlichkeit als deren Fundament (s.u. 2.2 und 2.3).

Die transzendentale Theorie entwickelt sich aus der mit der Philosophie Kants gegebenen kopernikanischen Wende der Erkenntnis, der zufolge die Wahrheit dem Menschen nicht als solche (als „Ding an sich“) zugänglich ist, sondern nur unter den spezifischen Bedingungen der Vernunft von Zeit, Raum, Qualität, Quantität, Kausalität etc. Der religiöse Glaube kann sich nicht mehr wie im Mittelalter auf eine umfassende Welterkenntnis stützen. Er ist auf die spezifisch religiöse Erkenntnis bezogen, die vor allem im Bereich des Moralischen (so Kant und die ihm nachfolgende Theologie) und des Innerlichen (so Schleiermacher und die Theologie des 19. Jahrhunderts) lokalisiert wurde. Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheiten traten auseinander – oder bekämpften einander auch, wie das in der aufkommenden Religionskritik und im populären „Monismus“ von Ernst Haeckel (1834–1919) der Fall war. Auf jeden Fall wurde die religiöse Wahrheit zu einer Bereichswahrheit. Bei aller Bezogenheit auf die Bedingungen und Möglichkeiten des erkennenden Subjekts war dieses Wahrheitsverständnis aber noch nicht „subjektiv“ im Sinne der individuellen und persönlichen Relevanz im 20. und 21. Jahrhundert. Das Subjekt war im Gefolge der idealistischen Philosophie zugleich die Instanz der allgemeinen und überindividuellen Wahrheitserkenntnis.

Die Konsenstheorie der Wahrheit ist der Einsicht in die real gegebene Pluralität der sich bildenden Industriegesellschaft geschuldet. Sie entstand nicht umsonst außerhalb von Europa im amerikanischen Pragmatismus und wurde insbesondere von Charles Sanders Peirce (1839–1914) geprägt. Der amerikanische Pädagoge John Dewey (1859–1952) wurde maßgeblich davon beeinflusst und gegenwärtig ist es Jürgen Habermas (geb. 1929), der das kommunikative und konsensuelle Wahrheitsverständnis besonders wirksam vertritt. Nach dieser Theorie setzt sich die Wahrheit im Laufe der Geschichte ebenso durch, wie sie sich in der Geschichte allmählich zusammensetzt. Auf lange Sicht, „in the long run“ (Peirce), ergibt sich durch die Wahrheitserkenntnisse vieler Personen und verschiedener Bereiche das, was wahr ist. Diese Theorie hat mehrere Vorteile, die sie zu einer gegenwärtig besonders erfolgreichen Theorie gemacht haben. Neben der Berücksichtigung der Pluralität ist es vor allem der demokratische Zug, der in der Moderne an dieser Theorie überzeugend wirkt. Die Wahrheit ist nicht der Besitz einer bestimmten Gruppe von Privilegierten, sondern das Arbeitsergebnis vieler. Es muss darum gehen, Statusvorteile zu minimieren, so dass nur noch das bessere Argument gilt und nicht mehr die Stellung dessen, der argumentiert, so Jürgen Habermas‘ Theorie der „herrschaftsfreien Kommunikation“. Beim konsensuellen Verständnis von Wahrheit steht die Relevanzfrage von vornherein im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Außerdem ist diese Theorie in der Lage, das entwicklungsbezogene, geschichtliche Denken zu integrieren. Denn die Wahrheit kann nach dem Grundverständnis der Moderne, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts festigte, nicht statisch sein. Wahrheit muss sich vielmehr geschichtlich entwickeln, um situativ plausibel werden zu können.[7] Das gilt für das ethisch, politisch, juristisch und psychologisch Wahre und damit implizit auch für das im religiösen Sinne als wahr Angenommene. Das Geschichtliche und das Entwicklungsbezogene hat sich im Zuge der Rezeption der Hegelschen Philosophie und der zugleich aufkommenden Natur- und Geschichtswissenschaft als die Grundkategorie des Denkens und Empfindens auch weit über die Wissenschaft hinaus etabliert. Schleiermachers Verständnis des Dogmatischen als etwas Geschichtlichem ist das vielleicht bekannteste theologische Beispiel für den Primat des Geschichtlichen und sich Entwickelnden.

Für das Verständnis der religiösen Wahrheit ist diese Theorie schlechthin entscheidend, denn das Christentum ist eine in mehrfacher Hinsicht geschichtliche Religion. Erstens geht die christlich verstandene Wahrheit auf geschichtliche Ereignisse zurück. Zweitens hat sich ihr Verständnis im Laufe des 1. Jahrhunderts gebildet, hat in den ersten vier Jahrhunderten ihre klare Gestalt gefunden und hat – nach evangelischem Verständnis – mit den grundlegenden Unterscheidungen des 16. Jahrhunderts zwischen Gottes Handeln und menschlicher Aktivität, zwischen weltlicher Freiheit und glaubender Gebundenheit, zwischen Religion und Politik ihre entscheidenden Impulse gefunden. Drittens ist die Wahrheit des Evangeliums eine jeweils aktuelle, die nicht in Sätzen und Formeln konserviert werden kann, sondern geschichtlich zum Ereignis werden muss. Das evangelisch verstandene Dogma dient gerade dem Bestreben, den Vorgang der religiösen Kommunikation zu ermöglichen und vor Erstarrungen zu bewahren, indem die grundlegenden Unterscheidungen als Regelwerk wirken können. Trotz der gewiss auch vorhandenen problematischen Aspekte haben alle religionspädagogischen Konzepte des 20. Jahrhunderts ein derartiges geschichtliches Verständnis der religiösen Wahrheit zugrunde gelegt. Um nur die älteren zu nennen: Die Wahrheit hat die geschichtliche Form des Erlebens (Richard Kabisch), des Ereignisses (Gerhard Bohne), des Verstehens (Martin Stallmann) und der gesellschaftlichen Aktualität (Hans Bernhard Kaufmann).

Die perspektivische Wahrheitstheorie geht davon aus, dass das Verständnis von Wahrheit nicht nur als diachron plural, sondern auch als synchron plural aufzufassen ist. Der geschichtlich sich bildende Konsens hat mehrere Konsense auf verschiedenen Ebenen. Es gibt bereichsspezifische Wahrheitstheorien für die wissenschaftlich beobachtende Erkenntnis, für die lebensdeutende und künstlerische Praxis und für die religiöse Erfahrung des Menschen. Nach der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998) wird im Wissenschafts-, Politik-, Rechts- und Religionssystem mit jeweils unterschiedlichen Medien und Wahrheitsselektionen kommuniziert. Zu dieser soziologischen Theorie findet sich eine Analogie der perspektivischen Wahrheitstheorie auch in der aktuellen Philosophie. Markus Gabriel (geb. 1980) unterstreicht die These, dass die Welt selbst nicht zu erkennen ist, weil sie uns immer nur in verschiedenen Sinnfeldern erscheint: „Die Welt selbst können wir nicht begreifen, weil es kein Sinnfeld gibt, zu dem sie gehört. Die Welt erscheint nicht auf der Weltbühne, sie tritt nicht auf und stellt sich uns nicht vor.“[8] Daraus folgt, dass sowohl das wissenschaftliche als auch das religiöse Weltbild falsch sind, „sofern es sich um Weltbilder handelt“ (195) – und Religion ist geradezu „das Gegenteil einer Welterklärung“ (211); Gott aber ist „die Idee, dass das Ganze sinnvoll ist, obwohl es unsere Fassungskraft übersteigt“ (264).

Der Vorteil der perspektivischen Wahrheitstheorie besteht erstens darin, dass mit ihr die Kunst der Unterscheidung eingeübt wird, wie sie nicht nur für die religiöse Bildung fundamental ist. Religiös und religionspädagogisch entgeht man so einer unnötigen Apologetik gegenüber den beobachtenden Wissenschaften, und so wird die reformatorische Unterscheidungslehre zwischen Gesetz und Evangelium, weltlichem und geistlichem Regiment sowie Christ- und Weltperson auf das Gebiet des Verstehens und Denkens ausgedehnt. Der mögliche Nachteil wäre eine allzu schiedlich-friedliche Bereichsteilung, wie sie schon in der Philosophie Kants vorgebildet war. Dann wäre die religiöse Deutung missverstanden als sich nur auf einen eingeschränkten Lebensbereich beziehend; das aber widerspräche dem Selbstverständnis der Bibel und der kirchlichen Bekenntnisse (man vergleiche dazu die 1. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934). Auf jeden Fall ist es hilfreich, wenn die Lehrenden verschiedene Wahrheitstheorien präsent haben und diese auch im Unterricht thematisieren.

3. Wirklichkeitsdeutung, Wahrheitsgewissheit und Für-Wahr-Halten: Religiöse Bildung

Bei der religiösen Bildung, so wurde eingangs formuliert, geht es um die Kompetenz, mit dem Verhältnis von Wirklichkeitsdeutung und Wahrheitsgewissheit produktiv umgehen zu können. Religion ist eine bestimmte Art der Wirklichkeitsdeutung, und nicht jede Wirklichkeitsdeutung ist religiös. In der Schule werden vor allem die naturwissenschaftlich beobachtende und die sprachlich rekonstruktive Wirklichkeitsdeutung eingeübt, flankiert durch ästhetische Deutungsansätze. Die Fächer Religion und Philosophie haben in diesem Zusammenhang die Aufgabe, erstens bestimmte Deutungen zu erschließen und zweitens den Vorgang des Deutens selbst verständlich zu machen. Religion und Philosophie erfüllen damit im Kanon der schulischen Fächer auch die wissenschaftstheoretische Aufgabe, bei aller Akkumulation von Wissen und Kompetenzen die Wahrheitsfrage präsent zu halten.

Im letzten Abschnitt konnte gezeigt werden, dass die Unterscheidung von verschiedenen allgemeinen und philosophischen Verständnissen der Wahrheit die religiöse Wahrheitsgewissheit profiliert und vor dem Missverständnis schützt, als ginge es bei ihr um Informationen und um die Zustimmung zu einer Tatsachenwahrheit von höherer Ordnung – oder, als ob diese nur einigen Auserwählten vorbehalten und nicht allgemein zugänglich wäre. Demgegenüber ist zunächst daran zu erinnern, dass Religion etwas anderes ist als theoretische oder praktische Philosophie, als Metaphysik oder Moral. Es handelt sich bei der Religion um jene „Wirklichkeit“, in der die Frage nach dem Zweck-Mittel-Verhältnis, also nach der Wirkung außer Kraft gesetzt ist, zugunsten des Erlebens des Seins und des Fragens nach dem Ganzen.

Dabei fällt die Abgrenzung des religiösen Deutens und Erkennens gegenüber anderen Wirklichkeitsdeutungen meistens leichter als die positive Aussage darüber, worin genau die Substanz, der Inhalt, der Charakter, die Form – oder welche Metapher man sonst wählen möchte – der religiösen Wirklichkeitsdeutung besteht. In der Tradition der „negativen Theologie“ aus der Mystik lässt sich leicht sagen, was die religiöse Wahrheit bzw. was Gott (bzw. das Religiöse) alles nicht ist. Der französische Soziologe und Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour (geb. 1947) hat diese Tradition der negativen Theologie jüngst in einem fulminanten Essay über die Spezifität religiöser Rede erneuert.[9] Dort heißt es kurz und knapp: „Die Religion führt zu nichts.“ (50 f.) Religiöse Worte und Texte „eröffnen Zugang zu überhaupt nichts; sie bilden nicht das erste Glied einer Referenzkette“ (33, dort kursiv); – „Kein durch Ja oder Nein berechenbarer Wahrheitswert – oder zumindest nicht diese Art Berechnung, nicht diese Art Wahrheit, nicht diese Art Ja oder Nein.“ (34) Irrig sind für Latour damit auch die soziologisierenden Erklärungen des Religiösen, als „müssten die frustrierten Seelen die Löcher im Dasein durch das Schauspiel höherer Wahrheiten ausfüllen, als mache die Leere einer bloß materiellen und kommerziellen Welt eine seelische Beigabe erforderlich“ (51). Das Religiöse hat keinerlei Plausibilität außerhalb seiner selbst. Es referiert auf nichts und steht gerade so für sich selbst als unhintergehbar. In der Religion überzeugt nur das Religiöse. Es ist bemerkenswert, wie diese – letztlich aphilosophische – Beschreibung mit den Grundeinsichten der frühen „dialektischen“ Theologie konvergiert, wenngleich vom Habitus und der Aussagegestalt her etwas grundsätzlich anderes gesagt zu werden scheint.

Die negativen Bestimmungen des katholischen Soziologen passen jedenfalls gut zusammen mit den Umschreibungen aus der evangelischen Dogmatik, dass es sich beim Glauben nicht um „das intellektuelle Werk des Für-Wahr-Haltens von vorgegebenen religiösen Wahrheiten“ handle.[10] Diese Grundannahme ist in der evangelischen Theologie des letzten Jahrhunderts breit ausgearbeitet worden, etwa in Karl Barths Beharren darauf, dass die religiöse Wahrheit (die „dreifache Gestalt des Wortes Gottes“) nicht denkerisch begründet werden kann,[11] und in Rudolf Bultmanns Betonung des Zusammenhangs von existenzieller und religiöser Rede, welche sich gleichermaßen durch ihre Nicht-Objektivierbarkeit auszeichnen: „Wir können nicht über unsere Existenz reden, da wir nicht über Gott reden können; und wir können nicht über Gott reden, da wir nicht über unsere Existenz reden können. Wir können nur eins mit dem andern.“[12] Es geht bei der religiösen Wirklichkeitsdeutung nicht um ein überweltliches Wissen. Religiöse Wahrheit hat die Gestalt von Gewissheit und nicht von objektivierendem Verfügungswissen. Oder, wie Peter Biehl es in Anlehnung an den Bochumer phänomenologischen Philosophen Bernhard Waldenfels (geb. 1934) formuliert hat: Die Welt der Religion ist „nicht eine andere Welt, sondern diese Welt als eine andere.“[13]

Doch gerade so bezieht sich der religiöse Glaube nicht nur auf den eigenen Glaubensakt, sondern auf das Gewisswerden der Begegnung mit etwas außerhalb seiner selbst Liegendem. Es handelt sich bei der Religion nicht um ein inhaltsleeres Vertrauen, sondern um eine spezifische Bestimmtheit der eigenen Wahrheitsgewissheit.[14] Damit ist auch das intellektuelle Für-Wahr-Halten in einem bestimmten Sinne Teil des Glaubens. Insofern wird man sagen müssen, dass sich die religiöse Wahrheitsgewissheit nicht in der Form des intellektuellen Für-Wahr-Haltens erschöpft, aber dass sich diese auch nicht ohne inhaltlich bestimmte, der eigenen Deutung vorausliegende bzw. im Vorgang des Deutens gefundene Bestimmungen der Wahrheit vollziehen kann. Provokanter formuliert: Glauben und Religion sind auch Für-Wahr-Halten. Der christliche Glaube ist nicht zu denken ohne die Gewissheit, dass die Gottesgeschichte und die eigene Lebensgeschichte in der Geschichte des Jesus von Nazareth korrelieren. Diese Korrelationsgewissheit ist es, die von der Trinitätslehre bewahrt wird. Darum ist diese Lehre auch keine Spekulation, sondern die Gestalt der Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens. Die christliche Wahrheitsgewissheit wird nicht allein durch Vernunft- und Erlebniswahrheiten konstituiert, sondern auch und wesentlich durch Geschichtswahrheiten.[15] Das Finden der eigenen Wahrheitsgewissheit ist ein (lebens)geschichtlicher Vorgang und das Zentrum dieses Findens ist die Deutung einer historischen Lebensgeschichte als die Gesetze des Denkens grundsätzlich und schlechthin umdeutend (Röm 10,4). Insofern ist es zwar zutreffend zu sagen, dass „Glaube und Gott gleichursprünglich sind“[16]. Aber der sich einstellende, der sich im Glaubensakt findende Glaube ist als christlicher nicht allein auf sich selbst bezogen. Mindestens findet die auf sich selbst und auf Gott bezogene Wahrheitsgewissheit in bestimmten Aussagen, die über das eigene Erleben hinausgehen, ihren Ausdruck. Dies zu ermöglichen ist die Aufgabe der Heiligen Schriften in den Religionen, und dabei spielen speziell im Christentum die Bekenntnisse und Katechismen die Rolle vereinfachender und systematisierender Hilfsmittel. Dieser Zusammenhang wird schon im Heidelberger Katechismus von 1563 – hier wird allerdings das Erkannte vor dem Vertrauen genannt – umschrieben: „Wahrer Glaube ist nicht allein / eine zuverlässige Erkenntnis, durch welche ich alles für wahr halte, / was uns Gott in seinem Wort geoffenbart hat, / sondern auch ein herzliches Vertrauen, / welches der Heilige Geist / durchs Evangelium in mir wirkt, […]“ (Frage 21), und die Unterscheidung von „fides qua creditur“ (existenzielles Überzeugtsein) und „fides quae creditur“ (inhaltliche Gestalt der Überzeugung) bringt dies verständlich zum Ausdruck.

Der Glaube ist kein verdienstliches Werk in der Form des Denkens und bestimmter Überzeugungen. Doch diese soteriologische Bestimmung auch des Verstehens und Denkens spricht nicht gegen die inhaltliche Bestimmung der Überzeugungen als solche, sondern sie fordert die angemessenen Unterscheidungen ein. Zum einen darf auch das existenzielle Überzeugtsein (fides qua) nicht zum rechtfertigenden frommen Werk werden. Der spätmoderne Authentizitätszwang sollte in diesem Zusammenhang warnend bedacht werden. Zum anderen sind aber die Werke nicht als solche schädlich, nämlich dann, wenn sie in rechter Weise eingeordnet werden. Auch die inhaltliche Gestalt der glaubenden Überzeugung ist damit ein sinnvoller und notwendiger Bestandteil der Wahrheitsgewissheit. So wie der Mensch zwar nicht durch die guten Werke gerechtfertigt wird, wohl aber die Werke seiner Rechtfertigung nachfolgen (weil es sich dabei um die Gestalt der Transformation des Glaubenden durch die Rechtfertigung handelt), so gehören auch die „Werke“ des Erkennens zum Glauben, weil dieser ohne die Werke lebenspraktisch leer bliebe. Die Werke machen nicht den soteriologischen Grund, wohl aber die identifizierbare Gestalt der Wahrheitsgewissheit aus – vor allem für den Glaubenden selbst. In religiöser Sprache formuliert: Es ist eine Gestalt der gewährten Gnade und der Leiblichkeit des Glaubens, dass die Werke und die Erkenntnisse zwar nicht für die Rechtfertigung notwendig, aber dennoch Realität im Leben des Glaubenden sind. Damit ist die Denkform der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium auch die angemessene Weise, um die eigene religiöse Aktivität und das passive Widerfahrnis religiöser Wahrheitsgewissheit auseinanderzuhalten und miteinander zu verbinden. Die Fähigkeit zu dieser Unterscheidung ist damit eine Schlüsselkompetenz evangelisch bestimmter religiöser Bildung.

Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Artikel
  4. Vorwort der Herausgebenden
  5. Editorial
  6. Unterscheiden, was zusammengehört
  7. Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
  8. Gott sei Dank, die Wahrheit
  9. Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
  10. Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
  11. Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
  12. Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
  13. „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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