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Digitalisierung ohne Programmierung

  • Steven Vettermann

    Dr.-Ing. Steven Vettermann, geb. 1971, studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt und promovierte dort zum Thema IT-Security im kollaborativen Produktdatenmanagement. Von 2004 bis 2010 leitete er das technische Programm des ProSTEP iViP Standardisierungsvereins, dessen Geschäftsstellenmanagement er danach bis 2017 übernahm. Dann führte er über vier Jahre die Systems-Engineering-Aktivitäten der PROSTEP AG an. Hier war er auch für die Realisierung eines neuartigen Digital-Thread-Softwareprodukts verantwortlich. Seit 2022 leitet er ganzheitlich die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der ASCon System Holding GmbH, einem jungen Software-Hersteller aus Stuttgart, der sich der innovativen Prozessautomatisierung verschrieben hat.

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Published/Copyright: March 16, 2023

Abstract

Der Fachkräftemangel und fehlende wirtschaftliche Startimpulse hemmen die Digitalisierung im betrieblichen Umfeld. Einen Ausweg bietet die Nutzung von Low-Code/No-Code-Umgebungen, die es Mitarbeiter:innen ermöglichen, die Steuerung von Anlagen einfach selbst grafisch zu modellieren, zu testen oder auch zu ändern, anstatt sie zu programmieren. Zusätzlich hilft ein Stufenkonzept, um schnell den wirtschaftlichen Nutzen aufzuzeigen. Im Folgenden wird das und eine beispielhafte Umsetzung beschrieben.

Abstract

The shortage of skilled workers and the lack of initial economic incentives are hampering digitization in industry. A way out is offered by using lowcode/no-code environments, which enable employees to graphically model, test, change, etc. the control of plants easily and by themselves instead of programming them. In addition, a step-by-step concept helps to quickly demonstrate the economic benefits. Related concepts and a demonstrator implementation are described in this article.

Einleitung

Wie viele andere Gesellschaften in ihrer Zeit nach dem Wirtschaftswunder ist Deutschland geprägt von der Überalterung der Bevölkerung, vom Fachkräftemangel und gewachsenen Industrien. Diese Industrien haben das Land einst groß gemacht. Doch die Zeiten haben sich geändert. Um heute und in Zukunft nachhaltigen Wohlstand zu schaffen, kann ein „weiter so“ und das Festhalten an klassischen Geschäftsstrategien und Technologien nicht der Ansatz sein. Wir haben in jüngster Zeit erlebt, dass Pandemien, Klimaphänomene und Kriege das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenspiel abrupt stoppen können und radikale Anpassungen verlangen. Damit werden auch die Forderungen nach der digitalen Transformation, nach Resilienz und Wandlungsfähigkeit immer lauter.

So stellt auch Plattform Industrie 4.0 die Realisierung von Resilienz als ihre tragende Säule der heraus [1]. Damit ergänzt sie die Vision der Industrie 4.0, die heutigen starren und fest definierten Wertschöpfungsketten abzulösen und zu flexiblen, hochdynamischen und weltweit vernetzten Wertschöpfungsnetzwerken zu transformieren [2]. Die Bundesregierung unterstützt das und schafft in ihrer neuen Digitalstrategie weitere notwendige Rahmenbedingungen (z. B. Rechtssicherheit, Innovationsförderung usw.) [3].

Jedoch unterstreicht der Forschungsbeirat der Plattform Industrie 4.0 auch deutlich, dass es bei der Umsetzung der Industrie 4.0 massive Hemmnisse gibt, die es zu verstehen und zukünftig zu adressieren gilt [4]. Im Wesentlichen wird dabei herausgestellt, dass es – je nach Unternehmensgröße – verschieden ausgeprägte strategische und operative Hemmnisse gibt. Allem voran werden dabei die mangelnde Strategiefähigkeit in den Unternehmen, fehlende wirtschaftliche Startimpulse, der Fachkräftemangel und das Fehlen einer Digitalisierungskultur angeführt. Es werden auch Handlungsoptionen vorgeschlagen, die genau wie die Digitalstrategie der Bundesregierung langfristig angelegt sind (z. B. digitale Bildung, Schaffung eines gesamtwirtschaftlichen Innovationsumfelds). Als kurz- bis mittelfristige Maßnahme wird vorgeschlagen, sich auf Umsetzungslösungen zu fokussieren, um die Vorteile der Digitalisierungen direkt in den Unternehmen aufzuzeigen.

Gleichzeitig wird der technische Fortschritt massiv vorangetrieben. So wird derzeit zum Beispiel die Initiative Manufacturing-X etabliert, die auf der Industrie 4.0, der europäischen Initiative Gaia-X und dem Leuchtturmprojekt Catena-X aufbaut, und einen Datenraum für die Industrie 4.0 zur Sicherung des Wettbewerbsstandortes Deutschland schaffen soll [5]. Zudem werden auch neue IT-Möglichkeiten evaluiert, wie z. B. das Industrial Metaverse. So schreibt Laß in [6] zum Beispiel darüber, dass BMW die Omniverse-Plattform von NVIDIA in der virtuellen Fabrikplanung dazu nutzt, Live-Daten aus der Fabrik in fotorealistischen Simulationen zusammenzuführen und diese global verteilten Teams in Echtzeit für ihre Arbeit zur Verfügung zu stellen.

Kurzfristig gilt es also, Situationen zu schaffen, um den Unternehmen den direkten wirtschaftlichen Nutzen der Digitalisierung in ihrer betrieblichen Praxis aufzuzeigen; und das unter Berücksichtigung der vorherrschenden Randbedingungen und Restriktionen. Das können beispielsweise Möglichkeiten zur Reduktion der Investitions- und/oder Betriebskosten, zur Erhöhung der Verfügbarkeit und/oder der Auslastung, zur Verminderung des Personaleinsatzes, zur Verbesserung der Termintreue, zur Steigerung der Gesamtanlageneffektivität, zur Erhöhung der Flexibilität, Resilienz oder auch der Nachhaltigkeit von industriellen Anlagen sein.

Dumitrescu et al. stellen deutlich heraus, dass die Wirtschaft vor der Herausforderung steht, Sprunginnovationen im Bereich der Produktentstehungsprozesse zu forcieren und fordert ein radikales Umdenken sowie einen Paradigmenwechsel: Sprunginnovationen statt inkrementeller Verbesserungen [7]. Auch das muss für die Unternehmen in ihrer betrieblichen Praxis erlebbar gemacht und der wirtschaftliche Nutzen klar nachgewiesen werden, um so nicht von den durch die Plattform Industrie 4.0 in [4] beschriebenen Hemmnissen blockiert zu werden.

Die Industrie 4.0 hat sich über die Jahre sehr weit entwickelt. Gleichzeitig gibt es Hemmnisse bei deren Umsetzung in den Unternehmen. In diesem Beitrag soll beschrieben werden, wie existierende Informationstechnologien dazu genutzt werden können, gerade die Forderungen nach mehr Wandlungsfähigkeit und Resilienz trotz Fachkräftemangels zu adressieren und kurz- bis mittelfristig den Nutzen der Digitalisierung in den Unternehmen aufzuzeigen.

Stand der Technik

Im betrieblichen Umfeld eines Industrieunternehmens steht man heute oft vor der Situation, dass Anlagen und deren IT/OT heterogen gewachsen, teilweise veraltet und durch eine Vielzahl von Steuerungen, Netzwerktypen, Protokollen, Sensoren, Aktoren usw. gekennzeichnet sind. Dem Weg der kontinuierlichen Verbesserung folgend wurde über die Jahre immer mehr Intelligenz und Prozesskontrolle in die Masse der einzelnen speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) fest integriert.

Systems Engineering statt Automatisierungspyramide

Die heutige Datenkommunikation, das Denken und die Methoden im Betrieb eines Unternehmens sind zum großen Teil immer noch durch das hierarchische System der Automatisierungspyramide geprägt. Im Wesentlichen ist sie ein Vehikel, um die Komplexität industrieller Prozesse dadurch zu kapseln, dass man die unterschiedlichen Prozesse im Unternehmen einzelnen Ebenen zuordnet. Die ersten Konzepte dazu kamen bereits in den 1970er-Jahren auf, und bis heute sind mehrere Varianten dazu entwickelt worden. Varianten, wie sie dem RAMI 4.0 zugrunde liegen [8], enthalten sieben Ebenen, während andere nur drei Ebenen aufweisen. In der Standardserie IEC 62264 wird die Automatisierungspyramide, ihre Teile und die Interaktionen umfänglich beschrieben [9].

Gerade die SCADA- und MES-Systeme innerhalb der Automatisierungspyramide erlebten durch ihre „Ordnungsfunktion“ im komplexen Umfeld von Diensten der Industrie 4.0 eine Renaissance. SCADA steht dabei für Supervisory Control and Data Acquisition. Unternehmen nutzen SCADA-Systeme, um Anlagen zu steuern und Daten über deren Betrieb zu erfassen. MES steht für Manufacturing Execution System und dient dem operativen Produktionsmanagement, wird aber zum Beispiel auch für Aufgaben in der Produktionsplanung genutzt. In der Industrie 3.0 hatten beide Systemklassen eine essenzielle Rolle inne. Für den Einsatz in der Industrie 4.0 wurden sie weiterentwickelt, teilweise in Software-Services aufgeteilt und um umfängliche Daten- und Benutzerschnittstellen erweitert.

Um jedoch flexible, hochdynamische und vernetzte Anlagen zu realisieren, muss die strikte Trennung der Ebenen und der Top-Down-Ansatz des Informationsflusses entsprechend der Automatisierungspyramide immer weiter aufgelöst werden, wie Meudt, Pohl und Metternich in [10] herausarbeiten. Eine weitgehend dezentrale und vernetzte Kommunikationsstruktur wird die zentrale Organisation und Steuerung verdrängen. Im Kern bedeutet das, dass man auch in Zukunft Dienste mit Ordnungsfunktion oder besser Orchestrierungsfunktion brauchen wird, die Tage der SCADA- und MES-Systeme aber gezählt sind. Meudt, Pohl und Metternich reihen sich damit in die Aussagen der Plattform Industrie 4.0 in [4] ein und unterstreichen aber auch, dass eine derartige Umsetzung mit großen zeitlichen, technischen (Integration, Cyber-Security usw.) und finanziellen Bemühungen verbunden ist.

Drath et al. machen in [11] deutlich, wie wichtig es ist, sich bei der Digitalisierung nicht nur auf den eigentlichen Betrieb einer Anlage zu fokussieren, sondern den gesamten Entstehungsprozess zu betrachten (von der Konzeption bis zum Betrieb) und durchgängige Informationsflüsse zu realisieren. Bild 1 stellt vereinfacht den Entstehungsprozess einer Anlage sowie dessen Kernkomponenten und deren Beziehungen dar.

Bild 1 Entstehungsprozess einer Anlage (i. A. an [11])
Bild 1

Entstehungsprozess einer Anlage (i. A. an [11])

Das in Bild 1 dargestellte Ausführungsmodell interagiert mit der physischen Instanz, die es repräsentiert. Das kann bedeuten, dass es sie beispielsweise steuert, mit neuen Parametern versorgt (um auf Änderungen zu reagieren) oder Zustandsdaten erfasst. Je nach Ausprägung ist es auch mit anderen Diensten vernetzt (z. B KI). Seine Funktionen und Fähigkeiten sind durch das entwickelte Funktionsmodell beschrieben, das im Engineering zu einem Instanzenmodell weiterentwickelt und getestet wurde. Drath et al. unterstreichen in [11] auch, dass damit die eigentliche Innovation durch die Software stattfindet, die letztendlich das Instanzenmodell zur Ausführung bringt und die Interaktion mit der realen Welt sicherstellt.

Mit der funktionsorientierten Entwicklung halten damit auch die Methoden des Systems Engineerings Einzug in die Realisierung von industriellen Anlagen. Und mit dem wachsenden Stellenwert der Software gewinnt auch die Anwendung gängiger Software-Entwicklungsmethoden, wie z. B. das V-Modell [12] und DevOps [13], an Bedeutung.

Die Instanzen- und Ausführungsmodelle sind Ausprägungen von sogenannten digitalen Zwillingen, die hier nach der weitläufigen Definition von Stark et al. verstanden werden [14]: Ein digitaler Zwilling ist eine digitale Repräsentation einer Produktinstanz oder einer Instanz eines Produkt-Service-Systems. Diese digitale Repräsentation beinhaltet ausgewählte Merkmale, Zustände und Verhalten der Produktinstanz oder des Systems.

Eigner weist in [15] darauf hin, dass ein digitaler Zwilling drei Elemente braucht:

  • das physische Produkt in der realen Welt,

  • seinen digitalen Doppelgänger in der virtuellen Welt und

  • die Informationen, die beide miteinander verbinden.

Aus Gründen der Performance oder wegen technischer Randbedingungen kann es aber notwendig sein, die Anwendungen und Ausprägung von digitalen Zwillingen je nach Phase im Entstehungsprozess anders zu gestalten. So kann es zum Beispiel im operativen Betrieb der Performance wegen durchaus Sinn ergeben, einen hierfür optimierten digitalen Zwilling einzusetzen [15].

Industrial Metaverse und Brückenschlag in die Realität

Mit der Nutzung des digitalen Zwillings über den Entstehungsprozess hinweg sind zwei weitere Handlungsfelder verbunden:

  • ■ Brückenschlag zwischen der realen und der virtuellen Welt sowie

  • ■ realistische Simulation und Visualisierung hochkomplexer Anlagenabläufe.

Zum Brückenschlag gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Standards, die hier Einsatz finden können. OPC UA, MQTT, REST usw. beschreiben normierte Zugriffsmechanismen bzw. Standardkonnektoren auf physische Instanzen im Internet der Dinge. Auch Kombinationen von Schnittstellenstandards sind möglich. In [16] beschreiben Blöcher, Althoff, Kobzan und Hendel beispielsweise, wie man die Spezifikationen der IEEE 802.1 Time-Sensitive Networking (TSN) Task Group und OPC UA so kombinieren kann, dass ein hochperformanter Informationsfluss ermöglicht wird.

Gerade für die virtuelle Inbetriebnahme ganzer Anlagen, aber auch bei Änderungsevaluierungen oder dem Betriebsmonitoring ist eine möglichst realistische Simulation unabdingbar. In diesem Zusammenhang wird in jüngster Zeit die Realisierung eines Industrial Metaverse immer öfters erwähnt [17]. Da das Industrial Metaverse derzeit aber noch nicht genügend definiert und wissenschaftlich durchdrungen ist, sind die Diskussionen und Beträge dazu derzeit sehr divers. Gelingt es mit dem Industrial Metaverse jedoch, eine Technologie zu schaffen, in der die Grenzen zwischen der realen und der virtuellen Welt quasi aufgehoben werden, dann eröffnet das völlig neue Möglichkeiten, was die Planung, die (Re-)Konfiguration und den Betrieb industrieller Anlagen angeht. Erste Umsetzungen werden derzeit evaluiert [6].

Lösungsansatz

Klassischerweise folgen Optimierungen in Unternehmen einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess: Analyse bekannter Schwachstellen und Unzulänglichkeiten, Vergleich mit Marktführern, Durchführung von Optimierungsmaßnahmen. Wie die Plattform Industrie 4.0 in [4] beschreibt, führt das aber nicht zu den von Dumitrescu et al. in [7] geforderten Sprunginnovationen, und damit auch nicht zu den von der Wirtschaft avisierten Effizienzsprüngen. Ein klassisches Vorgehen ändert auch nichts an der Tatsache, dass es an Fachkräften mangelt, die etwaige Änderungen umsetzen könnten. Und selbst wenn es so wäre, müssen Änderungspläne oftmals schneller geändert werden, als sie realisiert werden können, oder sie werden anders realisiert als geplant. Die Umsetzung erfolgt daher oftmals langsam und die virtuelle (Plan-)Welt stimmt im betrieblichen Umfeld immer weniger mit der Realität überein.

Vom Digitalen Zwilling zum Microservice

Wenn man jedoch, wie in Bild 1 dargestellt, die funktionsorientierte Planung ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, und man aus den resultierenden digitalen Zwillingen smarte Microservices ableitet, die über Standardkonnektoren die physischen Instanzen direkt ansprechen und steuern, dann zeichnet sich eine Lösung ab. Dabei ermöglicht der modellgetriebene Ansatz auch die schnelle Reaktion auf Änderungen und deren direkte Umsetzung in der Realität.

Microservices sind ein Architekturmuster der Informationstechnik, bei dem komplexe Anwendungen aus unabhängigen Prozessen generiert werden [18]. Und da diese Microservices beliebig orchestriert werden können, kann man sie auch zur Steuerung von industriellen Anlagen benutzen und mit weiteren (dezentralen) Diensten kombinieren. So zum Beispiel mit KI-Diensten, die auf Basis von aktuellen Maschinensignalen Ausfallwahrscheinlichkeiten oder Parameteränderungen aufgrund von Werkzeugverschleiß berechnen.

Bis hier hin ist man jedoch immer noch auf der Ebene der Informationstechnologie, der Services und Betriebssysteme. Zwar bekommt man damit die oben beschriebene Forderung nach der Resilienz und der Wandlungsfähigkeit industrieller Anlagen in den Griff, es zahlt aber nicht auf die Herausforderung des Fachkräftemangels ein, im Gegenteil.

Durch Low-Code/No-Code dem Fachkräftemangel entgegnen

Low-Code/No-Code-Entwicklungsplattformen können hier einen Ausweg bieten, wie z. B. Simon in [19] schreibt. Es sind Umgebungen mit visueller Oberfläche, in der Anwender:innen schnell Softwarelösungen per Drag and Drop modellieren können, ohne eine Zeile Softwarecode schreiben oder gar eine Programmiersprache beherrschen zu müssen. Das Angebot und die Nachfrage nach derartigen Plattformen sind aufgrund des Mangels an qualifizierten Softwareentwicklern und Fachkräften sowie der Notwendigkeit, die Durchlaufzeiten für Softwareentwicklungsprojekte zu verringern, über die letzten Jahre massiv gewachsen.

Diese Technologie ermöglicht eine für Anwender:innen intuitiv verstehbare, modellgetriebene Realisierung von Digitalisierungslösungen. Alles, was der/die Anwender:in sieht, ist eine benutzerfreundliche grafische Oberfläche (englisch: Graphic User Interface (GUI)), die es ihm/ihr ermöglicht, Komponenten zu modellieren und/oder aus Bibliotheken einzubinden, diese entsprechend zu orchestrieren, weitere Dienste über Schnittstellen und Konnektoren zu integrieren, das Ganze zu testen und zur Ausführung zu bringen. Anwender:innen können dabei jederzeit die Modelle und Konnektoren verändern, ergänzen, neu anordnen etc., und wiederholt testen, bis das Ergebnis wie erwartet funktioniert.

Angewendet auf die Industrie, könnten so entsprechend eingearbeitete Planer:innen und Anlagenbediener:innen ohne Programmierkenntnisse digitale Zwillinge modellieren, sie im gewünschten Prozess orchestrieren, über Konnektoren mit den physischen Instanzen verbinden, testen und ausführen (vgl. Bild 1). Da die Modelle jederzeit änderbar sind, ist auch die Möglichkeit geschaffen, direkt auf Änderungen zu reagieren und damit aktiv für Flexibilität, Resilienz und Wandlungsfähigkeit zu sorgen. Wie weiter oben beschrieben kann man zudem auf die bewährten Methoden des Systems Engineerings und DevOps zurückgreifen und so die agile Realisierung industrieller Anlagen vorantreiben.

Die Möglichkeit, die Digitalisierung industrieller Anlagen ohne Programmierkenntnisse agil voranzutreiben, stellt einen erheblichen Innovationssprung dar.

Stufenkonzept zur Digitalisierung

Wie eingangs beschrieben, ist es bei der Umsetzung in der industriellen Praxis immer nötig, die durch die Digitalisierung gewonnene Vorteile schnell im jeweiligen Unternehmen präsentieren zu können. Das kann durch ein stufenweises Vorgehen erreicht werden (Bild 2). Die Stufen bauen zwar aufeinander auf, je nach Ausgangssituation und Ziel des anwendenden Unternehmens können jedoch auch Stufen übersprungen und/ oder variiert werden.

Bild 2 Stufenkonzept zur Digitalisierung in der betrieblichen Praxis
Bild 2

Stufenkonzept zur Digitalisierung in der betrieblichen Praxis

Die Stufe 1 zielt darauf, in ersten ausgesuchten Anlagen ein flexibles Monitoring zu realisieren. Dazu werden die ursprünglich oftmals als Blackboxes realisierten Anlagen mit ihren Funktionen und Abläu

fen untersucht, die notwendigen digitalen Zwillinge modelliert, nach Prozessvorgaben orchestriert, und schließlich über Standardkonnektoren mit den physischen Instanzen verbunden. Das Ergebnis ist Transparenz über die Daten und Zustände im oftmals heterogenen Shopfloor-Umfeld, die kontextspezifisch erfasst, ausgewertet und visualisiert werden können.

Stufe 2 nutzt die Ergebnisse von Stufe 1. Hier werden die digitalen Zwillinge mit mehr Intelligenz hinsichtlich Fertigungsqualität und Prozessoptimierung angereichert. Neben dem Monitoring können so auch KI-basierte Algorithmen eingebettet und beispielsweise Use Cases zum Predictive Maintenance realisiert werden. Außerdem werden Ausfallzeiten reduziert, indem beispielsweise die Fehlerfrüherkennung erhöht wird.

Während Stufe 1 auf der herstellerneutralen Verbindung der virtuellen mit der realen Welt beruht und auf Zustandsmonitoring und Auswertungen zielt, liegt der Fokus von Stufe 2 auf der Optimierung von Wertströmen. Stufe 3 baut darauf auf. Es werden dabei die in den vorherigen Stufen gemachten Erfahrungen und Ergebnisse auf ganze Fabriken übertragen. Orchestrierte intelligente digitale Zwillinge übernehmen die Steuerung. Da der zugrundeliegende modellgetriebene Ansatz jederzeit Änderungen ermöglicht, geht mit der Stufe 3 die Realisierung der resilienten Fabrik einher.

Zuletzt steht die Stufe 4. Sie zielt auf die Vernetzung, Orchestrierung und Visualisierung von Abläufen sowie das Testen und Steuern resilienter Anlagen und Fabriken über alle Grenzen hinweg (z. B. Anpassungen aufgrund von Produktänderungen und/oder Lieferengpässen, Produktionsverlagerungen, Lastausgleiche).

Umsetzungsbeispiel

Im vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderten Projekt FabOS (www.fab-os.org) wurden entsprechende Technologien im Rahmen eines Use Cases umgesetzt (Förderkennzeichen: 01MK20010P). FabOS hat sich zum Ziel gesetzt, den IT-Backbone für die wandlungsfähige und flexible Automatisierung der Fabrik der Zukunft zu realisieren.

In einem Use Case wurden die oben beschriebenen Ansätze adressiert und in einem Demonstrator bis einschließlich Stufe 2 umgesetzt. Dazu wurde exemplarisch die ASCon Automation Plattform eingesetzt, die dem Low-Code/No-Code-Paradigma folgt. Im Demonstrator wurden die durch Sensoren, Aktoren und Anlagenteile bereitgestellten Funktionen zu einem cyberphysischen Gesamtsystem integriert und die Produktionsprozesse abgebildet. Neben der Orchestrierung und der Steuerung der Anlage lag ein besonderes Augenmerk auf der Datenerfassung, der Validierung einer im Projekt entwickelten Schnittstelle und der Weiterverarbeitung dieser Daten für Services zur automatisierten Prozessoptimierung und Predictive Maintenance.

Der von Geisel und Winkelhake in [20] beschriebene Anlagendemonstrator besteht aus einem Cobot, einer Messstation und einem Doppelgurtband. Die Produkte werden auf Werkstückträgern mit entsprechenden Haltevorrichtungen durch die Anlage bewegt. Im Demonstrator wird ein Produkt nach dem Einlaufen in die Messstation vermessen und die Ergebnisse so an den Cobot übergeben, dass dieser später auf Basis dieser Messwerte das spezifische Produkt passgenau handhaben kann. Der Gesamtaufbau des Demonstrators ist in Bild 3 gezeigt.

Bild 3 Verkettete automatisierte Demonstratoranlage mit Messstation und Cobot
Bild 3

Verkettete automatisierte Demonstratoranlage mit Messstation und Cobot

Klassischerweise werden solche Anlagen mithilfe von SPS gesteuert, die von Fachkräften anlagenspezifisch programmiert werden. In diesem Fall wurden zur Interaktionssteuerung der Anlagenkomponenten digitale Zwillinge grafisch modelliert, mit Standardkonnektoren versehen, im Prozess grafisch orchestriert und daraus automatisiert Microservices abgeleitet, die dann die physischen Instanzen direkt ansprechen und steuern. Dadurch, dass die Kommunikation von der Steuerungslogik entkoppelt ist, lässt sich die Ablauflogik flexibel ändern oder beispielsweise auch Anlagenkomponenten durch andere austauschen. Die Demonstratoranlage arbeitet somit nicht auf Basis einer klassischen programmierten SPS-Steuerung, sondern wird direkt über die digitalen Zwillinge gesteuert. Dabei werden auch alle Informationen in ihrem Kontext erfasst, was es ermöglicht, Zustände und Fehlentwicklungen auf einem Betriebsmonitor anzuzeigen.

Zusammenfassung und Ausblick

Die Zukunft des Standorts Deutschland ist direkt von seiner Innovationsfähigkeit abhängig, und damit auch vom Erfolg der Digitalisierung in der Industrie. Doch der Fachkräftemangel und der fehlende Nachweis eines direkten wirtschaftlichen Nutzens in den jeweiligen Unternehmen stellt oft ein Hemmnis zur Umsetzung dar.

In diesem Beitrag wurde gezeigt, wie der Einsatz von Low-Code/No-Code-Entwicklungsumgebungen in der Planung und im Betrieb von Anlagen den Auswirkungen des Fachkräftemangels aktiv entgegenwirken kann. Planer:innen und Anlagenbediener:innen können Anlagen ohne Programmierkenntnisse planen und getestet zur Ausführung bringen. Es wurde auch gezeigt, dass durch konsequente modellbasierte Vorgehensweisen digitale Zwillinge einfach grafisch modelliert und daraus automatisiert Microservices abgeleitet werden können, die herstellerneutral über Standardkonnektoren mit den jeweiligen physischen Instanzen interagieren und Anlagen dadurch steuern können. Dabei wurde auch herausgestellt, dass hierbei jederzeit schnell Änderungen vorgenommen werden können, was die Forderungen nach Resilienz und Wandlungsfähigkeit von Fabriken adressiert. Etwaige Lösungen können stufenweise in den Betrieben eingeführt werden, sodass man pro Stufe schnell den jeweiligen wirtschaftlichen Nutzen aufzeigen und auch weitere Schritte planen kann. Schließlich wurde die praktische Umsetzung an einer Demonstratoranlage gezeigt.

Um die funktionsorientierte Vorgehensweise im Anlagenentstehungsprozess weiter zu etablieren, bedarf es noch zusätzlicher Forschungsaktivitäten. Zudem ermöglicht modellgetriebene Entwicklung von Anlagen zwar deren Steuerung über Microservices, aber um beispielsweise komplexere Simulationen bei der virtuellen Inbetriebnahme durchführen zu können, braucht es die Integration von weiteren Informationsquellen (z. B. Layout, Elektrokonstruktion, 3D-Repräsentation, Logistik) und Werkzeugen, die es eingearbeiteten Menschen ermöglichen, dass alles noch zu bedienen. Hierzu könnte die Realisierung des Industrial Metaverse beitragen. Im vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderten Projekt Werk 4.0 (Förderkennzeichen: 13IK022G), das dieses Jahr gestartet wurde, soll dies in einem Teilprojekt weiter untersucht werden.


Hinweis

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen von den Mitgliedern des ZWF-Advisory Board wissenschaftlich begutachteten Fachaufsatz (Peer-Review).



Tel.: +49 (0) 711 2585-890

Open Access. © 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizensiert unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.


About the author

Dr.-Ing. Steven Vettermann

Dr.-Ing. Steven Vettermann, geb. 1971, studierte Maschinenbau an der TU Darmstadt und promovierte dort zum Thema IT-Security im kollaborativen Produktdatenmanagement. Von 2004 bis 2010 leitete er das technische Programm des ProSTEP iViP Standardisierungsvereins, dessen Geschäftsstellenmanagement er danach bis 2017 übernahm. Dann führte er über vier Jahre die Systems-Engineering-Aktivitäten der PROSTEP AG an. Hier war er auch für die Realisierung eines neuartigen Digital-Thread-Softwareprodukts verantwortlich. Seit 2022 leitet er ganzheitlich die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten der ASCon System Holding GmbH, einem jungen Software-Hersteller aus Stuttgart, der sich der innovativen Prozessautomatisierung verschrieben hat.

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Published Online: 2023-03-16
Published in Print: 2023-03-31

© 2023 Steven Vettermann, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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