Dieses im Umfang überschaubare Buch verdient gleichwohl ohne Zweifel besondere Beachtung in der Religionspädagogik. Veröffentlichungen zur religionspädagogischen Fragen oder zum Religionsunterricht – der hier trotz des Bezugs auf „interkulturelle Bildung“ mitgemeint ist – aus der Perspektive der europäischen Politik sind noch immer selten, auch wenn sich seit dem 11. September 2001 in dieser Hinsicht durchaus bemerkenswerte Veränderungen vollzogen haben. Religion und religionspädagogische Fragen insbesondere im Blick auf interreligiöse Bildung sind in neuer Weise zu einem Thema der Politik geworden. Das vorliegende Buch ist allerdings keine Veröffentlichung des Europarats (worauf auch ausdrücklich hingewiesen wird), gehört aber gleichwohl in dessen Umkreis, wie die Geleitworte von Snežana Samardžić-Marković als Director General of Democracy und Gabriele Mazza als Chair of the Joint Expert Group Council of Europe/Wergeland Centre (Norwegen) deutlich machen. Inhaltlich schließt die Veröffentlichung an die Recommendation CM/Rec(2008)12 des Committee of Ministers to member states on the dimension of religions and non-religious convictions within intercultural education an. Sie kann auch in einer Reihe mit den 2007 vorgelegten Toledo guiding principles on teaching about religions and beliefs in public schools (ODIHR advisory council of experts on freedom of religion or belief, Warschau 2007) gesehen werden, auf die mehrfach Bezug genommen wird, oder mit der Veröffentlichung Religious diversity and intercultural education: a reference book for schools (hg. v. J. Keast, Strasburg 2007, ebenfalls beim Europarat erschienen).
Veröffentlichungen dieser Art sind zunächst einmal erfreulich, weil sie die politische Anerkennung von Religionspädagogik und Religionsunterricht durch die europäische Politik belegen. Offenbar wächst das Bewusstsein dafür, dass interkulturelles und interreligiöses Lernen in einer multikulturellen und eben immer auch multireligiösen Gesellschaft eine zentrale pädagogische Aufgabe darstellen muss, wenn ein Zusammenleben in Frieden und Toleranz, wechselseitigem Respekt und Anerkennung gelingen soll. Gegenüber mitunter von einem laizistischen Denken bestimmten Auffassungen ist dies eigens zu würdigen – religionspädagogisch gesehen als ein deutlicher Fortschritt. Dem steht auch die Enttäuschung nicht entgegen, die einleitend von Gabriele Mazza darüber geäußert wird, dass der genannten Empfehlung von 2008 „keinerlei feststellbare Form der Implementation oder der erkennbaren Wirkung in nationalen Kontexten“ gefolgt sei (7). Ob die vorliegende Veröffentlichung allerdings auch schon geeignet ist, den Gründen für diese Enttäuschung wirksam zu begegnen und das angestrebte Lehren und Lernen voranzubringen, wird unten noch genauer – und kritisch – zu bedenken sein.
Zunächst aber soll es um eine Würdigung des Buches selbst gehen, das vor allem Unterstützung für die weitere Ausgestaltung des Unterrichts „über Religionen und nicht-religiöse Weltanschauungen in der interkulturellen Bildung“ dienen soll. Dazu wird die Empfehlung von 2008 vorgestellt und interpretiert (Kap. 1) und die vorliegende Veröffentlichung in Ausrichtung und Zielsetzung vorgestellt (Kap. 2). Es geht, wie ausdrücklich hervorgehoben wird, um eine Darstellung, die von vornherein nicht auf einen Unterricht in Religion zielen soll und also nicht auf eine Initiation in religiösen Glauben (21). Nicht „religiöses Verstehen“, sondern „Religionen verstehen“ sei Aufgabe „öffentlicher Bildung“ (22). Hier wird bereits deutlich, dass es – mit den in Deutschland üblichen Begriffen formuliert – nicht um Religionsunterricht geht, sondern um Religionskunde oder, mit dem Titel der Veröffentlichung gesprochen, um „teaching about religion“ – in einer religiös- oder weltanschaulich-neutralen Art und Weise.
Nach einer knappen Einführung in die Terminologie (Kap. 3) folgt die Darstellung von zwei exemplarischen didaktischen Ansätzen (Kap. 4). Zum einen handelt es sich um den „Interpretativen Ansatz“ von Robert Jackson (Warwick), Hauptautor der vorliegenden Veröffentlichung (dem deshalb auch aus Sicht des Rezensenten besonderer Dank der Zunft gehört), zum anderen um den dialogischen Ansatz von Julia Ipgrave (ebenfalls Warwick).
Kapitel 5 beschreibt das Klassenzimmer als „sicheren Raum“, wie er gerade bei der Diskussion kontroverser Fragen erforderlich sei. Als Beleg dafür werden u. a. Ergebnisse des REDCO-Projekts angeführt. Auch die Bedeutung von Medien – sowohl im Blick auf die Thematisierung von Religion in den Medien als auch im Blick auf mediale Ressourcen für den Unterricht über Religionen – findet eigene Beachtung (Kap. 6).
Kapitel 7 und 8 besitzen ebenfalls besonderes Gewicht, mit dem Schwerpunkt auf „nicht-religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen“ einerseits und Menschenrechtsfragen andererseits. Bei den „nicht-religiösen Überzeugungen und Weltanschauungen“, die bereits in der Empfehlung von 2008 hervorgehoben werden, stellt sich naturgemäß das auch hier aufgenommene Problem, dass nicht ohne weiteres zu sagen ist, an welche Überzeugungen und Anschauungen dabei eigentlich gedacht werden soll. So bietet das Kapitel vor allem Erörterungen und Anstöße zu einer weiteren Differenzierung dieses Bereichs, beispielsweise mit der Unterscheidung zwischen „organisierten“ und „persönlichen“ Weltanschauungen (S. 71) oder mit dem Hinweis auf die in den nordischen Ländern verbreiteten Ansätze zu einem Unterricht in „Lebensanschauungen“, die nicht religiös sein müssen (73) – wobei dennoch, auch nach Auffassung der Vf., viele Fragen offen bleiben. Schon die angemessene Berücksichtigung „nicht-religiöser Überzeugungen“ ist eine Frage der Religionsfreiheit und betrifft insofern auch die Menschenrechte (67). Zugleich stellen sich solche Fragen aber auch im Blick auf religiöse Überzeugungen, die sich etwa nicht mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen in Einklang bringen lassen. Insofern erfordert der Umgang mit entsprechenden Themen und Fragen besondere pädagogische Sensibilität – wobei Signposts dem Staat allerdings eine auch fragwürdige Machtposition zuzusprechen scheint, wenn Staaten – in Aufnahme europäischer Rechtsprechung – einfach als „‘neutral and impartial‘ regulators of religious life“ bezeichnet werden und also eine regulierende Rolle im Verhältnis zu Religion und Religionen übernehmen sollen (84). Hier könnte leicht ein Verstoß gegen die Trennung von Staat und Religion drohen – mit der möglichen Folge der Verletzung religiöser Freiheitsrechte. Der Staat hat die Religionsfreiheit zu schützen – im Rahmen aller anderen Rechte, die auch aus religiösen Gründen nicht verletzt werden dürfen –, aber das religiöse Leben „regulieren“ darf der Staat nicht. In Deutschland wurde dies praktisch etwa bei frühen Diskussionen um das Brandenburger Schulfach LER deutlich, das anfangs den Anspruch erheben wollte, die Zukunftsfähigkeit von Religionen zu beurteilen.
Kapitel 9 behandelt die Verbindung zwischen dem Schulunterricht und den Religionsgemeinschaften und Organisationen. Gedacht ist dabei allerdings eher an punktuelle Begegnungen und an in den Unterricht eingeladene Besucher, während etwa das in Deutschland übliche Modell einer grundlegenden und rechtlich geregelten Verbindung zwischen dem Religionsunterricht und den Religionsgemeinschaften im Sinne von Artikel 7,3 des Grundgesetzes keine Berücksichtigung findet.
Am Ende steht ein Ausblick auf weitere Aufgaben von Praxis und Forschung (Kap. 10). Ein Anhang dokumentiert den Text der Empfehlung von 2008 in voller Länge.
Vieles, was in diesem Buch dargestellt wird, verdient aus religionspädagogischer Perspektive große Zustimmung. Dabei ist es noch kein Einwand, dass vieles davon im Vergleich zur religionspädagogischen Diskussion in Deutschland kaum Neuheitswert besitzt – damit allerdings auch kaum die entsprechende Praxis befördern kann. Es handelt sich um einen politischen Text, dem aus der Perspektive der Religionspädagogik in Deutschland vor allem deshalb Bedeutung zukommt, weil er als ein solcher für eine neue Anerkennung von Religionspädagogik und Religionsunterricht steht.
Ob damit allerdings die Empfehlung von 2008 – über die eingangs genannte Enttäuschung hinaus – mehr Gehör und praktische Beachtung finden wird? Dagegen spricht, dass der Text sehr stark von Erfahrungen und Begrifflichkeiten aus dem Vereinigten Königreich geprägt ist. Die deutsche Religionspädagogik und auch der Religionsunterricht hierzulande werden sich von vornherein damit schwertun, sich mit den hier angebotenen Kategorien anzufreunden. Gedacht wird hier eben doch ganz gemäß der im Vereinigten Königreich maßgeblichen Überzeugung, dass es eben einen Unterricht über Religion gibt und einen Unterricht in Religion. Tertium non datur? Immerhin findet sich auch der Gedanke, dass die vorgestellten Perspektiven anderen Kontexten angepasst werden können, aber dabei ist dann von „faith-based education“ die Rede, was schon kategorial kaum auf den hierzulande üblichen Religionsunterricht zu passen scheint (16).
Es ist zu würdigen, dass die Veröffentlichung immer wieder auch um eine dialogische Öffnung der eigenen Modellvorstellungen zum schulischen (Religions-)Unterricht bemüht ist. Zugleich bleiben in dieser Hinsicht aber auch Wünsche offen. Das zeigt sich schon bei den Beispielen und Erfahrungen, auf die im Buch immer wieder zurückgegriffen wird: Es handelt sich in erster Linie um solche aus dem Vereinigten Königreich oder aus den Nordischen Ländern, die dabei vielfach auf Impulse aus dem Vereinigten Königreich zurückgreifen.
Hauptautor der Studie ist, wie gesagt, der englische Religionspädagoge Robert Jackson. Mit Peter Schreiner (Comenius-Institut) ist erfreulicherweise auch ein Kollege aus Deutschland beteiligt. Nicht einbezogen war hingegen die universitäre Religionspädagogik in Deutschland, weder von evangelischer oder katholischer noch von jüdischer oder muslimischer Seite. Erfahrungen mit dem Religionsunterricht hierzulande spielen in der Veröffentlichung bestenfalls am Rande eine Rolle.
Schon die Empfehlung von 2008 hatte in Deutschland (und anderen Ländern) bekanntlich eine auch kritische Diskussion ausgelöst, eben weil sich die Empfehlung so nachdrücklich für einen religionskundlichen Unterricht über Religion auszusprechen scheint und Religion (nur) als „kulturelles Faktum“ thematisieren will (118). Insofern war und ist die Freude über solche Veröffentlichungen nicht ungeteilt. Die durchaus überzeugende Intention, dass der Religionsunterricht in wichtiger Weise zu einem gelingenden Zusammenleben beitragen kann, dürfte eher zum Tragen kommen, wenn auch die entsprechenden Veröffentlichungen aus der europäischen Politik von vornherein einen stärker multi-nationalen Ansatz verfolgen würden. Ob es klug ist, die Federführung dabei gerade nach England zu geben oder auch sonst an ein einzelnes Land, bleibt gewiss auch in Zukunft eine Frage politischer Weisheit.
Eine weiterreichende Befassung mit diesem Thema würde nicht zuletzt auch eine detaillierte Auseinandersetzung mit staats- bzw. religionsrechtlichen Fragen erfordern. Eine allein staatlich verantwortete Religionskunde dürfte in ihrem Beitrag zur interreligiösen Verständigung durchaus begrenzt bleiben.
Insofern steht diese Veröffentlichung für einen Prozess, der erfreulicherweise mehr und mehr in Gang zu kommen scheint, der sein Ziel aber noch lange nicht erreicht hat. Vielleicht kann es ja einmal gelingen, solche Veröffentlichungen auf einer breiteren Basis und dann auch in zustimmungsfähigerer Form zu erarbeiten. Dialogische Offenheit auch über eine neutrale Religionskunde hinaus dürfte dabei eine wesentliche Voraussetzung sein.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
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- Artikel
- Editorial
- Die Professionalisierung des Religionslehrerberufs als Aufgabe und Gegenstand religionspädagogischer Forschung. Historische und systematische Perspektiven
- Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus – Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerausbildung
- Etwas im Religionsunterricht bewegen: Zur Integration von Theorie und Praxis beim professionellen Lernen von Lehrkräften
- Das Bild der Lehrkraft und dessen Impulse für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern
- Religiöse Bildung und religiöse Literacy – eine professionelle Aspiration?
- „Professionell sein“ – Professionalität im Verständnis von Religionslehrerinnen und -lehrern (1997–2014)
- Die professionelle Entwicklung von Lehramtsstudierenden mit Unterrichtsfach Religion: Befunde, Interpretationen und Implikationen
- Vergleichende historische Religionspädagogik – methodologische Überlegungen
- Signposts – Policy and practice for teaching about religions and non-religious world views in intercultural education, 2014
- Charles Clarke, Linda Woodhead: A New Settlement: Religion and Belief in Schools. 2015. Adam Dinham, Martha Shaw: RE for REal. The Future of Teaching and Learning about Religion and Belief. 2015.
- Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz, Thomas Schlag (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! 2011.
- Bert Roebben, Katharina Kammeyer (Eds.): Inclusive Religious Education. International Perspectives. 2014.
- David Käbisch, Johannes Träger, Ulrike Witten, Jens Palkowitsch-Kühl (Hg.): Luthers Meisterwerk – Eine Bibelübersetzung macht Karriere. Bausteine für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. 2015.
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- Die Professionalisierung des Religionslehrerberufs als Aufgabe und Gegenstand religionspädagogischer Forschung. Historische und systematische Perspektiven
- Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus – Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerausbildung
- Etwas im Religionsunterricht bewegen: Zur Integration von Theorie und Praxis beim professionellen Lernen von Lehrkräften
- Das Bild der Lehrkraft und dessen Impulse für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern
- Religiöse Bildung und religiöse Literacy – eine professionelle Aspiration?
- „Professionell sein“ – Professionalität im Verständnis von Religionslehrerinnen und -lehrern (1997–2014)
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- Vergleichende historische Religionspädagogik – methodologische Überlegungen
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- Charles Clarke, Linda Woodhead: A New Settlement: Religion and Belief in Schools. 2015. Adam Dinham, Martha Shaw: RE for REal. The Future of Teaching and Learning about Religion and Belief. 2015.
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