Der schulische Religionsunterricht in Großbritannien ist weiter in Bewegung. Die demographischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte und insbesondere die weiter abnehmende Zahl der Kirchgänger in den klassischen Großkirchen führt dazu, dass die bisherige Position und didaktische Konzeption des Religionsunterrichts erneut grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt wird. Zudem haben eine Reihe von Untersuchungen aus jüngster Zeit zur Erteilung, Wirksamkeit und Reputation des Faches, hier insbesondere die sogenannten OFSTED-Berichte, dazu geführt, dass von verschiedener Seite aus nach einer zukunftsfähigen Form religiöser Bildung im schulischen Kontext gefragt wird. Die bisherige Charakterisierung des schulischen Religionsunterrichts in England und Wales als eines nicht konfessionellen Unterrichts im „multi-faith“-Kontext dürfte insofern über kurz oder lang hin zu einer Art religionskundlich-weltanschauungsoffenem Unterricht zu revidieren sein.
Es sind nun insbesondere zwei Studien, die hier gegenwärtig die Diskussionsdynamik stark bestimmen: Von einer stark religionssoziologischen und auch (religions-)didaktischen Grundlegung aus werden der gegenwärtige Stellenwert des Religionsunterrichts analysiert, die Erwartungen der beteiligten Akteurinnen und Akteure erhoben und von dort aus mit erheblichem bildungspolitischen Gestaltungsanspruch konkrete Überlegungen und Forderungen zur Zukunft des Faches angestellt:
Die von Charles Clarke, ehemaliger Bildungsstaatssekretär und Linda Woodhead, Religionssoziologin in Lancaster vorgelegte Studie basiert zum einen auf den Einsichten ihres groß ausgelegten Forschungsprogramms „Religion and Society“ (2006–2013), das detailliert die Veränderungen der religiösen Landschaft in Großbritannien näher erhoben hat, zum anderen auf einer Reihe von Westminster Faith Debates, die sich dieser Thematik seit dem Jahr 2012 intensiver gewidmet und für große öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt haben. Die an der Universität London im Bereich der Religionsforschung („Faith and Public Policy“/“Faiths and Civil Society“) Lehrenden Adam Dinham und Martha Shaw legen eine empirische Umfrage vor, von der sie ebenfalls konkrete Schlüsse für die weitere Entwicklung des Religionsunterrichts ableiten.
Beide Studien sind sowohl durch die daran beteiligten Personen, den wissenschaftlichen Zugriff auf die Thematik wie auch die formulierten Konsequenzen für die zukünftige Ausgestaltung des Faches und seiner Rahmenbedingungen eng miteinander verbunden.
Dinham und Shaw haben in einer qualitativen Befragung von Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrkräften und bildungspolitischen Akteuren höchst interessante Einsichten in die gegenwärtige Wahrnehmung und die damit verbundenen Erwartungen an das Fach gewonnen. In den Aussagen der Befragten spiegelt sich sehr deutlich sowohl das erhebliche Interesse an der Religionsthematik, die sehr deutliche Abgrenzung von allen Formen bekenntnisorientierter oder konfessioneller Enge wie auch die unbedingte Forderung nach nationalen Rahmenbedingungen eines spezifischen Lehrplans, der so bisher nicht existiert, wider. Auch wenn also die Zugehörigkeit, religiöse Praxis und persönliche Bindung an eine konkrete Religionsgemeinschaft deutlich nachgelassen hat, ist das Thema Religion offenkundig für alle Befragten keineswegs vom Tisch. Im Gegenteil wird gerade von der schulischen Bildung, sei sie nun an öffentlichen oder Privatschulen angesiedelt, Erhebliches für die Kenntnisnahme, aber erstaunlicherweise auch für die persönliche, moralische und spirituelle Entwicklung der Schülerinnen und Schüler erwartet.
Sehr deutlich wird die Überzeugung artikuliert, dass die bisherige Fundierung des Faches, wie sie insbesondere durch den 1944 grundgelegten „Education Act“ und der Rede von „religious instruction“, im Jahr 1988 durch den sogenannten „Education Reform Act“ mit der Rede von „religious education“ und schließlich durch das 2004 durch die „“Qualification and Curriculum Authority“ erlassene „Non-statuary framework“ vorgenommen wurde, angesichts der religionsdemographischen Entwicklungen so nicht länger haltbar sei: „We suggest today, seventy years after the historic 1944 agreement, it is time for a fresh settlement which reflects the very substantial changes which have taken place in both the practice of religion in England and the nature of our school system. Such a settlement needs to address these significant changes, and to find the best way of equipping schools to educate young people so that they are prepared for life now and in the future.“ (A New Settlement, 15)
Interessanterweise plädieren nun allerdings beide Studien nicht dafür, Religion als Fach oder als Thema am Ort der Schule abzuschaffen oder gar als eine vernachlässigbare Größe gleichsam endgültig zu verabschieden. Vielmehr sehen es die Autorinnen und Autoren angesichts der gegenwärtigen globalen und nationalen religionspolitischen Konflikte, aber auch der „confusion about the purpose and aims of RE“ (A New Settlement, 30) als unbedingt notwendig an, dem Religionsunterricht in verschiedener Hinsicht eine neue und stabile Gestalt zu geben – und dies nicht zuletzt angesichts der zunehmenden lokalen Ausdifferenzierungen und Inkonsistenzen in der Erteilung und didaktischen Gestalt des Faches.
Aus Sicht der Verfasser ist es dazu insbesondere notwendig, um der Stärkung der „Religious Literacy“ willen im Sinne eines nationalen Lehrplans (“National Framework for Religion and Belief Learning“) hier – auch durch die stärkere nationale Vernetzung der bildungspolitischen Akteure (“National framework panel“) die notwendigen Rahmenbedingungen für die Erteilung eines obligatorischen Faches zu schaffen, die entsprechende Ausbildung der Lehrkräfte – sowohl der „subject-specialist RE teachers“ wie auch der „non-specialis teachers of religion and belief“ – deutlich zu intensivieren und zu professionalisieren sowie auch die konfessionellen Privatschulen in ihrem Bestand und in ihrer besonderen Zugangsweise zum Fach zu stärken.
Darüber hinaus fordern sie, dass Religion nicht einfach in ein spezifisches Fach gleichsam abgeschoben wird, sondern zum festen Bestandteil des nationalen Curriculums und damit zum selbstverständlichen Fach an der Schule überhaupt wird. Clarke und Woodhead kritisieren in diesem Zusammenhang sehr deutlich Überlegungen, die die Religionsthematik überhaupt aus der schulischen Wirklichkeit zu verbannen trachten: „In the current situation, such secularist or ‚separationist‘ approaches risk reducing general religious literacy and good state-religion relations at a time when they are most urgently needed“ (A New Settlement, 8).
Damit verbindet sich interessanterweise die Grundentscheidung – die sich in der doppelten Terminologie von „Religion and belief“ niederschlägt –, dass sehr viel stärker und eindeutiger als bisher sowohl die Diversität unterschiedlicher Religionen thematisiert als auch nicht-religiöse Weltanschauungen mit in die Thematisierung von Religion innerhalb der Schule einfließen sollen. Auch „beliefs“ jenseits religiöser Bekenntnisse und verfasster Religionsgemeinschaften sollen somit einen festen Ort im Unterricht, im Curriculum und zugleich auch in Fächern über den bisherigen klassischen Religionsunterricht hinaus erhalten. Dabei soll ganz bewusst ein Fokus auf „contemporary issues and the role of religion and belief in current affairs and controversies“ (RE for Real, 28) gelegt werden. Unverkennbar steht hinter diesen Forderungen einer nachhaltigen Umgestaltung des Faches auch die gegenwärtige Erfahrung des sehr viel schwieriger gewordenen Zusammenlebens unterschiedlicher Religionsangehöriger und -gemeinschaften in Großbritannien. Von daher wird im Sinne gesellschaftlicher Kohäsion die Aufgabe des zukünftigen schulischen Faches wie folgt bestimmt: „This will help ensure that Islamist and other extremist ideas are tackled by way of serious critical discussion in the classroom, in the context of a proper engagement with religious and non-religious-traditions. We believe that this offers a more robust and effective way of dealing with extremist beliefs amongst young people than driving such ideas underground or presenting ‘British values' as a kind of ‘counter-propaganda'.“ (A New Settlement, 48)
Dass sich dieser Entwicklungskatalog zugleich mit Überlegungen verbindet, den Namen des Faches überhaupt zu verändern, kann von daher kaum erstaunen: Immerhin scheint es sowohl unter Schülerinnen und Schülern wie auch unter Eltern die Einschätzung zu geben: „Some want a name change, saying they think ‚RE‘ puts young people off.“ (RE for REal, 19). Ganz offenkundig hat jedenfalls in der Wahrnehmung der Jugendlichen wie auch der Eltern die enge Konzentration auf nur wenige konfessionelle oder religiöse Traditionen im Unterricht angesichts der globalen Entwicklungstendenzen nur wenig Plausibilität für sich.
Beide Studien legen folglich sehr dezidierte Thesen zur notwendigen Weiterentwicklung des Religionsunterrichts vor, die im Sinne eines auch zukünftig obligatorischen Faches die pädagogisch verantwortete Thematisierung im schulischen Kontext durch seine klare akademische Verankerung in der Aus- und Weiterbildung der professionell tätigen Lehrpersonen gewährleisten sollen. Bedenkenswert ist ferner, dass in beiden Studien etwa die Transformation der Religionsthematik hin in ein reines Fach Ethik so deutlich wie entschieden abgelehnt wird.
Insofern zeigt sich am Beispiel der bildungspolitischen Debatten in Großbritannien, dass der schulischen Bildung nach wie vor erhebliche Bedeutung für die Thematisierung wie auch für den konstruktiven Umgang mit Religion und den damit verbundenen religionspolitischen Konflikten beigemessen wird – vielleicht nicht die schlechteste Ausgangslage für die zukünftige Plausibilität des Religionsunterrichts im öffentlichen Bildungsspektrum. Angesichts der mit den Studien verbundenen bzw. hinter ihnen stehenden Netzwerke von Beiräten und weiteren Forscherinnen und Forschern kann auch tatsächlich davon ausgegangen werden, dass diese Forderungen nicht ungehört verhallen und das Erscheinungsbild religiöser Bildung am Ort der Schule in den kommenden Jahren sehr stark prägen werden. Ob man sich davon Inspirationen für die weiteren Entwicklungen in anderen Ländern, sei es für die Frage didaktischer Standards, die Ausweitung des Faches auf den weiteren Horizont anderer Religionen und Weltanschauungen oder auch für eine grundständige Ausbildung in Sachen Religion von Lehrkräften anderer Schulfächer als des Religionsunterrichts erwarten darf, wird gespannt zu beobachten sein.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Titelseiten
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- Artikel
- Editorial
- Die Professionalisierung des Religionslehrerberufs als Aufgabe und Gegenstand religionspädagogischer Forschung. Historische und systematische Perspektiven
- Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus – Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerausbildung
- Etwas im Religionsunterricht bewegen: Zur Integration von Theorie und Praxis beim professionellen Lernen von Lehrkräften
- Das Bild der Lehrkraft und dessen Impulse für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern
- Religiöse Bildung und religiöse Literacy – eine professionelle Aspiration?
- „Professionell sein“ – Professionalität im Verständnis von Religionslehrerinnen und -lehrern (1997–2014)
- Die professionelle Entwicklung von Lehramtsstudierenden mit Unterrichtsfach Religion: Befunde, Interpretationen und Implikationen
- Vergleichende historische Religionspädagogik – methodologische Überlegungen
- Signposts – Policy and practice for teaching about religions and non-religious world views in intercultural education, 2014
- Charles Clarke, Linda Woodhead: A New Settlement: Religion and Belief in Schools. 2015. Adam Dinham, Martha Shaw: RE for REal. The Future of Teaching and Learning about Religion and Belief. 2015.
- Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz, Thomas Schlag (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! 2011.
- Bert Roebben, Katharina Kammeyer (Eds.): Inclusive Religious Education. International Perspectives. 2014.
- David Käbisch, Johannes Träger, Ulrike Witten, Jens Palkowitsch-Kühl (Hg.): Luthers Meisterwerk – Eine Bibelübersetzung macht Karriere. Bausteine für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. 2015.
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- Die Professionalisierung des Religionslehrerberufs als Aufgabe und Gegenstand religionspädagogischer Forschung. Historische und systematische Perspektiven
- Profession, Professionalisierung, Professionalität, Professionalismus – Historische und systematische Anmerkungen am Beispiel der deutschen Lehrerausbildung
- Etwas im Religionsunterricht bewegen: Zur Integration von Theorie und Praxis beim professionellen Lernen von Lehrkräften
- Das Bild der Lehrkraft und dessen Impulse für die Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern
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- Vergleichende historische Religionspädagogik – methodologische Überlegungen
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- Charles Clarke, Linda Woodhead: A New Settlement: Religion and Belief in Schools. 2015. Adam Dinham, Martha Shaw: RE for REal. The Future of Teaching and Learning about Religion and Belief. 2015.
- Thomas Klie, Martina Kumlehn, Ralph Kunz, Thomas Schlag (Hg.): Lebenswissenschaft Praktische Theologie?! 2011.
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