Leben steht heute hoch im Kurs. Menschen in der „Erlebnisgesellschaft“ suchen zusehends gesteigertes und erfülltes Leben im „Projekt des schönen Lebens“. Und den Versprechungen der „Life Sciences“ auf gesteigerte Lebensfreude kann man kaum noch entkommen. Die Grundlagenforschung auf dem breiten Feld der Bio-Wissenschaften (Biomedizin, Biochemie, Molekularbiologie, Bioinformatik, Agrartechnologie u. a.) und entsprechende Vermarktung der Produkte sind mit ungeheurem finanziellem Aufwand gepuscht worden. Unser Wissen vom Leben ist seit der Entschlüsselung des Genoms grundlegend verändert worden.
Für jede Lehrkraft im RU dürfte es selbstverständlich sein, dass insbesondere in diesem Fach der Ort ist, nach dem „Sinn des Lebens“ zu fragen. Jeder schulische Praktiker weiß: Fragen z. B. nach dem Verhältnis von Evolutionsbiologie und Schöpfungsglaube stehen bei Jugendlichen nach wie vor hoch im Kurs. Schaut man sich allerdings nach Material für den RU in der Schule um, sieht es demgegenüber eigentlich dürftig aus. Und es gibt Schulbücher wie „Leben gestalten“ (kath.; Gymnasien; „Leben lernen“. Aber googelt man zu „Leben als Thema des RUs“, so sieht es ganz dürftig aus.
So unbestreitbar Leben ein Zentralthema der christlichen Botschaft ist, so schlecht ist es gleichzeitig um Lebensnähe und Lebensbedeutsamkeit kirchlicher Vermittlung dieser Botschaft in den Augen vielen Zeitgenossen bestellt. Daraus folgt für die Theologie, die die Herausforderungen der Gegenwart annimmt, dass sie insbesondere nicht den Bio-Wissenschaften den Monopolanspruch auf „life science“ überlassen darf. In Richtung solcher Bemühungen lese ich den Band „Lebenswissenschaft Praktische Theologie“, der aus einer interdisziplinären Tagung an der Universität Rostock hervorgegangen ist.
Unter zwei größere Rubriken sind die 20 Beiträge dieses Bandes einsortiert. Der interne Aufbau der beiden Teile zeigt eine klare Struktur. In der Regel jeweils zwei Kap. sind komplementär zueinander angelegt. „I. Leben und Lebenswissenschaften – Zugänge“ präsentiert biowissenschaftliche, systematische und hermeneutische Reflexionen. Kerstin Thurow und Pierre Bühler erörtern Grundlagen und Eigenart der „Life-Sciences“, Dietrich Korsch und Philipp Stoellger beleuchten Religion und Leben angesichts der fortgeschrittenen Technisierung aller Lebensbereiche. Wilhelm Gräb, Thomas Schlag und Andreas Kubik thematisieren entsprechende (praktisch-)theologische Aufgaben in kulturhermeneutischer Perspektive.
„II. Rekonstruktionen von Leben in praktisch-theologischen Handlungsfeldern“ schließt an mit Beiträgen u. a. zu Alltagskultur (Thomas Klie und Harald Schröter-Wittke), zum Gottesdienst (Michael Meyer-Blanck und Uta Pohl-Patalong), zu Kasualien (Christian Grethlein und Christian Albrecht), zur Predigt (Ralph Kunz und Anne M. Steinmeier).
Die Erträge der Reflexion werden von D. Korsch in einem „Epilog“ thesenartig gebündelt.
Dass sich Praktische Theologie mit ihren programmatischen Leitbegriffen „Lebenswelt“, „Gelebte Religion“ oder auch „Lebensdeutung“ um Konkurrenten im Feld besonders kümmern muss, leuchtet unmittelbar ein. Aber auch an diesem Band kann man ersehen, dass es Theologinnen und Theologen doch schwer fällt, Zugänge der Biowissenschaften zum Verständnis von Leben aufzunehmen. Ein einziger Beitrag im Band hat die Last der fachkundigen Darstellung aus der Innenperspektive zu tragen: Kerstin Thurows „Life-Sciences heute“. Und viele theologische Beiträge im Band laufen eher auf die Markierung von Fehlstellen der Lebenswissenschaften und den Verheißungen ihrer technologischen Umsetzung hinaus.
Thomas Schlag notiert immerhin, dass solche Verheißungen einen „Lebens-Nerv“ treffen, sich nicht mit Entlarvungsstrategien erledigen lassen und deshalb seriöse Auseinandersetzung zu verlangen ist. Hier besteht für mich auch nach der Lektüre die Nötigung für Theologie, dass sie sich auf die Eigenart und argumentative Kraft biowissenschaftlicher Aussagen über Leben und Wirklichkeit einlassen muss, um dann zu Recht gegen den Anspruch einer Alleinzuständigkeit dieser starken naturwissenschaftlichen Disziplinen Front machen zu können.
Der Titel signalisiert die ambitiöse Intention, hier nicht Theologie insgesamt, sondern Praktische Theologie als Lebenswissenschaft zu reformulieren. Aber schon seine provokative Interpunktion von „?“ und „!“ nimmt solchen Anspruch erfreulicherweise selbstironisch zurück, erst recht die erfreuliche Einbeziehung vieler anderer theologischer Fachperspektiven.
Sicherlich kann Religionspädagogik von diesem Band lernen. Dass Beiträge aus religionspädagogischer Fachperspektive fehlen, scheint mir zunächst direkte Konsequenz aus den eingangs reklamierten Fehlstellen der Religionspädagogik. Der vorliegende Band öffnet allerdings – bei genauerem Hinsehen – zumindest einige Schneisen, wo der Zusammenhang von Bildung und Leben thematisiert wird. Das tut bereits Thomas Schlag im genannten Beitrag. Das unternehmen ferner Martina Kumlehn in ihrem Beitrag „Lebenskunst im Alter. Herausforderungen für (religiöse) Bildungsprozesse“ (271–289) sowie Bernhard Dressler „Den Jahren Leben hinzufügen“: Übernützliche „Bildung im Alter“ (291–300). Das tut auch Christian Grethlein, wenn er die Kasualie „Einschulungsgottesdienst“ zumindest anspricht. All das regt an zu weiteren Fragen, ob und wie der Horizont „Bildung“ spezifisches Wissen über Leben einbringt und in spezifischer Weise Trends von Perfektionierungsillusionen und Verdinglichungsmechanismen von Leben zu kritisieren hat.
Für die religionspädagogische Theoriebildung scheint mir vom Thema her Anschluss an die religionspädagogische Entwicklung in Schweden und Norwegen mit ihrer Tradition der Fokussierung auf „Lebensanschauungen“ in der Tradition von Anders Jeffner möglich.
Dass die Diskussion um das Verständnis von Leben durch empirisch informierte und lebensweltnahe Religionspädagogik profitieren kann, z. B. über das Wissen über Gentechnik bei Jugendlichen, wäre sicher ein Lerngewinn für andere. Auf der Linie des Bandes weitergedacht, kann der RU sicher im Schulkontext gewinnen, wenn er das Deutungspotenzial zu „Leben“ in ein fächerübergreifendes Projektlernen mit den relevanten Nachbarfächern Biologie oder auch der Philosophie zusammenschließt.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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