Subjektivierungen zwischen Arbeit und Inklusion. Zwei ethnographische Studien
Rezensierte Publikationen:
Andrea Fischer-Tahir, Sehbehinderung und Arbeit: Rekonfigurationen im digitalen Kapitalismus. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 312 S., kt. 39,00 €
Sarah Karim, Arbeit und Behinderung: Praktiken der Subjektivierung in Werkstätten und Inklusionsbetrieben. Frankfurt/ New York: transcript Verlag 2021, 290 S., kt. 39,00 €
Seit Inkrafttreten der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) und den Beitritt zu dieser durch die Bundesrepublik Deutschland haben sich Rechtslage und öffentlicher wie fachwissenschaftlicher Diskurs zu den Themen Partizipation und Inklusion verändert. Teil dessen ist das gleiche Recht auf Arbeit, das behinderten Menschen in Artikel 27 der UN-BRK gewährt ist. Vor diesem Hintergrund erscheinen Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) als ein deutscher nicht-inklusiver Sonderweg, wie es u. a. die Staatenprüfung durch die UN formuliert hat (Vereinte Nationen 2015). Inklusionsbetriebe hingegen werden z. B. vom Deutschen Institut für Menschenrechte (2018) als mit der UN-BRK kompatibel beurteilt. UN-BRK und SGB IX gewähren behinderten Menschen das Recht auf angemessene Ausbildung. An 2.850 Standorten arbeiten über 320.000 Beschäftigte in WfbM, in Inklusionsbetrieben rund 13.590 schwerbehinderte Menschen. Berufsförderungswerke finden sich bundesweit an 28 Hauptstandorten und zahlreichen Regionalzentren, genauere Zahlen über die dort eine Maßnahme absolvierenden Menschen sind nicht bekannt. Beide hier besprochenen Arbeiten liefern wichtige Beiträge zum fachwissenschaftlichen Diskurs in diesem Feld. Beide gehen von einem konstruktivistischen Konzept von Behinderung aus, das besagt, dass Behinderung ein soziales und kulturelles Konstrukt ist (Waldschmidt, 2020).
Sarah Karims Arbeit ist als Band 16 in der bei transcript herausgegebenen Reihe „Disability Studies, Körper – Macht – Differenz“ erschienen. Sie wurde als Dissertation von der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln 2020 angenommen. Positiv möchte ich Karims Gebrauch des Terminus „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ hervorheben, den sie anderen, in ähnlichen Zusammenhängen (Sonderpädagogik, Rehabilitation) meistens benutzten Begriffen vorzieht. Sie folgt damit den Forderungen einiger Selbstvertretungsorganisationen wie z. B. Mensch zuerst. Jene dominanten Begriffe werden laut Karim „durch wissenschaftliche und andere Diskurse [...] als diskursive Figur hergestellt“ (Karim, S. 56). Als solche formen sie eine mächtige diskursive Figur, die von ihr betroffenen Menschen einen Platz im Diskurs reserviert, wodurch bestimmte soziale Stereotype nahegelegt werden. Hingegen forme der Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ eine neue Subjektivierungsform, die möglicherweise auch andere Diskursfiguren mit anderen diskurspraktischen Folgen – eventuell ja sogar empowernden – haben könnte. Dem geht die Autorin aber in dieser Arbeit (noch) nicht nach. Die Arbeit folgt der durch Michel Foucault (1976; 2000) inaugurierten poststrukturalistischen Subjektivierungsforschung, die in einer Dezentralisierung der klassischen Subjektkonzeption besteht. Demnach werden Subjektivierungsformen diskursiv konstruiert und bestimmte Sprecherpositionen im Diskurs vorgeformt. Im Sinne der Gouvernementalitätstheorie sind aber moderne Formen der Herrschaft ohne Selbstführung bzw. Selbstpositionierung nicht denkbar. Hier weiß Karim mit einer sehr interessanten Auslegung von § 136 [1] SGB IX aufzuwarten: Die dort als Ziel von WfbM u. a. angesetzte Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen durch Arbeit deutet sie als gouvernementale Strategie, „die Fremdführung und Selbstführung miteinander koppelt“ (Karim, S. 58).
Im Anschluss an Louis Althussers (1977) Begriff der Anrufung und dessen Interpretation durch Ulrich Bröckling fasst sie Anrufung als Wechselwirkung zwischen „Formierung und Selbstformierung, gesellschaftlicher Fabrikation und Selbstkonstitution des Subjekts“ (Bröckling, 2013, S. 49) auf. Dabei stuft Karim die Positionierung der von ihr untersuchten Gruppe als fragil ein, denn Subjektivierung vollziehe sich „nicht ausschließlich durch die Reaktionen der Individuen auf spezifische, an sie gerichtete Anrufungen“ (Karim, S. 14 f.), vielmehr seien sie „immer mit multiplen, über- und untergeordneten Anrufungen konfrontiert und somit zu einer Suchbewegung zwischen verschiedenen Selbstdeutungs- und Selbstinszenierungsalternativen angehalten“ (ebd.).
Im Weiteren gibt sie diesem Ansatz eine ethnographische Wendung. Hierfür lehnt sie ihre ethnographischen Analysen an verschiedene praxeologische Theorien an, wodurch ethnographisch protokollierte u. a. räumlich-zeitliche Arrangements, körperliche Praktiken und soziale Interaktionen in konkreten Kontexten zum Gegenstand der Forschung werden. Um die Empirie über einen großen Kontrast durchzuführen, untersucht Karim die „Werkstatt [für behinderte Menschen SX] als potenziell segregierender und den Inklusionsbetrieb als tendenziell inklusiver Einrichtung“ (Karim, S. 16) anhand von zwei Beschäftigten resp. Angestellten an je drei Beobachtungstagen. Die teilnehmende Beobachtung wird ergänzt durch kürzere Interviews mit den insgesamt vier so genannten „Fokuspersonen“. So wendet sich Karim im ethnographischen Teil den Themen Rechtlich-institutionelle Strukturen, räumliche Arrangements, materiale Rahmenbedingungen (Architektur, Artefakte), Arbeitspraktiken, Interaktionen, Differenzkategorien (Behinderung, Gender, Migration), Selbstpositionierungen und widerständige resp. subversive Praktiken zu. Hier finden sich einige, z. B. räumliche Arrangements und den Gebrauch von Werkzeugen betreffende, unerwartete und interessante Beobachtungen, die hier aufgrund der Kürze der Rezension nicht alle Erwähnung finden können.
Ein wenig intensiver gehe ich auf die Themen der Selbstpositionierung und widerständige resp. subversive Praktiken ein. Die Verschiedenheit zwischen der WfbM und dem Inklusionsbetrieb ist formal eher gering: „In beiden Arbeitsbereichen werden Selbstpositionierungen aufgrund von Fähigkeit und Selbstständigkeit vorgenommen.“ (Karim, S. 250) Hier sieht Karim für die Interviewten aus der Gruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten eine Notwendigkeit zur Selbstinszenierung, denn beides werde „häufig in Frage gestellt“ bzw. „häufig abgesprochen“ (ebd.). Drittens positionieren sich die Befragten irgendwo im Kräftefeld „zwischen der Gewährung und dem Empfang von Hilfe“ (ebd.). Kritik, Widerstand und Subversion werden von Karim im Anschluss an Candace West und Sarah Fenstermaker als Formen des „doing difference“ verstanden. Solche sind daher gerade für die Disability Studies von Gewicht, da sie der Ansatzpunkt für Transformationsprozesse sein können. Dabei stellt sich heraus, dass eine Praktik nicht an sich, deutungsunabhängig als Kritik, Widerstand oder Subversion gedeutet werden kann: „Wird eine Praktik als Unterwerfen unter die Anrufung als Werkstattbeschäftigter gedeutet oder als Widerstand gegen Anforderungen von Leistungsfähigkeit? Kritisiert jemand die Arbeitsbedingungen der WfbM oder nutzt er neoliberale Diskurse und reproduziert damit verbundene Aspekte von (internalisiertem) Leistungsdenken? Sind Werkstattbeschäftigte in der ›Schonraumfalle‹ gefangen oder bietet diese eine Möglichkeit, sich der ›kapitalistischen Aktivierungslogik‹ zu widersetzen, die jede Arbeitskraft nutzbar machen will? [...] Werkstattbeschäftigung kann einerseits eine schützende Praxis sein, die Anforderungen des Leistungsparadigmas abschwächt, andererseits verhindert sie aber die Inklusion in die ›normale Arbeitsgesellschaft‹ samt der damit verbundenen Rechte und Pflichten.“ (Karim; S. 256) Analoges gilt laut Karim auch für Inklusionsbetriebe: „Die Praxis der Fokuspersonen, beeinträchtigungsrelevante Kategorien abzuschwächen, kann durchaus als subversiv bewertet werden. Betrachtet man den Inklusionsbetrieb jedoch als normalen Betrieb, kann sie auch als Anknüpfung an das allgemein vorherrschende Leistungsdenken interpretiert werden. Dies könnte tendenziell eine Entsolidarisierung mit der Gruppe behinderter Menschen bewirken, da nicht das Merkmal Behinderung aufgewertet wird, sondern die Beteiligten sich den entsprechenden Kategorisierungen entziehen, indem sie ihre individuelle Leistung und Normalität betonen und hervorheben.“ (Karim, S. 156 f.) Diese Mehrdeutigkeit ist Folge der weiter oben besprochenen Fragilität der Positionierung, der Menschen mit Lernschwierigkeiten im Arbeitskontext ausgesetzt sind. Dies führt unmittelbar zu Karims abschließender Deutung der Subjektivierungslage der untersuchten Gruppe als ambivalent, da sie sich im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Verbesonderung befinden, was sie an den anrufend wirkenden „Maximen“ der Leistungsfähigkeit, Geschwindigkeit und Selbstständigkeit festmacht.
Karim stellt aus ihrer ethnographischen Reflexion heraus kritische Fragen an die Politik: Wie sinnvoll ist die Inklusion in einen Arbeitsmarkt, der Menschen mit geringen Qualifizierungen prekarisiert und alle hohen Leistungsimperativen aussetzt? Müssen besondere Schutzrechte implementiert werden?
Erneut hebt sie die Ambivalenz politischer Zielsetzungen hervor: „So beinhaltet die Forderung nach Inklusion in Arbeit bzw. einem Recht auf Arbeit [...] einerseits einen emanzipatorischen Charakter, da das Verdienen des eigenen Lebensunterhalts die Selbstständigkeit fördert und eine Gleichstellung zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen garantiert. [...] die Forderung nach einem Recht auf Arbeit eignet sich auch dazu, neoliberal vereinnahmt zu werden, das heißt, sie könnte dazu führen, dass der (ausbleibende) Erfolg an einer Teilhabe am Arbeitsleben potenziell dem Einzelnen überantwortet wird (Karim, S. 267).
Am Ende des Buchs bleibt der Rezensent ein wenig unbefriedigt zurück: Die Schlussfolgerungen und das Fazit am Ende sind recht allgemein. Was hier angeführt wird, ist nicht wirklich unerwartet. Es plausibilisiert aber bereits gewonnene Eindrücke. Auch erheben sich Zweifel, ob denn Ergebnisse aus Subjektivierungslagen direkt Schlüsse auf die anstehende Strukturierung eines transformierten inklusiven Arbeitsmarktes erlauben. Müsste hier nicht noch mindestens ein vermittelnder Zwischenschritt eingefügt werden?
Karim regt an, dass die Studie des Berufsbildungsbereichs zu Erkenntnissen über pädagogische Konstellationen der Subjektivierung führen könnte (Karim, S. 269). Eine Arbeit zu diesem Gegenstand legt Andrea Fischer-Tahir vor. Auch ihre Arbeit ist bei transcript erschienen, als Band 68 in der Reihe „Gesellschaft der Unterschiede“. Ihr theoretischer Bezugsrahmen bezieht u. a. Michel Foucaults Theorie der Gouvernementalität und Aaron Antonovskys Salutogenese ein. Die vorliegende Publikation resultiert aus einem an der Technischen Universität Dresden durchgeführten Forschungsprojekt zum Thema Inklusion sehbehinderter Erwachsener durch Digitalisierung, das von der Deutschen Rentenversicherung finanziert wurde. Der empirische Teil fokussiert insgesamt 26 Befragte, die an einem Berufsförderungswerk (BFW) – in dessen zentraler Einrichtung in Halle und der Geschäftsstelle in Berlin – eine Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben absolvierten oder vor kurzem abgeschlossen hatten. Die zwischen sechs Monaten und zwei Jahren dauernden berufsfördernden Bildungsangebote beinhalteten Umschulungen, Umschulung vorbereitende Lehrgänge, Maßnahmen zum Erlernen der Brailleschrift einschließlich Computer-Braille sowie Maßnahmen, in denen der Ausbau von Computer-Skills mit Bewerbungstraining und einem beruflichen Praktikum kombiniert wurde. Es fanden fünf Gruppendiskussionen in Fokusgruppen mit vorgefertigtem Basisleitfaden statt, die aufgrund sowohl deduktiv als induktiv gewonnener Kategorien codiert wurden. Der zweite Teil der Empirie rekonfiguriert „sechs Fallgeschichten“ in „konkreten arbeitsbiographischen Kontexten und Aushandlungsprozessen am Rande des digitalen Kapitalismus. Ich möchte verstehen, wie die Akteurinnen und Akteure ihre eigenen Kategorien von Gesundheit, Arbeit und Identität neu bestimmen und auf ihre Lebensentwürfe beziehen“ (Fischer-Tahir, S. 16). Die Befragungen orientierten sich am narrativen Interview und einem halboffenen Leitfaden; sie wurden mit Hilfe biographischer Analyse ausgewertet.
Diese interpretierten Daten werden von einigen wenigen eigenen – fast autoethnographischen – Beobachtungen flankiert, die – abgesehen von einer kurzen Positionalitätsbestimmung – leider nicht explizit in die Methodologie der Arbeit eingebunden sind. Sie geben der Arbeit aber eine Lesegenuss verstärkende Tiefe, weshalb hier ein ausführliches Zitat gebracht werden soll: „Für die Arbeit am PC trage ich immer eine Brille, die durch Mattglas das funktionell blinde Auge abdeckt. Zentral auf meinem Eckschreibtisch befindet sich ein 27-Zoll-Monitor, davor Tastatur und Maus, der PC-Turm unter dem Tisch. Zu meiner Linken auf dem Schreibtisch steht ein Bildschirmlesegerät, das heißt ein 23-Zoll-Monitor mit integrierter Kamera, die nach unten auf einen beweglichen Kreuztisch gerichtet ist. Dieser lässt sich nach oben und unten sowie links und rechts verschieben. Auf den Kreuztisch lege ich für gewöhnlich Bücher oder einzelne Blätter mit Text oder Bild. Schalte ich das Gerät über eine am Monitor integrierte Bedienleiste mit extra großen Tasten ein, erscheint der von der Kamera erfasste Ausschnitt in Echtzeit und Echtfarben auf dem Bildschirm. Um gleichzeitig mit PC-Monitor und Bildschirmlesegerät zu arbeiten, muss ich mich mit Oberkörper und Drehstuhl immer leicht hin- und her bewegen.“ (Fischer-Tahir, S. 106 f.)
Fischer-Tahir betont zunächst mit Foucault die Macht des Regimes Rehabilitation. „Der individuelle Weg bis zu einer Maßnahme kann sich hindernisreich gestalten. Die Entmachtung des um Teilhabe ringenden Subjekts manifestiert sich in mangelnder Möglichkeit zur Einflussnahme. Das ihm aufgebürdete zeitliche Regime ist willkürlich, die Entscheidungsstrukturen undurchsichtig“ (FischerTahir, S. 139). Materialgesättigt beschrieben wird der erschwerte Zugang zu Hilfsmitteln: Beibringung ärztlicher Atteste bzw. medizinischer Gutachten oder Bescheinigungen über Feststellung der Schwerbehinderung, Feststellung von Zuständigkeiten (Rentenversicherungsträger, Krankenkassen, Agentur für Arbeit, Integrationsämter), technische Gutachten, Beibringung von mehreren Kostenvoranschlägen und schließlich monatelange Wartezeiten. Weiterhin macht die Autorin anschaulich, wie Personen mit Behinderungen im Rahmen des sozialrechtlichen Dreiecks aus Leistungsträgern, Leistungserbringern und Leistungsberechtigten durch Koordination und Berichtswesen überwacht werden. „In der Weiterbildung stehen die Individuen mit ihren Handlungen und diese realisierenden Operationen unter Aufsicht“ (Fischer-Tahir, S. 184). Rückt das Buch solche Disziplinartechniken in den Vordergrund, so werden auch Subjektivierungsformen im Sinne eines unternehmerischen Selbst nach Bröckling als Selbsttechnologien im Rahmen der selbstgemanagten Inklusion (Feedback-Runden, wöchentliche Selbstprotokolle) beschrieben. Die Autorin konstatiert allerdings auch einen unintendierten Nebeneffekt dieser Disziplinierung, der in „kollektiver Selbstverortung“ besteht (Fischer-Tahir, S. 290). Das Buch kommt zu einem ersten Fazit:
Digitalisierung wirkt gleichzeitig enthindernd und behindernd. Wenn sie sich in Form von Digitalkompetenz erfolgreich in die Widerstandsressourcen integrieren lässt, was den Zugang zu digitalen Assistenzsystemen voraussetzt, kann sie Inklusion befördern. Andererseits führen Wettbewerb und Profitlogik zu mehr Exklusion. [...] So verloren Arbeitnehmende nicht deshalb ihre Arbeit, weil sie plötzlich sehbehindert wurden, sondern weil der jeweilige Betrieb ihnen keine andere, ausführbare Position dauerhaft anbot und die Arbeitskraft an Verwertbarkeit einbüßte. Die Akteurinnen und Akteure wurden ausgeschlossen, wenn sie bereits prekär beschäftigt waren. Neben Marginalisierung und dauerhaftem Ausschluss als Formen von Exklusion deutete das Material auf eine dritte typische Problemlage: Zwang zur eigenverantwortlichen Inklusion. Die betroffenen Arbeitnehmer sollten sich einer Rehabilitation unterziehen und in der Segregation die Anpassung an die Umwelt erlernen. Dabei bestünde die Alternative in der digitalen Anpassung des Arbeitsplatzes und der Schulung direkt im Betrieb. Für eine solche Lösung hätten IT-Trainerinnen aus der Hilfsmittel- und Rehabilitationsbranche herangeholt werden können. (Fischer-Tahir, S. 128)
Im zweiten Teil ihrer Empirie rekonstruiert Fischer-Tahir die Lebensentwürfe von sechs ihrer Gesprächspartner:innen. Sie nutzt dabei die Salutogenese nach Aaron Antonovsky (1997), von der sie die Konzepte generalisierte Widerstandsressourcen und Kohärenzgefühl übernimmt. Salutogenese „rückt [...] das Subjekt in den Mittelpunkt, das Erfahrung und eine Geschichte mitbringt, über Handlungsmacht und Wissen verfügt“ (Fischer-Tahir, S. 50). Selbstkonstruktionen ihrer Befragten werden von ihr durch die benachteiligenden Differenzkategorien Behinderung, Geschlecht, Alter, Klasse, ethnische Herkunft und Staatsbürgerschaft intersektional fundiert. Wesentlich bezieht sich die Studie auf die Dimensionen Gesundheit und Arbeit, Kulturelles Kapital und Digitalisierung sowie Behindertwerden und Identität. Sie fasst die sechs Lebensentwürfe zusammen in den Kohärenzfiguren „Durch Sehbehinderung spirituell geworden“, „Versuch es, sei mutig!“, „Uns weder abschreiben noch zwingen“, „Der Welt auch etwas zu geben haben“, „Weitestgehend normal funktionieren“ und „Den Lebenstraum verteidigen“. Diese Rekonfigurationen des Lebensentwurfs können radikal, moderat oder unsicher sein. Im Hinblick auf den erwerbsbiographischen Entwurf finden sich die übergeordneten Strategien des Bruchs, des Festhaltens und der ergebnisoffenen Überarbeitung. Aus diesen subjektiven Rekonfigurationen heraus kommt Fischer-Tahir zu folgendem Schluss: „Das Interesse von sehbehinderten Erwachsenen, die sich in eine Weiterbildung begeben, besteht keineswegs darin, für prekäre Beschäftigung im Niedriglohnsektor fit gemacht zu werden. Vielmehr gilt ihr Interesse einer beruflichen Tätigkeit, die ein Einkommen sichert, mit Sinn angefüllt ist, die weder die Gesundheit gefährdet, noch die Würde verletzt und die den eigenen Vorstellungen von einem gelungenen Leben zumindest nicht im Wege steht. Wir sollten das Konzept von Partizipation an Arbeit dahingehend rekonfigurieren, dass es nicht um Teilhabe an Arbeit geht, sondern darum, gute Arbeit zu haben.“ (Fischer-Tahir, S. 295, H.i.O). Vor dem Hintergrund der Kritik am neoliberalen digitalen Kapitalismus (Zuboff, 2018; Staab, 2019) formuliert sie Rahmenbedingungen, die Digitalisierung erfüllen muss, um wirklich sinnvoll für die Zielgruppe einsetzbar zu sein: „Alle haben unbürokratischen Zugang zu Weiterbildung, alle erhalten für die Zeit der Weiterbildung die nötige Hard- und Software, um sich auch im privaten Wohnumfeld Wissen anzueignen, Wissensvermittlung geht von Ressourcen aus anstatt von »Defiziten«, Wissensvermittlung setzt an den individuellen Ausgangslagen an und erfolgt methoden- und zieldifferenziert in dialogischer und kooperativer Weise, Arbeiten 4.0 wird nicht als alternativlos dargestellt, sondern andere Tätigkeitspräferenzen werden respektiert und in ihrer Realisierung unterstützt und Partizipation von Menschen mit Behinderungen geht vor Wirtschaftlichkeit des Bildungsträgers“ (Fischer-Tahir, S. 294 f.).
Beide Arbeiten legen empirisch fundierte Untersuchungen zum immer bedeutsamer werdenden Themenfeld Inklusion und Arbeit vor. Beide sind lesenswert und bieten empirische Erkenntnisse. Karims Arbeit ist klarer strukturiert, was die theoretische Durchdringung des Stoffs deutlich macht aber auch auf der anderen Seite gelegentlich eine für eine Ethnographie erstaunlich geringe Anschaulichkeit nach sich zieht. Der Rezensent hat daher den Eindruck, dass das ethnographische Moment gegenüber den theoretischen Vorannahmen zurücktritt. Die Verfasserin gibt aber klar reflektierte und fundierte kritische Anregungen für weitere Forschungen im entsprechenden Feld. Fischer-Tahirs Arbeit scheint eher den Vorgaben aus dem Feld zu folgen. Sie hat daher ethnographische Züge. An manchen Stellen sind diese sogar auto-ethnographisch, was methodologisch und material noch weiter ausgearbeitet hätte werden können – auch gerade deshalb, da die Ausführungen mehrfach empathisch mit ihren Gesprächspartner:innen mitgehend sind. Die Wahl ihres theoretischen Bezugsrahmens erschließt sich daher auch nicht immer gänzlich, scheint aber durchaus eine hohe Plausibilität zu haben. Die Verfasserin vermag an den subjektiven Sinn der Betroffenen angeschlossene Rahmenbedingungen anzugeben, unter denen Partizipation an Digitalisierung politisch erstrebenswert sein könnte.
Literatur
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© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Editorial
- Gebietskartierung
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