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Andrea Maurer (Hrsg.), Mit Leidenschaft und Augenmaß. Zur Aktualität von Max Weber. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 281 S., kt., 39,95 €

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Published/Copyright: December 6, 2022
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Andrea Maurer (Hrsg.), Mit Leidenschaft und Augenmaß. Zur Aktualität von Max Weber. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 281 S., kt., 39,95 €


Der Hundertste Todestag von Max Weber (14. Juni 1920) war auch der Anlass einer von Andrea Maurer (Trier) Anfang Juli 2020 veranstalteten Arbeitstagung in den Räumen der Schaderstiftung in Darmstadt. Die Arbeitstagung wurde unter die Leitfrage gestellt: „Wie weit tragen Max Webers Ideen, Begriffe und Thesen heute noch für die Analyse zentraler Probleme moderner Gesellschaften?“ (S. 9). Die Beiträge zum Sammelband sind in zwei Blöcke geteilt. Der erste Teil steht unter dem Titel „Wissenschaftstheorie und -politik“, der zweite unter „Gesellschaft, Wirtschaft, Politik“. Mit Wolfgang Schluchter, Johannes Weiß und Gerhard Wagner waren drei Herausgeber von Schriften Max Webers im Rahmen der ebenfalls 2020 abgeschlossenen Max Weber Gesamtausgabe an der Tagung beteiligt. Wenn nach der Aktualität von Weber mit Blick auf die „zentralen Probleme moderner Gesellschaften“ gefragt wird, ist es einigermaßen überraschend, wenn die Hälfte der Beiträge unter „Wissenschaftstheorie und -politik“ firmiert – umso mehr, wenn in der (sehr kurzen, 6 Seiten) Einleitung von Andrea Maurer („Zur Aktualität von Max Weber„) als „Credo“ Webers behauptet wird, „Politik und Wissenschaft mit Leidenschaft und Augenmaß zu betreiben“, und weiter gesagt wird, „[d]as umspannte damals – und tut es auch heute noch – die beiden Pole, denen sich Politiker:innen und Wissenschaftler:innen gegenübersehen: das sachliche Urteil und das durch Werte motivierte leidenschaftliche Eintreten für eine Sache so zu verbinden, dass es nicht Ideologie wird, sondern zu einer von geprüftem Wissen gestützten Gestaltung der sozialen Welt beiträgt“ (S. 7 f.). Tatsächlich geht es bei den Beiträgen dieses Teils des Bandes eher um die doch eher engen Grenzen und die Schwierigkeiten, die einer „Aktualität“ der Soziologie Webers entgegenstehen. So formuliert Renate Mayntz in ihrem Eröffnungsvortrag „Max Weber – ein Klassiker sozialwissenschaftlichen Denkens“ die „These“, dass es „keine auf die heutige Wirklichkeit bezogene inhaltliche Theorie ist, die Webers aktuelle Bedeutung für die Sozialwissenschaften begründet, sondern eher sein theoretischer Ansatz“ (Mayntz in Maurer, S. 16 – Hervorh. i. O.). In die gleiche Richtung zielt Wolfgang Schluchters Beitrag „Theorie und Geschichte der Rationalisierung nach Max Weber“, in dem er festhält, dass Webers Charakterisierung der okzidentalen Sonderentwicklung als Rationalisierung eine für das Verständnis der Gegenwart „zu enge Perspektive“ sei. „Denn wir leben in einer Welt, die sich von der Webers grundstürzend unterscheidet. Dieser fürchtete zwar das von dem rationalen Kapitalismus im Verein mit der rationalen Bürokratie errichtete ‚stahlharte Gehäuse‘, welches er schon in seinen Russlandschriften und später immer wieder als das ‚Gehäuse für die neue Hörigkeit‘ bezeichnete. Freilich sind die Bedrohungen, die uns heute bedrängen, mit dieser Formel nicht erfasst. Weber wusste noch nichts vom Totalitarismus, von der nuklearen Bedrohung der Menschheit, von den Möglichkeiten der Genmanipulation, von der Klimakatastrophe, von Überbevölkerung, Umweltzerstörung und Ressourcenverschwendung oder gar von den Folgen der Digitalisierung, um nur diese zu nennen, aber auch noch nichts von der Durchdringung der überkommenen Kulturkreise mit Erfindungen der westlichen Welt (Schluchter in Maurer, S. 138). Dagegen geht Andrea Maurer in ihrem Beitrag „Das institutionentheoretische Programm Webers und die Analyse des modernen Kapitalismus“ der „Vermutung“ nach, dass Webers Werk sich nicht nur für die Bearbeitung aktueller Entwicklungen wie Digitalisierung, Klimawandel, Krisen des Kapitalismus usw. gewinnbringend anwenden lässt, sondern dass sich darin auch die Grundlagen für eine Soziologie der Wirtschaft finden, welche Wirtschaft und Gesellschaft zusammendenkt“ (Maurer in Maurer, S. 142). Abgesehen davon, dass Maurers Beitrag an keiner Stelle konkret die „gewinnbringende Anwendung“ von Webers Begriffen und Theoremen auf Gegenwartsprobleme des Kapitalismus zeigt, braucht es keine „Vermutung“, was Webers „Soziologie der Wirtschaft“ angeht. Schließlich hat er selbst als „Aufgabe der Geschichte und der Soziologie [die Ermittlung] der Bedingtheit der Wirtschaftsvorgänge und Wirtschaftsformen durch die gesellschaftlichen Erscheinungen“ bezeichnet (1919/1982, S. 538), und in seinem Beitrag „Soziologische Grundkategorien des Wirtschaftens“ zum „Grundriss der Sozialökonomik“ als deren Zweck die Feststellung „gewisser allereinfachster soziologischer Beziehungen innerhalb der Wirtschaft“ angekündigt (Weber, 1921/1980, S. 31). Auch Alexander Ebner (Frankfurt/M.) bereitet schon im Titel seines Beitrags die „These“ vor, „dass Max Webers eigenständige Konzeption des kapitalistischen Unternehmertums mit Bezügen auf dessen rationale wie auch charismatische Elemente nicht nur in zeitgenössischen Auseinandersetzungen, sondern auch für aktuelle Debatten zu den gesellschaftlichen Mächten des modernen Kapitalismus höchst relevant geblieben ist“ („Kapitalistisches Unternehmertum im unternehmerischem Kapitalismus: Zur Aktualität von Max Webers Konzeption des Unternehmertums“ – Zitat Ebner in Maurer, S. 174). Der an Ebners Auseinandersetzung mit dem Weberschen Unternehmer anschließende Beitrag von Cheng Tsuo-Yu und Huang Xinye (Nanjing/Peking) kommt wieder zu einem negativen Ergebnis, was die Aktualität Webers, diesmal in der Soziologie Chinas, angeht („Die Max-Weber-Rezeption in der chinesischen Soziologie. Historisch-gesellschaftlicher Hintergrund, Übersetzungen und Forschungsansätze“). Der Titel einer Tagung in Peking im Januar 2016 sei symptomatisch: „Dem Mythos Max Webers entkommen“ (Cheng & Huang in Maurer, S. 249). Die Beschäftigung mit Webers Schriften sei zwar durchaus formierend gewesen für die Entwicklung der Soziologie in China, es habe auch, im Gefolge der wirtschaftlichen Liberalisierungsprozesse seit 1978, ein veritables „Weber-Fieber“ gegeben, entzündet durch die Auseinandersetzung mit seinen Protestantismus-Thesen, für ein Verständnis des gegenwärtigen Chinas werde er allerdings nicht für relevant gehalten. Ob das auf die „Falsifizierung“ von Webers Aussagen zu Konfuzianismus und Taoismus zurückzuführen sei, oder auf die Betonung kultureller Eigenständigkeit gegenüber dem Okzidentalismus Webers, oder ein generelles Desinteresse an „Theorie“, wird in dem Beitrag bewusst offengelassen. Der letzte Beitrag im Band stammt von dem Bonner Mediävisten Matthias Becher („Verwendung, Grenzen und Potentiale der Weber’schen Herrschaftssoziologie des Mittelalters“) und lässt sich auf der Haben-Seite der Aktualitätsfrage Webers verbuchen. Allerdings lässt sich auch hier eher wenig an positivem Erkenntnisgewinn herausholen, weil der Fokus auf der die Weber-Rezeption der Mediävistik behindernde Kritik Ottos Brunners an Webers Herrschaftsbegriff als nicht statthafte Übertragung moderner Vorstellungen auf sozialstrukturell ganz anders gelagerte Verhältnisse gelegt wird. Becher widerspricht Brunner mit dem Verweis auf die Eigenart von Webers Begriffen, als Idealtypen konstruiert zu werden, kurz gesagt als analytisches Erkenntnismittel, und nicht als Modell oder Abbildung einer Wirklichkeit mit dem Anspruch auf „Wahrheit“.

Nun sind bereits der Beitrag von Schluchter und die folgend aufgeführten Auseinandersetzungen mit Webers Erbe dem Teil „Gesellschaft, Wirtschaft, Politik“ zugeordnet, trotz des Fokus auf den Differenzierungen des Rationalismus-Begriffs Webers bei Schluchter. Auch bei Maurer überwiegen methodische Gesichtspunkte, vor allem was die Leistungsfähigkeit des Gesichtspunktes einer „institutionellen Rahmung wirtschaftlichen Handelns“ (Maurer in Maurer, S. 143) angeht, gegenüber materialen Erkenntnissen der Eigenart und vor allem der weiteren Wirkungen des Kapitalismus auf die Lebensbedingungen der Menschen. Der Beitrag von Cheng Tsuo-Yu und Huang Xinye ist eher als Beitrag zur Wissenschaftspolitik der Weber-Rezeption in China aufschlussreich, und Bechers Beitrag ist eine wichtige Erinnerung an Webers Verständnis von der Aufgabe von Begriffen in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Dass bei der Frage nach der Aktualität Webers das Paradigmatische seiner Soziologie, das Propädeutische seiner Forschungsprogramme und solche Grundsatzfragen wie die nach dem Status von „Ideen“ in der Geschichte und den Sozialwissenschaften in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, liegt nahe bei einem Autor, der die Sozialwissenschaft als eine „Wirklichkeitswissenschaft“ betrieben sehen wollte und deren Ausgangspunkt in den „praktischen Fragen“ sah, vor die Gesellschaften gestellt sind. Eine Aktualität von Webers Vorstellung von Sozialwissenschaft setzt voraus, dass seine Fragen an die Wirklichkeit seiner Zeit die gleichen Fragen sind, die wir an unsere Wirklichkeit stellen. Mit dieser Voraussetzung beschäftigt sich kein einziger Beitrag zu dem besprochenen Band, sieht man von Ebners Auseinandersetzung mit Charisma und Unternehmertum bei Max Weber ab, der von einer Kontinuität der Fragestellungen in einem engeren Kontext der Entwicklung des Kapitalismus ausgeht. Aber selbst die weiteren Beiträge im Teil „Wissenschaftstheorie und -politik“ laden eher zu Skepsis ein, was eine mögliche „Aktualität“ von Weber angeht. Johannes Weiß (Kassel) macht in „Webers ‚besondere Art‘ der Soziologie und die Ökonomie“ auf die krummen und verschlungenen Wege aufmerksam, die Weber schließlich zu „seiner Soziologie“ im „Grundriss der Sozialökonomik“ geführt haben und hebt dabei vor allem die ethischen und politischen Intentionen von Webers „theoretischem Individualismus“ hervor – die in der gegenwärtigen Praxis der Soziologie als empirische Sozialforschung weitgehend ignoriert werden. Diesen Befund bestätigt auf seine Weise der direkt an Weiß anschließende Beitrag von Gerhard Wagner (Frankfurt/M), „Soziologie und das manifeste Bild vom Menschen“. Für Wagner steht Webers emphatisches, auf „Persönlichkeit“ zielendes Menschenbild als letztlich bloß idealistisches Vorurteil gegen jenes tatsächlich wissenschaftliche Verständnis des Menschen, das klinische Psychologie und Neurowissenschaft eröffnen. Damit bricht der alte Gegensatz von „Handeln“ und „Verhalten“ wieder auf, verbunden mit dem Vorwurf, Weber habe das Problem letztlich „unwissenschaftlich“ erledigt. Ein genauerer Blick auf die Genese von Webers soziologischem Denken zeigt freilich sehr unterschiedliche Ansätze: vom programmatischen (oder „heroischem“) Individualismus der „Protestantischen Ethik“ zum „methodologischem Individualismus“ der Kritik der materialistischen Geschichtsdeutung hin zum „theoretischen Individualismus“ in den Beiträgen zum „Grundriss der Sozialökonomik“ – und das vor dem Hintergrund seiner ausgeprägt soziologistischen und strukturalistischen Theoreme, was die Erfahrung der kapitalistischen Wirklichkeit angeht. Webers Satz: „Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftsleben gelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte – Unternehmen und Arbeiter – deren er bedarf“ (1920/1986, S. 37) scheint ja die Sache persönlicher Selbstverwirklichung, die im Zentrum der bürgerlichen Freiheitsbewegungen stand, ein für alle Mal erledigt zu haben. Und gegen Diskussionen einer persönlichen Verantwortung für den Krieg wandte Weber ein: „die Struktur der Gesellschaft [erzeugte] den Krieg“ (1919/1980, S. 549). Mit diesen Gegensätzen in Webers Denken beschäftigen sich die letzten beiden Beiträge im Teil „Wissenschaftstheorie und -politik“. Reinhard Zintl (Bamberg) betont die andauernde Relevanz von Webers Konzept der „Entzauberung“ („Max Weber: Entzauberung – Fortschritt, Verlorenheit, Heimweh?“), während Nina Tessa Zahner (Kunstakademie Düsseldorf) zu dem genau entgegengesetzten Ergebnis zu kommen scheint („Mit Max Weber gegen die Wiederverzauberung des sozialwissenschaftlichen Denkens?“). Zintl sieht in Webers „Entzauberung“ einen Prozess, der als systematische Ausschaltung von Magie in der Theologie und Ethik des Protestantismus seinen Ausgangspunkt nimmt und in eine umfassende Rationalisierung und Säkularisierung sozialer Ordnungen und ihrer Reflexion mündet, einen bleibenden wissenschaftlichen Erkenntnis-Fortschritt. Den damit begründeten „Rationalismus als Weltbeherrschung“ sieht Zahner nicht als Teil der Lösung der Zukunftsprobleme der Gesellschaft, sondern als wesentliche Ursache dieser Probleme selbst. Weber sei zu sehr „Kind seiner heroischen Zeit“ (Zahner in Maurer, S. 100 – ihre Hervorh.), und mithilfe seiner Denkansätze, seiner Begrifflichkeit und seiner Methodenprogrammatik könnte man allenfalls „Positionen, die im Gefolge der Postmoderne eine zunehmende Aufwertung des Sinnlichen, Körperlichen, Emotionalen, Performativen und Materiellen betreiben, bzw. den Tod des Autors (Foucault) und der Überwindung der Subjektperspektive (Luhmann, Latour) das Wort reden [...] und Fragen der Moral bzw. der Ethik – falls überhaupt – nunmehr dezentriert thematisieren, als eine Wiederverzauberung des Denkens lesen“ (S. 100, ihre Hervorh.). Bei dem, was diese „Wiederverzauberung des Denkens“, die Zahner in den neueren Ansätzen der Gegenwartssoziologie sieht, tatsächlich zu leisten vermag, kommen ihr wohl selbst Zweifel, wenn sie festhält: „Ein differenziertes wissenschaftliches Wahrnehmen, das an die Stelle allzu vereinfachender und vereinseitigender Positionen ein auf Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten fokussiertes Wahrnehmen – wie es sich im Rahmen der genaueren Betrachtung der Weber’schen Entzauberungsthese offenbarte – scheint gegenwärtig leider aus der Mode.“ Die Aktualität Max Webers liege „vor allem in einer Haltung, die sich der Bekämpfung jedweder wissenschaftlichen Romantik verschreibt und sich konsequent jeder Ästhetisierung der Wissenschaft erwehrt. Sein Glaube an ein liberales, pluralistisches Spiel von Kräften und Gegenkräften und den Wert eigenverantwortlich handelnder Individuen scheint als maßvolles Gegengewicht zu wachsender Vereinseitigung heute aktueller denn je“ (S. 101).

Der Titel des Bandes: „Mit Leidenschaft und Augenmaß“ ist ein Zitat aus Webers Vortrag „Politik als Beruf“ – und beschreibt Webers kontrafaktisches Ideal eines um seinen Beruf und die Implikationen seines Tuns wissenden Politikers: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß“ – so das vollständige Zitat (1919/1980, S. 560). „Politik“ ist nun freilich nicht das Thema des Bandes, sondern Wissenschaft, vor allem Sozialwissenschaft, und Webers Soziologie ist für ihn jenseits der Methodenkritik und der Begriffsarbeit – die er als „Theorie“ ansprach – eine historische Kulturwissenschaft, die lehre, „politische, künstlerische, literarische und soziale Kulturerscheinungen aus den Bedingungen ihres Entstehens [zu] verstehen“ (1919/1982, S. 600). Politik und Wissenschaft sind für Weber grundverschiedene Dinge, und für das, was Andrea Maurer in ihrer Einleitung als Webers „Botschaft“ verkünden will, nämlich „zu einer von geprüftem Wissen gestützten Gestaltung der sozialen Welt [beizutragen]“ (S. 8), ist Weber ganz sicher nicht zu haben. Dem steht nicht nur seine strikte Trennung von Sein und Sollen entgegen, sondern noch sehr viel mehr und ausführlich begründet seine grundsätzliche Überzeugung, dass es allein die Eigenart der Fragestellung ist, die wissenschaftliche Disziplinen rechtfertige, und nicht ein „Objektbereich“ wie „Gesellschaft“ oder „Wirtschaft“ – und dass diese Fragen sich mit dem Lauf der Welt verändern, also eine Kontinuität von Fragestellung und damit die Möglichkeit der Kumulierung von „Wissen“ ausgeschlossen ist. Webers Haltung ist unmissverständlich:

Ein System der Kulturwissenschaften auch nur in dem Sinne einer definitiven, objektiv gültigen, systematisierenden Fixierung der Fragen und Gebiete, von denen sie zu handeln berufen sein sollen, wäre ein Unsinn an sich: stets kann bei einem solchen Versuch nur eine Aneinanderreihung von mehreren, spezifisch besonderten, untereinander vielfach heterogenen und disparaten Gesichtspunkten herauskommen, unter denen die Wirklichkeit für uns jeweils ‚Kultur‘, d. h. in ihrer Eigenart bedeutungsvoll war oder ist. (1904/1982, S. 184 f.)

Der Band lässt allerdings auch in zwei anderen Hinsichten „Augenmaß“ vermissen. Einmal wird in der Einleitung überhaupt kein Bezug hergestellt zu anderen „Aktualisierungen“ Max Webers. Das ist angesichts der ins Unübersehbare gewachsenen Weber-Literatur nicht nachvollziehbar. Hier sei nur auf Lepsius (1990) und Schwinn/Albert (2016) verwiesen. Es ist auch einigermaßen seltsam, dass trotz der Bezeichnung „Arbeitstagung“ eine wechselseitige Diskussion der Beiträge, eine kritische Beschäftigung mit den einzelnen Argumenten, wohl kaum stattgefunden haben kann. Denn zum Teil widersprechen sich die Aussagen der einzelnen Beiträge diametral. Und dann gibt es in der Bandeinführung den seltsamen Lapsus, den Tod Webers auf das Ende des II. Weltkrieges zu legen, der dann allerdings wenig überrascht, wenn die Redundanzen,[1] fehlenden Worte und falsche Satzstellungen in Maurers Beitrag zum „institutionentheoretischen Programm“ bemerkt – zu denen noch jene Oberflächlichkeit kommen, die, um nur ein Beispiel zu nennen, Weber zu „einem professionell ausgebildeten Historiker und Ökonom“ (S. 151) machen will.

Literatur

Lepsius, M. R. (1990). Interessen, Ideen und Institutionen. Westdeutscher Verlag.10.1007/978-3-322-94352-1Search in Google Scholar

Schwinn, T. & Albert, G. (Hrsg.). (2016). Alte Begriffe - Neue Probleme: Max Webers Soziologie im Lichte aktueller Problemstellungen. Mohr Siebeck.10.1628/978-3-16-154437-8Search in Google Scholar

Weber, M. [1904] (1982). Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (S. 146-214) Mohr.Search in Google Scholar

Weber, M. [1918] (1982). Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (S. 489-540) Mohr.Search in Google Scholar

Weber, M. [1919] (1980). Politik als Beruf. In: Gesammelte Politische Schriften, (S. 505-560). Mohr.Search in Google Scholar

Weber, M. [1919] (1982). Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (S. 582-613). Mohr.Search in Google Scholar

Weber, M. [1920] (1986). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, (S. 15-206). Mohr.Search in Google Scholar

Weber, M. [1921] (1980). Wirtschaft und Gesellschaft. Mohr.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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