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Sarah Charlotte Dionisius, Queere Praktiken der Reproduktion: Wie lesbische und queere Paare Familie, Verwandtschaft und Geschlecht gestalten. Bielefeld: transcript 2021, 338 S., kt., 38,00 €

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Published/Copyright: December 6, 2022
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Sarah Charlotte Dionisius, Queere Praktiken der Reproduktion: Wie lesbische und queere Paare Familie, Verwandtschaft und Geschlecht gestalten. Bielefeld: transcript 2021, 338 S., kt., 38,00 €


Familien von gleichgeschlechtlichen Eltern haben in Deutschland im letzten Jahrzehnt an Sichtbarkeit gewonnen. Auch im Recht zeichnen sich Tendenzen der Gleichstellung ab, die mit Öffnungen, wie der „Ehe für alle“ (2017) einhergehen, aber auch mit neuen und auch alten Schließungen, wie etwa für nicht-paarförmige Lebensformen oder auch für Menschen, die sich als nicht-binär verstehen. Bereits die Öffnung der Ehe ist ambivalent, da etwa bei Frauen-Paaren, die Partnerin, die nicht schwanger war, ihr Kind adoptieren muss. Bei heterosexuellen Paaren ist dies nicht notwendig, dort reicht die Ehe zur Mutter als Anerkennung der väterlichen Elternschaft.

Während sich die deutschsprachige Familiensoziologie lange Zeit nur spärlich mit Familienformen befasste, die nicht der „Normalfamilie“ aus Vater, Mutter und leiblichen Kindern entsprach, beginnt sich dies langsam zu ändern. Über „Elternschaft und Familie/n jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit“, so etwa der Titel einer Konferenz an der Humboldt-Universität zu Berlin (2021)[1], wird auch hierzulande immer mehr geforscht (Peukert et al., 2020). Gleichzeitig steigt das Interesse an einer Forschungsperspektive, die Familie und Elternschaft weniger als fraglos gegebenen Ausgangspunkt versteht, sondern vielmehr deren Konstitutionsbedingungen empirisch befragt und Alltagspraxen ins Zentrum stellt. Hier sind vor allem praxeologische Vorhaben zu nennen (Jurczyk, 2014), die zum Beispiel aus den (Feminist) Science and Technology Studies und den Queer Studies kommen und die Elternschaft und Familie als soziale Herstellungsleistungen konzipieren und entsprechend nach dem „doing family“ und „doing reproduction“ fragen (Schadler, 2014): Wie „geht“ Elternschaft praktisch? Wie „tut“ man Familie?

Hier ist auch die Monografie von Sarah Charlotte Dionisius verortet, die auf ihrer an der Goethe-Universität Frankfurt eingereichten Dissertation basiert. Dionisius fragt, wie lesbische und sich als queer verstehende Paare und Familien Elternschaft qua Samenspende realisieren, welche Relevanzen Reproduktionstechnologien dabei entfalten und welche Praktiken und Deutungen zu Familie, Verwandtschaft, Reproduktion und Geschlecht sich dabei ausbilden.

Dionisius’ besonderes Interesse gilt jenen „queeren Potenzialen“ (S. 15), die heteronormative Verwandtschafts- und Geschlechterverhältnisse variieren und verändern. Die Studie ist in acht Kapitel gegliedert, wobei die empirischen Rekonstruktionen etwa die Hälfte der Arbeit ausmachen. In Auseinandersetzung mit internationalen Forschungen zu lesbischer und queerer Elternschaft, die etwa in den USA seit zwei Jahrzehnten fest verankert sind, beklagt Dionisius die Tendenz, dass frühere, aber auch einige gegenwärtige Studien die Besonderheit lesbischer Elternschaft herausstellen und auf diese Weise Heterosexualität als Norm bekräftigen. Zwar sei es gelungen, eine Defizit-Perspektive zu überwinden, aber nicht den Dualismus aus normal/ heterosexuell und nicht-normal/ nicht-heterosexuell. Um dies zu vermeiden, nimmt die Autorin eine queer-theoretische Analyseperspektive ein, die sie mit der interdisziplinären Perspektive der Feminist Science and Technology Studies und den in der Anthropologie angesiedelten New Kinship Studies verknüpft. Mit Autor:innen wie Haraway und Thompson interessiert sich Dionisius für Akteure wie Aktanten in der Hervorbringung von Familie und Elternschaft und möchte die mit diesen Konzepten verbundenen Dualismen dezentrieren und denaturalisieren. Für Dionisius bedeutet dies konkret, dass sie Praktiken und Deutungen der Befragten nicht auf der Folie der heterosexuellen Familie erforscht, sondern dass sie offen rekonstruiert, wie sich die Befragten selbst in Beziehung zu Technik, Familie und Verwandtschaft setzen. Zudem geht sie davon aus, dass auch Dinge, wie Spritzen, Plastikbecher, Eisprunggeräte und Schwangerschaftstests relevant für den Prozess des Elternwerdens sind.

Grundlage ihrer im Forschungsstil der Grounded Theory verfassten qualitativen Studie sind 21 problemzentrierte Interviews (nach Witzel), die die Autorin in den Jahren 2013 und 2014 deutschlandweit mit sich als lesbisch oder queer verstehenden Frauen*-Paaren durchführt hat. Die Befragten eint, dass sie eine Samenspende genutzt haben – entweder privat per Insemination oder per Samenbank. Im Sample befinden sich Paare, manche realisierten aber auch mit drei oder vier Elternteilen gemeinsam ihren Kinderwunsch. Zudem führte Dionisius Interviews mit Expert:innen von Samenbanken, Fachanwaltskanzleien und Beratungsstellen für LGBTIQ+-Familien und unternahm eine Dokumentenanalyse von relevanten Richtlinien, Stellungnahmen und Empfehlungen, die sie inhaltsanalytisch auswertete. Das methodische Kapitel ist erfreulich ausführlich verfasst. So finden sich neben aufschlussreichen Hinweisen zum Feldzugang und zur Akquise, wie etwa den für qualitative Studien ungewöhnlich hohen Rücklauf, auch eine differenzierte selbstkritische Auseinandersetzung zum Sampling. Zwar gelingt es Dionisius, Befragte mit und ohne Hochschulabschluss für ihre Forschung zu gewinnen und kann auch eine Breite an sozio-ökonomischen Lebenslagen abdecken. Dennoch findet sie kaum Eltern, die als Black and People of Colour (BPoC) verortet werden.

Der Zugang zu Reproduktionstechnologien zeichnet sich durch eine Schlechterstellung von lesbischen Paaren und Familien gegenüber Heterosexuellen ab: Anders als heterosexuelle müssen lesbische Paare selbst für die Kosten der reproduktionsmedizinischen Behandlung aufkommen. Im Embryonenschutzgesetz von 1990 ist Samenspende zudem nicht für sie geregelt, so dass nur standesrechtliche Vereinbarungen der Ärztekammern zur Verfügung stehen, die wiederum je nach Bundesland sehr unterschiedliche Richtlinien formulieren. Letztlich entscheiden Reproduktionsmediziner:innen selbst, wen sie behandeln und wen sie ausschließen, was sie, so Dionisius, zu den zentralen „gate keepern“ macht. Hier setzt die Autorin mit ihren empirischen Befunden ein und zeigt, wie ein Paar sich nach einem klinischen Beratungsgespräch als Menschen „zweiter Klasse“ fühlte. Das Paar habe seine gesamte finanzielle Situation offenlegen müssen und auf Nachfrage die Erläuterung erhalten, dass Paare mit wenig ökonomischen Ressourcen gar nicht erst behandelt würden, da finanzielle Risiken auf Unterhalts- und Erbansprüche bestünden. Das Paar fühlte sich herabgewürdigt, da ihm vermittelt wurde, dass es sich als Eltern ggf. nicht qualifiziert. Zudem fühlte es sich den „gate keepern“ gegenüber ausgeliefert.

Um Elternschaft zu realisieren, vollzogen die Befragten vor der Familiengründung ein „doppeltes Coming-Out“ (S. 174), so eine zentrale Rekonstruktion: Neben der Realisierung des eigenen nicht-heterosexuellen Begehrens und dessen Kommunikation nach außen, mussten die Befragten erst lernen, lesbisches Begehren und Elternschaft als miteinander vereinbar zu denken. Vor allem die Befragten, die in ländlichen und kleinstädtischen Regionen lebten, berichteten, dass sie lange Zeit schlichtweg keine lesbischen Mütter kannten und lange Zeit gar nicht auf die Idee kamen, sie könnten zukünftig eine Familie gründen. Andere erklärten, dass sie sich durchaus vorstellen konnten, Elternschaft zu realisieren, sie aber in ihrem Umfeld mit der Annahme konfrontiert wurden, dass nicht-heterosexuelles Begehren und Elternschaft sich ausschließt. So reagierten die Eltern einer Befragten auf ihr Coming-out mit der Enttäuschung, dass es folglich keine Enkelkinder geben würde. Wie Dionisius weiter aufzeigt, mussten die von ihr Befragten sich nach ihrem Erlernen einer Vereinbarkeit von lesbischem Begehren und Elternschaft auch erst Wissen aneignen, wie diese zu realisieren sei. Hier hatten neben konkreten Vorbildern, wie Mitbewohnerinnen, etwa auch TV-Serien, wie „The L-World“, eine große Bedeutung. Schließlich zeigt Dionisius auf, wie die Befragten mit eigenen heteronormativen Annahmen zu kämpfen hatten, wie mit der Frage, ob Kinder nicht immer auch einen Vater bräuchten. Würden ihre Kinder ihnen womöglich vorwerfen, ihnen einen Vater vorenthalten zu haben?

In ihren empirischen Rekonstruktionen verdeutlicht Dionisius, dass die heterosexuelle Kleinfamilie und biologische Verwandtschaft bei manchen Befragten teilweise weiterhin das zentrale Orientierungsmuster bildete. Teilweise variierten die Befragten jedoch auch dieses Orientierungsmuster und stellten ihre Normalität heraus, nur sei eben die Partnerin eine Frau und kein Mann. Wieder andere, so Dionisius, würden gar nicht erst die Kleinfamilie als Orientierungsmuster suchen, sondern Alternativen praktizieren, wie etwa in Form von Mehrelternschaften, Co-Parenting und Sorgebeziehungen in Hausprojekten. Die Autorin betrachtet dabei Familien als „Grenzprojekt“ (S. 177), womit deutlich würde, dass sich auch Heteronormativität flexibilisieren könne. Dies zeige sich etwa in der Verwendung von nicht-binären Elternschaftsbezeichnungen wie „Mapa“. Nicht die Geschlechterdifferenz im Sinne eines „doing gender“ würde reproduziert, vielmehr vollziehe sich ein „transgressing gender“.

Die Autorin legt eine theoretisch wie methodisch umfangreiche und dichte Studie zur Herstellung von Elternschaft und Verwandtschaft bei sich als lesbisch oder queer verstehenden Paaren und Familien in Deutschland vor. Die theoretischen Bezüge und auch die Darstellung des Forschungsstandes erfolgen sehr systematisch und werden im Laufe der Arbeit immer weiter verflochten. Die empirischen Rekonstruktionen sind kreativ und sorgfältig verfasst, so dass die Lektüre durchweg kurzweilig ist. Sehr fruchtbar erscheint mir die empirische Rekonstruktion der Notwendigkeit eines „doppelten Coming-out“ sowie die Rekonstruktion eines „transgressing gender“. Die Rekonstruktionen gelingen, ohne dass die Befragten von der Autorin als emanzipative Elternsubjekte überzeichnet werden. Auch wenn die Perspektive auf Öffnungen und Brüche gerichtet ist, werden die Ungleichheiten und Herabwürdigungen von nicht-heterosexuellen Paaren und Familien in der heteronormativen Gesellschaft sehr deutlich.

Weiter wünschenswert wären drei Aspekte: Auch wenn Paarinterviews durchgeführt wurden, bleibt die Paarebene als solche doch recht unbestimmt. Der Blick auf ihre gemeinsamen oder divergierenden Narrationen hätte zum Beispiel zeigen können, wie das „doing couple“ der Paare mit dem „transgressing gender“ verwoben ist. Eine aktuellere Studie, deren Befragung nicht bereits 2014 abgeschlossen wäre, hätte auch Erkenntnisse zu Erfahrungen im Kontext der neuen rechtlichen Regelungen beinhalten können. Wie die Autorin auch selbst kritisch diskutiert, wäre es schließlich relevant gewesen, „race“ in der Verschränkung mit weiteren Kategorien bereits im Sampling, aber letztlich in der gesamten Anlage der Untersuchung systematischer einzubeziehen.

Trotz dieser wenigen Monita bleibt festzuhalten, dass von „Queere Praktiken der Reproduktion“ ein enormes Anregungspotential ausgeht. Hoffentlich lassen sich die Familiensoziologie, aber letztliche alle, die mit familiärem Zusammenleben befasst sind, davon irritieren.

Literatur

Jurczyk, K. (2014). Doing Family – der Practical Turn der Familienwissenschaften. In A. Steinbach, M. Hennig, & O. Arránz Becker (Hrsg.), Familie im Fokus der Wissenschaft (S. 117–138). Springer Fachmedien. https://doi.org/10.1007/978-3-658-02895-4_610.1007/978-3-658-02895-4_6Search in Google Scholar

Peukert, A., Teschlade, J., Wimbauer, C., Motakef, M., & Holzleithner, E. (Hrsg.). (2020). Elternschaft und Familie jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. Sonderheft 5 der Zeitschrift GENDER. Barbara Budrich.10.3224/84742431Search in Google Scholar

Schadler, C. (2014). Vater, Mutter, Kind werden: Eine posthumanistische Ethnographie der Schwangerschaft. Transcript.10.14361/transcript.9783839422755Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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