Startseite Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
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Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand

Petra Böhnke / Jörg Dittmann / Jan Goebel (Hrsg.), Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen. Opladen / Toronto: Verlag Barbara Budrich 2018, 366 S., kt., 29,99 € Peter Rahn / Karl August Chassé (Hrsg.), Handbuch Kinderarmut. Opladen / Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020, 380 S., kt., 39,90 €
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Veröffentlicht/Copyright: 17. Mai 2022
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Rezensierte Publikationen:

Petra Böhnke / Jörg Dittmann / Jan Goebel (Hrsg.), Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2018, 366 S., kt., 29,99 €

Rahn, Peter / Chassé, Karl August (Hrsg.), Handbuch Kinderarmut. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2020, 380 S., kt., 39,90 €


Viele Armutsforscher:innen erforschen zwar Ungleichheitsprozesse und entwickeln richtige, bedarfsgerechte Lösungen für sozialpolitische Probleme und gegen gesellschaftliche Polarisierung. Ursachenanalysen jedoch, warum es zu den Ungleichheitsprozessen gekommen ist und Hinderungsgründe, warum kluge und angemessene Vorschläge regelmäßig seit Jahrzehnten nicht angenommen oder angewandt werden, bleiben oft unterbelichtet. Sie erfordern die theoretisch-analytische Auseinandersetzung mit Prozessen der (Primär-)Verteilung, der Steuerpolitik, wirtschaftlicher Interessensgegensätze und sozioökonomischer Kräfteverhältnisse insgesamt. So werden z. B. oft Anlässe für Kinderarmut, wie Scheidung, Alleinerziehenden-Status, Migrationshintergrund oder Arbeitslosigkeit mit den zugrundeliegenden Ursachen im vorhandenen Wirtschafts- und Sozialsystem verwechselt. Dadurch gerät bei der Armutsforschung, der Sozial(arbeits)wissenschaft und bisweilen auch der praktischen Sozialen Arbeit in den Hintergrund, dass sozial gerechte Familien- und Sozialpolitik und gute Bildungs-, Betreuungs- und Arbeitsmarktpolitik auch für Kinder von arbeitslosen, alleinerziehenden oder migrantischen Eltern ein armutsfreies Leben ermöglichen können. Der Rezensent verheimlicht nicht, dass sich eine ihm dabei notwendig erscheinende Perspektive theoretisch-praktisch mit Interessen, mit Macht und mit Herrschaft auseinandersetzen muss, also auch mit den Profiteuren der vorhandenen Ordnung, wobei ihm Anti-Kapitalismus als buchstäblich alternativlos für einen auch nur halbwegs demokratischen und sozialen Rechtsstaat, wie ihn das Grundgesetz vorschreibt, erscheint.

Wer Kinderrechte stärken und (Kinder-)Armut bekämpfen will, muss auch über den exorbitant gestiegenen Reichtum in unserer Gesellschaft sprechen. Wer die sozialräumliche Segregation in unseren Städten bemängelt, darf nicht vergessen, dass die armen Stadtteile oft so aussehen, wie sie aussehen, weil die reichen Stadtteile so aussehen, wie sie aussehen. Wer den Sozialstaat stärken will, muss die Privatisierung von Sozialversicherungen, von städtischen Wohnungen, Krankenhäusern und Pflegeheimen zurücknehmen und dem Profitprinzip entziehen sowie bessere Bedingungen in Schulen, Kitas und Jugendhilfe bzw. Jugendclubs schaffen. Dass dafür genug Geld da ist, zeigt auch ein Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aus dem Jahre 2021, wonach sich das Nettovermögen der privaten Haushalte in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren auf 13,8 Billionen Euro mehr als verdoppelt hat. Davon könnten jedes Jahr bis zu 400 Milliarden Euro vererbt oder verschenkt werden, was die absolute Ungleichheit weiter erhöhen wird (vgl. Baresel et al., 2021: 64 ff.).

Beide Handbücher sind uneingeschränkt empfehlenswert und bieten als Lehrbücher einen guten Überblick über den jeweiligen Forschungsstand. Das Who-is-Who der deutschsprachigen Armuts- bzw. Kinderarmutsforschung ist darin versammelt. Internationale Studien und Autor:innen sind jedoch in beiden Bänden seltener präsentiert. Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind ferner festzustellen. So fehlt leider ein Autor:innen-Verzeichnis im von Petra Böhnke, Jörg Dittmann und Jan Goebel herausgegebenen Handbuch Armut.

Zu erkennen ist, dass die Autor:innen des Handbuchs Armut sehr stark an der empirischen Sozialforschung v. a. mit Hilfe des Sozioökonomischen Panels (SOEP) orientiert arbeiten. Sie bieten einen soliden empirischen Nachweis, dass es Armut wirklich gibt im reichen Deutschland, dass sie gar gewachsen ist in den letzten Jahren und, dass sie gravierend wirkt in vielerlei Lebenslagen. In drei Kapitel ist die Publikation aufgeteilt. Im ersten Kapitel „Wie sprechen wir über Armut“ geht es um „Konzepte, Diskurse und Messung“. Jörg Dittmann und Jan Goebel machen hier den Aufschlag zu „Armutskonzepten“. Dem folgt eine Untersuchung von Eva Barlösius über „Gesellschaftstheoretische Grundlagen und Potenziale soziologischer Armutsforschung“, die ihren Ausgang in der Armuts-Analyse Georg Simmels nimmt. Martin Kronauer setzt fort über „Armut im politischen Diskurs“, wobei ihn vor allem die „Re-Moralisierung und Individualisierung der Armutsfrage“ interessiert (Kronauer in Böhnke/Dittmann/Goebel: 49). Dem schließen sich Jan Goebel und Peter Krause mit ihrem Beitrag über „Quantitative Messung von Armut“ an. Daraufhin betrachten Marco Giesselmann und Leen Vandecasteele „Armut in der Lebenslaufperspektive“. Abgeschlossen wird das erste Kapitel mit dem Beitrag „Armut in Europa“ von Nina Sophie Fritsch und Roland Verwiebe, der zwar Sozialstaatsmodelle und Armutsquoten zu unterscheiden weiß (Fritsch/Verwiebe in Böhnke/Dittmann/Goebel: 83), aber leider ohne Hinweise auf die Implikationen und Wechselwirkungen z. B. des deutschen Exportismus-Modells auf die Armutsprobleme anderer, ärmerer europäischer Staaten auskommt.

Das zweite Kapitel „Was wissen wir über Armut?“ steht unter der Überschrift „Problemfelder und Ursachen“. Jan Goebel und Markus M. Grabka informieren über „Armut im Zusammenspiel von Einkommen und Vermögen“, woraufhin Maksim Hübenthal „Armut in der Kindheit“ betrachtet. Danach untersucht Olaf Groh-Samberg „Armut von Jugendlichen und jungen Erwachsenen“. Hier wäre einiges zu sagen gewesen hinsichtlich höchster Armutsrisiken und niedrigster gesellschaftlicher Beachtung, Auszugsverbote bis zum Alter von 25 und schärfster Sanktionierungspraxis im SGB II für Mitglieder von ALG II-Bedarfsgemeinschaften (Hartz IV) bis zum Bundesverfassungsgerichts-Urteil von Ende 2019. Dass zugleich sog. Care-Leaver aus dem stationären Jugendhilfebereich (Heime) zu 75 Prozent am Tag nach ihrem 18. Geburtstag die Einrichtung verlassen müssen, während über 80 Prozent aller anderen 18-jährigen noch bei ihren Eltern wohnen, zeigt bereits die Ursachen der Risiken von Wohnungslosigkeit und Armut an. Leider erfährt man davon im Beitrag jedoch wenig. Petra Böhnke und Boris Heizmann untersuchen im Folgenden „Armut und intergenerationale Mobilität“ und kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Einkommenschancen von in Armut aufgewachsenen Personen verschlechtert haben. „Eine durch materielle Knappheit geprägte Kindheit mit konflikthaften Begleiterscheinungen beeinflusst sowohl die Persönlichkeitsentwicklung als auch die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen maßgeblich negativ und schränkt darüber vermittelt auch die Berufschancen ein – dies umso stärker, je länger die Armutsphasen anhalten“ (Böhnke/Heizmann in Böhnke/Dittmann/Goebel: 140). Währenddessen betrachten Claudia Vogel und Harald Künemund „Armut im Alter“. „Armut und Migration“ wird von Andrea Janßen und Jeannette Bohr vorgestellt und Sigrid Betzelt unterzieht das Verhältnis von „Armut und Gender“ einer eigenen Analyse, die strukturelle Ursachen geschlechtsspezifischer Armutsrisiken aufzeigt (Betzelt in Böhnke/Dittmann/Goebel: 166 ff.). Dem schließt sich Bettina Kohlrausch an, die das Verhältnis zwischen materieller und sog. Bildungs-Armut in ihrem Aufsatz „Armut und Bildung“ kritisch reflektiert (Kohlrausch in Böhnke/Dittmann/Goebel: 179 ff.). Martin Ehlert diskutiert daraufhin den Forschungsstand zu „Armut und Arbeitslosigkeit“, gefolgt von Henning Lohmann, der sich mit „Armut von Erwerbstätigen“ auseinandersetzt und beweist, „dass die Zunahme der Erwerbsarmut eine Facette der allgemeinen Armutsentwicklung und kein davon abgekoppeltes Phänomen darstellt“ (Lohmann in Böhnke/Dittmann/Goebel: 210). Als nächstes beobachten Hans-Jürgen Andreß, Katharina Hörstermann und Timo-Kolja Pförtner „Armut, Konsum und Lebensstandard“. Thomas Lampert untersucht „Armut, soziale Ungleichheit und Gesundheit“ und Petra Böhnke sowie Frederike Esche widmen sich „Armut und subjektivem Wohlbefinden“. Sie finden heraus, „dass materielle Notlagen das subjektive Wohlbefinden negativ beeinflussen“ und kommen dabei vor allem auf häufigere Ängstlichkeit und Traurigkeit sowie Implikationen existenzieller Sorgen und Nöte zu sprechen (Böhnke/Esche in Böhnke/Dittmann/Goebel: 244). In ihrem Beitrag „Armut, soziale Netzwerke und Partizipation“ beobachten Petra Böhnke und Sebastian Link, dass „wohlfahrtsstaatlicher Wandel, der vormals staatliche Leistungen in den Bereich informeller Fürsorge verschiebt, [...] damit soziale Ungleichheit [verstärkt]“ (Böhnke/Link in Böhnke/Dittmann/Goebel: 255). Daraufhin stellt Carsten Keller Forschungen zu „Armut und Sozialraum“ vor. Dann wird „Armut und Wohnen“ von Annette Spellerberg mit Christoph Giehl untersucht, deren Ergebnis, dass arme Personen häufiger zur Miete wohnen (Spellerberg/Giehl in Böhnke/Dittmann/Goebel: 279), nicht sehr überrascht. Jörg Dittmann sowie Matthias Drilling betrachten sodann „Armut und Wohnungslosigkeit“, womit das zweite Kapitel abgeschlossen wird. Ohne explizit in den Aufsätzen erwähnt zu werden, erinnern manche an einen Gedanken des Dichters Bertolt Brecht aus seinem Band „Meti – Buch der Wendungen“, wo es dazu heißt: „Es gibt viele Arten zu töten. Man kann einem ein Messer in den Bauch stecken, einem das Brot entziehen, einen von einer Krankheit nicht heilen, einen in eine schlechte Wohnung stecken, einen durch Arbeit zu Tode schinden, einen zum Selbstmord treiben, einen in den Krieg führen. Nur weniges davon ist in unserem Staat verboten“ (Brecht 1995: 90). Dessen ungeachtet und ohne gegenseitigen Bezug zueinander, werden die verschiedenen Problemfelder empirisch solide untermauert präsentiert, doch die (in der Überschrift und der Einleitung) versprochenen strukturellen Ursachenanalysen müssen eher mit der Lupe gesucht werden – und die Beziehungen der einzelnen Problemfelder zueinander bedauerlicherweise ebenfalls.

Das macht armutspolitische Konsequenzen, Gegenstrategien und Alternativkonzepte trotz aller zugegebener Kompetenzen der Verfasser:innen nicht gerade einfacher. Mit dem dritten Kapitel „Wie bearbeiten wir Armut“ sollen „Ansatzpunkte der Armutsbekämpfung“ dargeboten werden. Der Sozialstaats-Experte Gerhard Bäcker gibt mit seinem Aufsatz einen fachgerechten Überblick zu „Armut und Sozialpolitik“. Dem schließen sich Heiner Brülle und Rabea Krätschmer-Hahn an mit ihrer Untersuchung zu „Dimensionen kommunaler Armutspolitik“. Daraufhin betrachtet Ingo Bode „Armut und Zivilgesellschaft“, während Jörg Dittmann sowie Patrick Oehler „Soziale Arbeit und Armut“ unter die Lupe nehmen. „Armut und Resilienz“ beobachten Markus Promberger, Lars Meier, Frank Sowa und Marie Boost. Schließlich untersucht die Armuts- und Grundsicherungs-Expertin Irene Becker das Thema unter dem Blickwinkel „Armut – ein Verstoß gegen soziale Gerechtigkeit?“. Sie setzt sich dabei nicht nur mit Gerechtigkeitstheorien und -Praxen auseinander, sondern weist auch nach, dass eine Individualisierung von Armut zu problematisieren ist, zugunsten einer umfassenden Untersuchung struktureller Ursachen und damit verbundener Gerechtigkeitslücken (Becker in Böhnke/Dittmann/Goebel: 364).

Die Einleitung (Böhnke/Dittmann/Goebel: 17) sowie das ganze zweite Kapitel versprechen eine Erforschung der „strukturellen Ursachen von Armut“. Dieses Versprechen wird jedoch allenfalls rudimentär eingelöst. Zwar teilen die Herausgeberin und die Herausgeber Petra Böhnke, Jörg Dittmann und Jan Goebel auch Befürchtungen, dass die Ersetzung des politischen Ziels der Verteilungsgerechtigkeit durch Chancengerechtigkeit und die Hervorhebung von Investitionen in Armutsvermeidung die Diskussion um Ressourcenumverteilung in den Hintergrund treten lassen, denn dadurch würden ihres Erachtens die strukturellen Ursachen von Armut leicht aus dem Blick verloren gehen. „Mit der Zuspitzung auf Bildungsinvestitionen und die damit häufig individualisierten Armutsvermeidungsanstrengungen geht eine Perspektiv-Verengung einher. Gesellschaftliche, strukturelle und systembedingte Ursachen, wie sie beispielsweise an der marktbasierten Wohnraumversorgung, an flexibilisierten Arbeitsmärkten oder an Vereinbarkeitsproblemen, die bei Alleinerziehenden durch fehlende Kinderbetreuung etc. deutlich werden, geraten dagegen aus dem Blick“ (Böhnke/Dittmann/Goebel 2018: 17). Dem könnte durch eine (Re-)Politisierung der (Kinder-)Armutsforschung abgeholfen werden. Sie ginge davon aus, dass auch das politische, wissenschaftliche und publizistische Reden über Arme (Kinder und Familien) einen Teil der gesellschaftspolitischen Polarisierungs-Problematik ausmacht und auf Ressourcen und Resilienz wirkt. Außerdem besteht – entgegen der Individualisierungsprämisse – gerade ein wichtiger Resilienzfaktor darin, sich den eigenen Hilfebedarf einzugestehen, Hilfe zu holen und/oder Hilfe von anderen annehmen zu können. Genau entgegen der weit verbreiteten Ellenbogen-Ideologie sogenannter Eigenverantwortung besteht das Ressourcen- und das Resilienzkonzept in diesem Sinne gerade nicht darin, das individuelle Ertragen unerträglicher Zustände zu propagieren. Vielmehr geht es darum, subjektive Stärken zu ermitteln sowie individuelle und kollektive Bewältigungspraxen zu analysieren, die zur Veränderung widriger Handlungsbedingungen beitragen können. Emanzipatorische Armutsbekämpfungs-Politik kann dies unterstützen durch Organisierung und Mobilisierung kollektiver Resilienz gegenüber den neoliberalen Zumutungen und für solidarische Alternativen.

Doch dazu erfahren die Lesenden des „Handbuchs Armut“ nur sehr wenig. Und warum die Armuts-Entwicklung so gekommen ist, wissen die Forscher:innen überwiegend auch nicht zu berichten. Der sozioökonomische Kontext, soziale Interessen, gesellschaftspolitische Projekte des Neoliberalismus für mehr soziale Ungleichheit und einen breiten Niedriglohnsektor, scheinen ihnen entgangen zu sein. Sowas wie Kapitalismus, Klassengesellschaft oder gar -kämpfe und Kräfteverhältnisse sind für die hegemonialen ABC-Sozialwissenschaften (Anything but Class) genauso inexistent, wie mögliche Subjekte des Handelns und des Wandels. Damit entgeht ihnen allerdings weitgehend, dass sich die Entstehungsursachen der sozioökonomischen Ungleichheit aus der häufig „Globalisierung“ genannten neoliberalen Modernisierung erklären lassen sowie aus Fehlentscheidungen und falschen Weichenstellungen der politisch Verantwortlichen. Da die sozioökonomische Ungleichheit in den kapitalistischen Produktions-, Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen wurzelt und der Anstieg der Ungleichheit nicht die naturwüchsige Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie und kühner schöpferischer Zerstörung ist, müssen auch Konsequenzen politischer Entscheidungen mitberücksichtigt werden. Die Folgen der sozialen Ungleichheit lassen sich, wie Christoph Butterwegge an anderer Stelle hervorhebt, in der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft, der Prekarisierung der Lohnarbeit und der Pauperisierung eines wachsenden Teils der Bevölkerung beobachten, während auch die politische Spaltung als nicht minder problematisches Resultat der sozioökonomischen Spaltung kontextualisiert werden muss (vgl. Butterwegge 2020: 254 ff.). Doch darauf basierende soziologische Analysen und Kritiken suchen die Leserin und der Leser vergeblich im „Handbuch Armut“.

In diesem Sinne ist das „Handbuch Kinderarmut“ deutlich weiter. Es startet schon in der Einleitung programmatisch mit einem zornigen, aber berechtigten Zitat des herausragenden Pädagogen und Kinderrechte-Kämpfers Janusz Korczak, welcher sagte: „Wann werden wir endlich, verdammt nochmal, aufhören, einfach nur Salizylsäure [Aspirin] gegen all das Elend, gegen die Ausbeutung, gegen die Rechtlosigkeit, gegen die Verwaisung, gegen Verbrechen zu verschreiben? Wann, zum Teufel?“ (Korczak 1909/1999: 18; zit. nach Rahn/Chassé 2020: 9).

Die Verfasser:innen der Beiträge des Handbuchs Kinderarmut weisen einen wesentlich weiteren Horizont auf und beziehen deutlich mehr Disziplinen mit ein (Soziale Arbeit, Politikwissenschaft, Pädagogik usw.). Die Herausgeber Peter Rahn und Karl August Chassé machen bereits in ihren einleitenden Überlegungen klar, dass gesellschaftspolitische und sozioökonomische Kontexte immer mitgedacht werden müssen für ein adäquates Verständnis von (Kinder-)Armut.

Ihr Band ist in fünf Kapitel aufgeteilt. Zuerst geht es um „Perspektiven auf Kinderarmut“. Hier berichtet Susanne Gerull über „Armutsverständnisse im Kontext von Kinderarmut“ und Karl August Chassé betrachtet „Kinderarmut und das Konzept der Lebenslage“. Dem folgen Franz Neuberger und Maksim Hübenthal mit ihrem Beitrag „Kinderarmut ist Familienarmut?!“, während Sabine Walper und Julia Reim über „Kinderarmut und Sozialisation“ informieren. Der Aufsatz von Jörg Reitzig analysiert „Kinderarmut und Gesellschaft – sozialpolitische Herausforderungen“, wobei er sozioökonomische Kontexte von (Kinder-)Armutsentwicklungen untersucht und soziale Interessen sowie Interessenten an (Kinder-)Armut als notwendige Bedingungen zur Erklärung der Funktionalitäten von extremen sozialen Ungleichheiten aufzeigt (Reitzig in Rahn/Chassé: 71). Rita Braches-Chyrek rekonstruiert „Kinderarmut: Historische Verhältnisbestimmungen“. Daraufhin schließt Nadine Seddig das Kapitel mit einer Betrachtung zu „Kinderarmut und Forschung“.

Im zweiten Kapitel werden „Facetten von Kinderarmut“ vorgestellt. Sonja Fehr fragt rhetorisch „Einmal arm, immer arm?“ und Silke Tophoven entdeckt „Armutsmuster in der Kindheit“. Sie kommt zum Ergebnis, dass laut einigen Studien „Armut für viele Kinder eine länger andauernde Erfahrung ist und nicht nur auf eine kurze Episode beschränkt ist“ (Tophoven in Rahn/Chassé: 112). Dem folgen Katharina Knüttel und Volker Kersting, die sich „Segregierten Quartieren und Kinderarmut“ widmen. Ihren Forschungen zufolge lassen sich „sozialräumlich ungleiche Kindheiten feststellen“, wobei Armutssegregation bei Kindern stärker ausgeprägt sei als bei Erwachsenen. Zudem müsse bedacht werden, dass „segregierte Armut Folge und nicht Ursache gesellschaftlicher Ungleichheit“ sei (Knüttel/Kersting in Rahn/Chassé: 121). Demgegenüber sehen sich Margit Stein und Daniela Steenkamp „Kinderarmut im ländlichen Raum“ an. Dann werden „Kinderarmut, Milieu und Bildung“ von Karl August Chassé und Peter Rahn untersucht, woraufhin Jacqueline Eidemann, Christian Palentien, Sebastian Wachs und Lara-Joy Rensen über „Bildungsarmut in Deutschland“ schreiben. Deren Analyse zum Konzept der „Bildungsarmut“ (Eidemann/Palentien/Wachs/Rensen in Rahn/Chassé: 148 f.) gerät allerdings weniger kritisch als diejenige von Kohlrausch im „Handbuch Armut“ (vgl. Kohlrausch in Böhnke/Dittmann/Goebel: 177 ff.). Als nächstes beschreibt Nadia Kutscher das Verhältnis von „Familienarmut, Kinderarmut und digitalen Medien“. Carolin Butterwegge stellt die Frage nach einer „Ethnisierung der Kinderarmut“, die sie anhand der Entwicklungen relativer Armut von Kindern mit Migrationshintergrund begründet. Dem folgen Alexandra Klein und Jann Schweizter mit einem Beitrag über „Kinderarmut und Geschlecht“. Antje Richter-Kornweitz fragt anschließend „Wie geht’s den Kindern? – Gesundheitliche Teilhabe in der Kindheit“. Mit „Kinderarmut und die Perspektive der Kinder“ beschließt Peter Rahn das zweite Kapitel.

Das dritte Kapitel handelt von „institutionalisierten Praxen“. Dabei geht es Davina Höblich um „Peers – die Rolle von Gleichaltrigenbeziehungen bei der Reproduktion oder Bewältigung von Armut“. Ronald Lutz beobachtet „Erschöpfte Familien und die Folgen für Kinder“. Er schlussfolgert, dass der Zusammenhang von Armut, Familie, Verwundbarkeit und Erschöpfung politisch, ökonomisch und sozial durch die Ungleichverteilung von Ressourcen und Kompetenzen hergestellt wird. „Familiale Erschöpfung wird zur Spätfolge von Armut und Ausgrenzung, die durch dauerhafte Belastung entsteht und den Alltag in den Familien sowie Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten von Kindern einengt“ (Lutz in Rahn/Chassé: 215). Danach geht es in die Praxis der Institutionen. Kirsten Fuchs-Rechlin beschäftigt sich mit „Kindertageseinrichtungen“ und präsentiert deren Möglichkeiten sowie Grenzen bei der Kompensation von Armutsfolgen (Fuchs-Rechlin in Rahn/Chassé: 223). Susanne Miller erforscht „Kinderarmut in der Grundschule – Analyse und Handlungsperspektiven“; zu „Kinderarmut – Schule als Teil des Problems oder Teil der Lösung?“ arbeiten Sebastian Wachs, Jacqueline Eidemann, Lara-Joy Rensen, Wilfried Schubarth und Christian Palentien. Viktoria Häußermann setzt sich auseinander mit „Schulsozialarbeit an Grundschulen und Armut – Kontextwissen als Grundlage für eine starke Kooperation der pädagogischen Fachkräfte“. Dem schließt sich Ulrich Bürger an, der sich mit „Kinderarmut im Kontext der Hilfen zur Erziehung“ beschäftigt sowie Heike Förster, die „Kinderarmut und Jugendhilfeplanung“ untersucht.

Das vierte Kapitel widmet sich „Kinderarmutsprävention und -bekämpfung“. Darin liefert Christoph Butterwegge Erkenntnisse darüber, „was gegen Kinderarmut in Deutschland zu tun ist“. Da, wie er schreibt, „die Entstehung von (Kinder-)Armut multiple, teilweise eng miteinander verknüpfte Ursachen hat, ist sie auch nur mehrdimensional zu bekämpfen“ (Butterwegge in Rahn/Chassé: 282). Magdalena Joos zeigt sodann die Potenziale von „Sozialberichterstattung“ in Bezug auf Kinderarmut. Zu „Rechtsetzung und Rechtsvollzug als Impulsgeber oder Bremse einer Politik gegen Armut?“ informiert Wolfgang Hammer. Danach erforscht Gerda Holz „Präventionsketten – kind-/jugendbezogene Armutsprävention auf kommunaler Ebene“. Detlef Baum schließt daran an mit „Lokalen Strategien und Handlungsoptionen im Umgang mit Kinderarmut – eine sozialräumliche Perspektive“. Daraufhin referieren Alexandra Sann und Daniele Salzmann zu „Frühen Hilfen für Familien mit Säuglingen und Kleinkindern“. Johann M. Gleich ermittelt kinderarmutsspezifische „Anforderungen an Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen“. Das Kapitel wird von Margherita Zander mit einem Beitrag über „Kinderarmut, Resilienz und Handlungsfähigkeit“ abgeschlossen.

Unter der Überschrift „Utopien“ fragt der Kinderrechte- und Kinderarbeits-Experte Manfred Liebel im fünften Kapitel „Kinderrechte als Utopie?“ (Liebel in Rahn/Chassé: 353 ff.), während der Politikwissenschaftler Roland Roth utopischen Dimensionen eines „Grundeinkommens“ nachgeht (Roth in Rahn/Chassé: 362 ff.). Zum Schluss erforscht Holger Ziegler „Armut als Entfremdung“ und recherchiert dabei „Elemente einer emanzipatorischen Möglichkeitstheorie“ (Ziegler in Rahn/Chassé: 371 ff.). Zurecht wird in diesem Kapitel die völkerrechtlich und bundesgesetzlich verpflichtende Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention „als Utopie“ infrage gestellt. Etwas mehr kritische Reflexion hätte man sich hinsichtlich der sozialstaatlichen Implikationen und Funktionen unterschiedlicher „Grundeinkommens-Modelle“ gewünscht, deren Auswirkungen bisweilen weniger „utopisch“, als eher fast „dystopisch“ zu bezeichnen wären. Auch bei allen Überlegungen in Richtung einer häufig im gesamten Band geforderten und prinzipiell ja auch unterstützenswerten Kindergrundsicherung wäre wichtig, dass Kinder und ihre Familien nach den anvisierten Maßnahmen auch wirklich aus Armut und Hilfsbedürftigkeit befreit werden. Dabei sollte man nicht der Illusion verfallen, Kinder als anscheinend „autonom“ aus dem Familienkontext fiktiv herauszulösen und mit einer „eigenständigen Kindergrundsicherung“ oder ähnlichem scheinbar aus der Bedürftigkeit zu holen, während der Rest der Familie weiterhin in der Hilfsbedürftigkeit verbleibt. Arme Kinder sind in der Regel Kinder armer Eltern(teile) und sollten nicht gegen sie ausgespielt werden. Überdies sollte jede Konzeption, die pauschal allen und damit auch vielen nicht bedürftigen Eltern und Kindern mit enormen Finanzmitteln unter die Arme greifen will, daraufhin kritisch unter die Lupe genommen werden, wie ihre effektiven Folgen für die Verhinderung und Verminderung von Kinderarmut aussehen. Das heißt, die Ziel-Mittel-Relation bedarf einer präzisen Analyse. Außerdem ist es auch und gerade für ein Eingreifen in politische Diskurse über soziale Polarisierung wichtig, die Primärverteilung des gewachsenen gesellschaftlichen Reichtums bei allen sinnvollen Forderungen von Maßnahmen gegen Kinderarmut im Blick zu behalten. Schließlich kann ein arm gemachter Staat nur schwerlich Armut bekämpfen und die Kinderrechte (wieder)herstellen.

Alle Aufsätze dieses Bandes sind uneingeschränkt verständlich verfasst und am Ende sogar mit einer kurzen Quintessenz als Merksätze abgeschlossen, was didaktisch sehr hilfreich ist für den Lehrbetrieb.

Beide Handbücher sind – bei aller Kritik im Einzelnen – insgesamt sehr lehrreich und allen Forschenden, Lehrenden, Lernenden, Studierenden sowie Praktizierenden von Sozial- und Bildungsberufen zu empfehlen. Dass sie sich beide nicht darum kümmern, dass gleichnamige Handbücher auch schon vor ihnen vorgelegt wurden, könnte als ein kleines Manko angesehen werden. Dafür, dass sie die aktuellen Bedingungen der Corona-Krise noch nicht einbezogen haben (das Handbuch Kinderarmut erwähnt sie kurz in der Einleitung), konnten beide Handbücher natürlich nichts. Man darf gespannt sein auf ihre überarbeitete zweite Auflage, welche beiden und vor allem den Leserinnen und Lesern sehr zu wünschen wäre. Gerade, wenn es um Ursachen und Zusammenhänge geht, die die empirischen Mikrodaten überschreiten, ist das Handbuch Armut eher eingeschränkt, wohingegen im Handbuch Kinderarmut auch sozioökonomische Interessen an Armut (von Familien und Kindern) angesprochen werden und die meisten Beiträge auch den gesellschaftspolitischen Kontext nicht aus den Augen verlieren.

Literatur

Baresel, K. u. a. Hälfte aller Erbschaften und Schenkungen geht an die reichsten zehn Prozent aller Begünstigten. DIW-Wochenbericht 2021, 5, 64–71.Suche in Google Scholar

Brecht, B. Buch der Wendungen. In Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 18, Prosa 3; Knopf, J.; Duchardt, M.; Liebig, U.; Bergheim, B., Hrsg.; Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1995; pp 45–194. Suche in Google Scholar

Butterwegge, C. Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland; Beltz Juventa: Weinheim/Basel, 2020.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2022-05-17
Erschienen im Druck: 2022-05-16

© 2022 Michael Klundt, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
  6. Zum Zusammenhalt
  7. Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
  8. Essay
  9. ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
  10. Sammelbesprechung
  11. Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
  12. Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
  13. Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
  14. Doppelbesprechung
  15. Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
  16. Ändert sich die Struktur der Öffentlichkeit durch den digitalen Medienwandel?
  17. Einzelbesprechung Sozioprudenz
  18. Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
  19. Einzelbesprechung Biografieforschung
  20. Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
  21. Einzelbesprechung Theorie
  22. Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
  23. Einzelbesprechung Religion
  24. Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
  25. Einzelbesprechung Gerontologie
  26. Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
  27. Einzelbesprechung Rassismus
  28. Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
  29. Einzelbesprechung Soziale Bewegung
  30. Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
  31. Einzelbesprechung Theorie
  32. Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
  33. Einzelbesprechung Digitale Arbeit
  34. Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
  35. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
  36. Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Heruntergeladen am 8.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-0009/html?lang=de&srsltid=AfmBOoo3Y1w0WOpd7R1nLAWXGC8OZueUnO_5EFmZKrZl_FJwta9yOkRR
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