Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
Rezensierte Publikation:
Nicole Deitelhoff / Olaf Groh-Samberg / Matthias Middell (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 382 S., 34,95 €
Zusammenhalt: Eine Grundfrage der Soziologie
Wer über eine Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nachdenkt und sich fragt, wieso man eine Gesellschaft als eine Gesellschaft im Ganzen, aber auch in ihrem Unterschied zu anderen Gesellschaften erkennen kann, stößt zwangsläufig auf die Frage, was eine Gesellschaft zusammenhält.
Im Hinblick auf traditionale Gesellschaften wird diese Frage üblicherweise mit dem Hinweis auf einen spezifischen kulturellen Konsens beantwortet: Eine gemeinsame Sprache und eine Religion, gemeinsame Gebräuche und solidarische Handlungen halten eine Gesellschaft zusammen und machen sie letztlich aus. Es ist also eine gesamtgesellschaftliche Gemeinschaft, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt schafft.
Dass diese Art des Zusammenhalts im Laufe der Industrialisierung und Arbeitsteilung erodierte, – wenn auch Herrschende bis heute nicht selten ihre Bestrebungen mit Konsensstrategien zu legitimieren versuchen – wurde spätestens im Laufe des 19. Jahrhunderts offenkundig. Das trug zum Entstehen der Soziologie bei und veranlasste soziologische Klassiker, neue gesellschaftliche Bindeglieder auszumachen. Ferdinand Tönnies unterschied bekanntlich die aufkommende „Gesellschaft“ von der herkömmlichen „Gemeinschaft“ (Tönnies, 1887). Besonders einflussreich wurde Émile Durkheims Unterscheidung, der zufolge die „mechanische“ von einer „organischen Solidarität“ abgelöst werde (Durkheim, 1893). Das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-Sein halte also moderne Industriegesellschaften zusammen.
Aber auch hieran wachsen mittlerweile die Zweifel. Es hat den Anschein, dass entwickelte Gesellschaften aufgrund fortschreitender Globalisierung und Digitalisierung auf Teile der Bevölkerung nicht länger angewiesen sind, auf andere dafür umso mehr.
Was also hält moderne Gesellschaften zusammen, wenn nicht länger Gemeinschaft oder wechselseitige Leistungen? Reicht ein Bekenntnis zur Zugehörigkeit und die Befolgung der rechtlichen Grundregeln aus, um den Zusammenhalt sicherzustellen? Oder brauchen auch sie ein bestimmtes Maß an gesamtgesellschaftlich verbindender kultureller Gemeinschaft, und damit verbunden gegenseitiges Verstehen, Vertrauen und solidarisches Handeln? Wie wirken sich Faktoren wie zum Beispiel soziale Ungleichheiten, regionale Disparitäten, unterschiedliche und segmentierte Kommunikationsstrukturen, Familienverständnisse und religiöse Loyalitäten auf den Zusammenhang moderner Gesellschaften aus?
Wachsende und aktuelle Gefährdungen des Zusammenhalts
In den frühen 1980er Jahren wurde in der deutschen Sozialstrukturanalyse damit begonnen, die offenbar wachsenden sozio-kulturellen Pluralisierungen innerhalb der Sozialstruktur zu erforschen (Hradil, 1985). Als Ursachen wurden vorwiegend der zunehmende Wohlstand und die Bildungsexpansion ausgemacht, die es den einzelnen erlaubten, ihre Lebensweisen in wachsendem Maße selbst zu bestimmten. Die so ermöglichten Lebensstil- und Milieudifferenzierungen galten überwiegend als „bunt“, als Zuwächse von Freiheit, als Öffnung der Gesellschaft, als Bereicherung. Wenn Konflikte zwischen Lebensstilgruppierungen und Milieus überhaupt registriert wurden, wertete man sie eher als Marktplätze von Ideen und als Motoren gesellschaftlicher Entwicklung. Damals überwog also eine positive Bewertung der sozio-kulturellen Unterschiede.
Das hat sich mittlerweile geändert. Heute gelten manche dieser Gruppierungen als Herde dysfunktionaler Konflikte, als geschlossen und trennend, zuweilen sogar als bedrohlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt. Dass die Einschätzung von soziokulturellen Unterschieden heute oft negativ geworden ist, hat unter anderem mit Bewertungen migrantischer Milieus, aber auch mit ungleich prosperierenden Entwicklungstendenzen einzelner Milieus und mit der politischen Reaktion hierauf zu tun.
Dies kann ein Blick auf die derzeitige Milieustruktur in Deutschland verdeutlichen: Manifest kritisch wurde die Beurteilung bestimmter Milieuunterschiede vor allem, seit sich in den letzten Jahren rechtspopulistische Sichtweisen vor allem im Prekären, Traditionellen, Nostalgisch-Bürgerlichen und im Konservativ-Gehobenen Milieu verbreiteten. Stagnierende Wohlstandsentwicklungen und anti-kosmopolitische, national orientierte Werthaltungen wirkten hier zusammen und erzeugten eine Kluft zu den übrigen Milieus. Manche sprechen von einer Spaltung der Gesellschaft. Die Folgende Abbildung zeigt diesbezügliche Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2017.
Der Begriff Gesellschaftlicher Zusammenhalt wurde seither nicht zufällig zum politischen Schlagwort. Er bezeichnet einen gesellschaftlichen Zustand, der nach weit verbreiteter Meinung immer mehr in die Ferne rückt. Allerdings wird der Begriff mit sehr unterschiedlicher Bedeutung gefüllt, je nach dem Aspekt des Zusammenhalts, den die einzelnen politischen Parteien und Richtungen besonders vermissen, und je nach den Wegen, die nach ihrer Meinung beschritten werden sollen, um den jeweiligen Zusammenhalt zu erreichen. Zusammen mit seiner Vieldeutigkeit machen den Begriff Sozialer Zusammenhalt auch seine instrumentelle Verwendung und seine Vagheit für wissenschaftliche Zwecke schwierig. Aber bekanntlich bleiben die Inhalte der meisten im politischen Diskurs verwendeten Begriffe – wohlweislich – vage bis an den Rand der Leerformel. Der Begriff Gesellschaftlicher Zusammenhalt macht hier keine Ausnahme.
Das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt
Die Gunst der Stunde wurde genutzt, um die aktuelle, problemorientierte und interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Forschung hierzulande voran zu bringen. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) wurde Mitte 2020 gegründet. Es besteht aus einem Komplex von derzeit 83 (!) Forschungs- und Transfervorhaben, denen gleichzeitig in der TU Berlin, den Universitäten Bielefeld, Bremen, Frankfurt, Halle-Wittenberg, Hannover, Konstanz und Leipzig sowie im SOFI Göttingen, Leibniz-Institut für Medienforschung Hamburg und im Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena nachgegangen wird. Am FGZ sind unter anderen die Disziplinen Soziologie, Politologie, Sozialpsychologie, Konfliktforschung, Kulturwissenschaften, Rechtswissenschaft, Finanzwissenschaft, Literaturwissenschaft, Sozialgeographie und Regionalplanung, Agrarwissenschaft, Kommunikations- und Medienwissenschaft beteiligt. Aufgabe des FGZ ist es, mit quantitativen und qualitativen empirischen Untersuchungen und großangelegten Vergleichen praxisrelevante Vorschläge zu erarbeiten. (www.fgz-risc.de, 30.10.2021)
Das vorliegende Buch ist von den anfänglichen drei Sprecher:innen des FGZ herausgegeben und skizziert unübersehbar dessen Startsituation. In vielen Beiträgen werden benötigte wissenschaftliche Grundkategorien entwickelt. Hierzu geht man vor allem die wichtigsten Dimensionen gesellschaftlichen Zusammenhalts durch und ordnet sie begrifflich ein. Andere Aufsätze geben eher Erträge früherer Forschungen der beteiligten Forscher:innen wieder, die den Verfasser:innen auch relevant für die jetzt anstehenden Forschungen erscheinen. Wieder andere Artikel lesen sich wie Teile des Antrags auf Bewilligung und Finanzierung des FGZ. Neben der Art der Beiträge unterscheidet sich auch deren Qualität deutlich.
Trotzdem ergibt sich nach der Lektüre dieses heterogenen Sammelbandes insgesamt ein durchaus lehrreicher Überblick über die große Bandbreite der geplanten Erforschung gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es entsteht ein Panorama, das sich über viele Aspekte (mangelnden) gesellschaftlichen Zusammenhalts erstreckt und die unterschiedlichen Wege zu deren Erforschung andeutet. Diese Aspekte (z. B. Disparitäten regionaler Infrastruktur, die Problematik sozialer Medien oder die Statuskonkurrenz in Mittelschichten) sowie die Art ihrer Erforschung deuten oft an, wie nach Ansicht der Autor:innen ein wünschenswerter Zusammenhalt beschaffen sein sollte. Das bleibt nicht ohne Widersprüche. Und nicht alles davon muss man teilen.
Zur Anlage des Bandes
Erwartungsgemäß dienen die ersten Beiträge im zu besprechenden Band der Entwicklung von Grundbegriffen. Klugerweise verzichtet man darauf, sich auf einen inhaltlichen, notwendigerweise auch normativ beladenen Begriff des Gesellschaftlichen Zusammenhalts festzulegen. Denn es deutet sich schon hier am Beginn der Arbeiten an, wie unterschiedlich man die Zielvorstellung des Gesellschaftlichen Zusammenhalt im gegenwärtigen Diskurs versteht, ohne dies aber in der Regel zu explizieren. Ein Liberaler wird den gewünschten Gesellschaftlichen Zusammenhalt „sparsamer“ als ein Konservativer oder gar ein Sozialist definieren. Die politische Rechte wird den angestrebten gesellschaftlichen Zusammenhang weitgehend widerspruchsfrei („Wir sind das Volk“) sehen, Demokraten setzen unterschiedliche, wenn nicht sogar gegensätzliche Kulturen, Bestrebungen und Mentalitäten, auch Konflikte voraus, wollen also, dass teilweise kein Zusammenhalt besteht.
Angesichts dieser inhaltlichen Divergenzen machen sich die Verfasser des einleitenden Beitrags daran, „Ebenen beziehungsweise Aspekte“ (Deitelhoff/Groh-Samberg/Midell/Schmelzle: 19) des Gesellschaftlichen Zusammenhalts herauszuarbeiten. Diese sind: Individuelle Einstellungen, Handlungen und Praktiken, soziale Beziehungen und Netzwerke, institutionelle Zusammenhänge der Kooperation und Integration sowie gesellschaftliche Diskurse (19).
Das klingt selbstverständlich und „harmlos“, ist es aber nicht. Schon die Entfaltung so weitgespannter sozialwissenschaftlicher Arbeitsdimensionen ist voraussetzungsreich. Sie legt nahe, dass Aktivitäten der gesellschaftlichen Akteure auf allen genannten Ebenen notwendig seien, um Zusammenhalt hervorzubringen. Auf die vielen Bürger und Einrichtungen aber angewandt, die ihren Beitrag nur darin sehen, ihre spezifischen Aufgaben zu erfüllen, Vieles in der Gesellschaft zu tolerieren, ihre Steuern zu zahlen und die Gesetze zu achten, und sich ansonsten weder groß um das Verstehen Anderer noch um deren Unterstützung oder gar um Beziehungen zu ihnen bemühen, werden die genannten Forschungsdimensionen wenig ertragreich sein bzw. Defizite ausmachen. Zum Gesellschaftlichen Zusammenhalt tragen viele dieser Menschen und Organisationen trotzdem bei. Die weitgespannt geplante, vieldimensionale Auffächerung der Erforschung legt ein umfassendes und sehr aktives Verständnis des Gesellschaftlichen Zusammenhalts nahe, das man keineswegs für selbstverständlich halten muss. Auch und gerade in liberalen Ländern wie Großbritannien, Kanada und Neuseeland ist der Gesellschaftliche Zusammenhalt groß, obwohl zum Beispiel Sozialprogramme rar sind und die soziale Segregation des Wohnens viel ausgeprägter ist als bei uns.
Auch die Beiträge zur „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ (Lorenz/Lenk/Hesse/Kolb) und zu „Räumlichen Unterschieden“ (Dirksmeier/Göb/Herrmann/Ibendorf/Knaps/Othengrafen/Ruffing) im vorliegenden Band sind ausgesprochen lehrreich, was die Raumordnungspolitik und die Lebensbedingungen in Deutschland betrifft. Im internationalen Vergleich fällt jedoch auf, dass in den meisten vergleichbaren Ländern viel geringere Bemühungen als hierzulande unternommen werden, räumliche Disparitäten einzuebnen. Ist der Gesellschaftliche Zusammenhalt deswegen dort geringer? Selbst die Autor:innen gestehen ein: „Ob solche regionalen Ungleichheiten allerdings auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden, ist eine empirische Frage.“ (282) Man sollte m. E. Forderungen nach mehr sozialer Gleichheit, auch nach mehr regionaler Gleichheit, die gute Gründe haben mögen (u. a. Bildungs- und Beschäftigungschancen, Gesundheitsrisiken), nicht zu eilfertig mit Befürchtungen begründen, der Zusammenhalt der Gesellschaft könne Schaden nehmen oder sie könne sogar zusammenbrechen. Internationale und historische Vergleiche stützen das oft nicht.
Was besonders auffällt
Im Bericht über eine bereits durchgeführte qualitative empirische Untersuchung über die Mittelschicht in Deutschland von Holubek-Schaum/Sachweh/Schimank (295ff.) ist zu lesen, dass eine an der „investiven Statusarbeit“ ausgerichtete (vulgo wohl: ehrgeizige) Lebensführung bei starker Konkurrenz dazu führe, „sich immer rücksichtloserer Praktiken zu bedienen, um ihre Chance zu wahren. Entsolidarisierung ist die Folge dessen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“ (307) Strategische Beziehungsmuster und das Nicht-Verstehen Anderer dominierten in dieser Art der Lebensführung und gefährdeten den sozialen Zusammenhalt. Gemeinschaftliche und nicht-strategische Beziehungen hingegen förderten das wechselseitige Verstehen und den Gesellschaftlichen Zusammenhalt. „Ein deutlich stärkerer Zusammenhalt besteht dann, wenn Vergemeinschaftung auf der Grundlage einer variablen Mixtur von geteilten Anschauungen, affektiven Zuneigungen, Vertrauen ineinander und Bereitschaft zum Lernen voneinander besteht – was alles auf einem nicht-strategischen wechselseitigen Verstehen beruht.“ (308)
Diese Befunde sind erstens empirisch nicht plausibel. Gerade die ambitionierten Teile der Mittelschicht verfügen nachweislich über besonders große Fertigkeiten, Kontakte zu knüpfen, auch nicht-strategische, was ohnehin in der Realität der Beziehungen und der Bestrebungen von Menschen kaum zu trennen ist. Zweitens halte ich die pauschale Aussage, dass gemeinschaftliche, nicht aber strategische Beziehungen den Gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern, für eine romantisierende unzulässige Verallgemeinerung, die mindestens so falsch wie richtig ist. Fördern Familismus, Stammtische und „Amigos“ im Geschäftsleben den Gesellschaftlichen Zusammenhalt wirklich?
Zu viel Zusammenhang, zu viel Gemeinschaft?
Die genannten Beispiele und Kritikpunkte sollen keinesfalls suggerieren, dass das gesamte Unternehmen des FGZ falsch angelegt oder minderwertig sei. Das Gegenteil ist der Fall. Der Sammelband versammelt erste Denkansätze, die zeigen, dass man dabei ist, hier eine Chance zu ergreifen: Viele Disziplinen, darunter viele soziologische Subdisziplinen, und viele Methoden können zusammenarbeiten und an vielen Punkten ansetzen, um das drängende Problem der Spaltung unserer Gesellschaft zu erforschen, und Maßnahmen zur Abhilfe suchen.
Freilich, und darauf beziehen sich die Einwände, könnte dieser breit gefächerte Ansatz auf die Maßnahmen-Strategie „viel hilft viel“ hinauslaufen. Beispielsweise liest man im sozialpsychologisch orientierten Beitrag von Zwick und Rees folgende operationale Definition von Zusammenhalt: „Zusammenhalt ist quantitativ und qualitativ bestimmbar anhand von Einstellungen, Verhalten, Beziehungen, den Institutionen und Diskursen“ (...). (134)
Wenn in all diesen Dimensionen der Zusammenhalt gefördert werden soll, liegt es nahe, die gegenseitigen Kenntnisse, die wechselseitige Empathie und das Vertrauen über die Grenzen gesellschaftlicher Gruppierungen hinweg zu stärken, die sozialen Kontakte zu mehren, Wohnverhältnisse anzugleichen, Ungleichheiten einzuebnen, mehr sozialpolitische Maßnahmen zu ergreifen, Filterblasen in den Medien zu öffnen u.v.m. Wer so viele Brückenschläge zuwege bringen will, wird auch viele Überforderungen erzeugen, wird zum Teil massiv gegen den Willen vieler Menschen handeln, wird Vieles Unnötige in die Wege leiten. Die Bürger können nicht alle sozialen Schichten, ethnischen Gruppierungen, Lebensstilgruppen und soziale Milieus verstehen, sie müssen schon gar nicht alle schätzen, zwischen ihnen wohnen und soziale Beziehungen zu ihnen knüpfen. Toleranz und die Respektierung der Gesetze (insbesondere des Grundgesetzes) reichen. Möglichst gleiche Bildungs-, Berufs- und Mobilitätschancen sind wichtig, um den Menschen realistische Ziele und Sinn zu vermitteln. Das erfordert zwar eine „Decke“ und einen „Fußboden“ (Dahrendorf, 1957) der Gesellschaft, aber nicht die Angleichung von Lebensverhältnissen und die Beseitigung sozialer Ungleichheit.
Die im Band erwähnte „Konsensdefinition“ Gesellschaftlichen Zusammenhalts im Gründungsantrag des FGZ lautet: „Gesellschaftlicher Zusammenhalt bezieht sich folglich auf Gemeinwesen, deren Mitglieder über (näher zu bestimmende) positive Einstellungen zueinander und zu ihrem Gesamtkontext verfügen, in den sie als Handelnde in Praktiken und Beziehungen involviert sind, die einen (näher zu bestimmenden) Gemeinschaftsbezug haben und sich in komplexe institutionelle Prozesse der Kooperation und Integration einfügen, die von den Gesellschaftsmitgliedern thematisiert und evaluiert werden. Zusammenhalt existiert dort, wo diese Ebenen eine bestimmte Qualität aufweisen und hinreichend (was ebenfalls näher zu bestimmen ist) übereinstimmen – in den Einstellungen, Handlungen Beziehungen, Institutionen und Diskursen innerhalb einer Gesellschaft.“ (Gründungsantrag: 16, zit.n. Zick/Ress: 133)
Hier wird explizit deutlich, dass es im FGZ um einen gemeinschaftlichen und nicht nur um einen gesellschaftlichen Zusammenhang gehen soll. In einem Gesellschaftlichen Zusammenhang braucht es nicht positive Einstellungen zueinander. Manche Gruppierungen werden von andern nur zähneknirschend ertragen werden. Man muss sich auch nicht unbedingt in Prozesse der Kooperation einfügen. Es wird hoffentlich genügend Eigenbrötler geben. Und manche der in der Definition genannten Ebenen sollten gar nicht übereinstimmen, beispielsweise nicht die Diskurse und die Institutionen. Dem Gesellschaftlichen Zusammenhang ist schon gedient, wenn Individuen die Menschenrechte achten und Steuern zahlen, wenn Unternehmen ihrem Unternehmensziel nachgehen, einen Gemeinschaftsbezug braucht es dazu nicht.
Zu viel Gemeinschaft, sei sie gesamtgesellschaftlich oder gruppenspezifisch, – diese Einsicht ist ja nicht neu – kann dem Gesellschaftlichen Zusammenhalt sehr schaden. Dieser Zusammenhang wird an einigen Stellen des Bandes sehr wohl thematisiert (z. B. in Thyms Darlegungen über den „Verfassungspatriotismus“). In der Gesamttendenz des FGZ scheint dies wenig beachtet.
Kurzsichtigkeit erzeugt die Gefahr der Kurzlebigkeit: Zur Aktualität des Rechtspopulismus
Es ist verständlich in der jetzigen Situation, es ist aber auch auffällig bei zeitlich distanzierter Betrachtung, wie oft, wie eng und wie ausschließlich im vorliegenden Buch die Diagnose eines schwindenden Zusammenhalts an das Aufkommen des Rechtspopulismus gekoppelt wird. Zwar wird kaum jemand bestreiten, dass es heute der Rechtspopulismus ist, der tiefe Gräben in der Gesellschaft entstehen lässt. Aber gerade die Soziologie, die die Aufgabe hat, längerfristigen Entwicklungen nachzugehen als zum Beispiel die Politikwissenschaft, sollte doch nicht vergessen, dass auch die Proteste der 1968er Studenten, die Saalschlachten zwischen Nazis und Kommunisten in den 1930er Jahren, das Wüten antidemokratischer Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg, der Kulturkampf Bismarcks ab 1870, die „Soziale Frage“ im 19. Jahrhundert etc. mindestens ähnlich tiefe Gräben darstellten. Ein zeitlich und theoretisch weiter gespannter Analyserahmen wäre daher m. E. oft hilfreich. Das würde auch der aktuellen Überbewertung der AfD abhelfen.
Dass der Rechtspopulismus als gegenwärtige Bedrohung des Gesellschaftlichen Zusammenhalts in der vorliegenden Publikation so sehr dominiert, ist also sozialgeschichtlich kurzsichtig. Der derzeitige Höhenflug des Rechtspopulismus kann (hoffentlich) schnell abflauen. Damit wären jedoch keineswegs alle Risiken für den Gesellschaftlichen Zusammenhalt beseitigt, noch nicht einmal die heute schon absehbaren. Zum Beispiel: Werden die zersetzenden Wirkungen der neuen „sozialen“ Medien auch ohne den Rechtspopulismus fortdauern? Oder: Wie werden die heute noch „fortgeschritten“ genannten Gesellschaften damit umgehen, sollten sie in absehbarer Zeit weniger weit „fortgeschritten“ sein als viele der derzeitigen Schwellenländer, darunter Indien und China, die allein mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung umfassen? Oder: Wenn die Klimakatastrophe sich realisieren sollte, wird das keine Auswirkungen auf den Gesellschaftlichen Zusammenhalt haben?
Vielleicht wäre es gut, das FGZ würde sich im Laufe seiner Arbeit auch anderen Problemen des Gesellschaftlichen Zusammenhangs zuwenden. Es wäre schade, wenn die historische Kurzsichtigkeit in einer Kurzlebigkeit des FGZ endete.
Literatur
Dahrendorf, R. Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft; Enke: Stuttgart, 1957.Search in Google Scholar
Durkheim, É. De la division du travail social; Alcan: Paris, 1893.Search in Google Scholar
Forschungsinstitut Sozialer Zusammenhalt. www.fgz-risc.de (Zugriff Nov 22, 2021).Search in Google Scholar
Hradil, S. Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft; Leske+Budrich: Opladen, 1985.Search in Google Scholar
Tönnies, F. Gemeinschaft und Gesellschaft; Wiss. Buchgesellschaft: Darmstadt, 2010 (zuerst Berlin, 1887)Search in Google Scholar
Vehrkamp, R., Bertelsmann-Stiftung: Bundestagswahl 2017: Wahlergebnis zeigt neue Konfliktlinie der Demokratie. https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Demokratiemonitor/Grafik_Analyse-Bundestagswahl-2017_Verteilung-der-Wahlberechtigten-auf-die-Sinus-Milieus_20171006.jpg (Zugriff Nov 22, 2021).Search in Google Scholar
© 2022 Stefan Hradil, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
- Zum Zusammenhalt
- Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
- Essay
- ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
- Sammelbesprechung
- Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
- Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
- Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
- Doppelbesprechung
- Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
- Ändert sich die Struktur der Öffentlichkeit durch den digitalen Medienwandel?
- Einzelbesprechung Sozioprudenz
- Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Biografieforschung
- Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Religion
- Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Gerontologie
- Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
- Einzelbesprechung Rassismus
- Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Bewegung
- Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Arbeit
- Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
- Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
- Zum Zusammenhalt
- Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
- Essay
- ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
- Sammelbesprechung
- Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
- Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
- Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
- Doppelbesprechung
- Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
- Ändert sich die Struktur der Öffentlichkeit durch den digitalen Medienwandel?
- Einzelbesprechung Sozioprudenz
- Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Biografieforschung
- Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Religion
- Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Gerontologie
- Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
- Einzelbesprechung Rassismus
- Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Bewegung
- Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Arbeit
- Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
- Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)