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Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?

Nicole Deitelhoff / Olaf Groh-Samberg / Matthias Middell (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2020, 382 S., 34,95 €
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Published/Copyright: May 17, 2022
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Rezensierte Publikation:

Nicole Deitelhoff / Olaf Groh-Samberg / Matthias Middell (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zusammenhalt. Ein interdisziplinärer Dialog. Frankfurt/New York: Campus Verlag, 382 S., 34,95 €


Er ist in aller Munde, nicht erst seit gestern, aber heute allemal: der ‚gesellschaftliche Zusammenhalt‘. Zusammenzurücken und dann auch -zustehen ist mittlerweile zum permanenten Tagesbefehl geworden – in einer Gesellschaft, die als ‚Überflussgesellschaft‘ nicht zuletzt auch ökonomische, soziale, ökologische Krisen en masse produziert und die auf diese selbstgeschaffene Krisenhaftigkeit in schöner Regelmäßigkeit mit politischen Einheitsdiskursen reagiert. Finanzkrise, Migrationskrise, Klimakrise, Pandemiekrise, Demokratiekrise ...: Für die ‚fortgeschrittenen‘ Gegenwartsgesellschaften ist die Krise zum Normalzustand, der politische Krisenmodus zur Dauereinrichtung geworden, und im konkreten deutschen Fall kam zum sonstigen, formationsspezifischen Krisengeschehen auch noch eine veritable Vereinigungskrise hinzu, die bis heute erkennbar nicht überwunden ist. Hier wie dort aber, über das ausdifferenzierte und gleichsam demokratisierte Krisengeschehen – jedes Teilsystem darf mal – hinweg lautete und lautet die gesellschaftliche Selbstbeschwörungsformel: Zusammenhalten! Sei es nun gegen ‚Heuschrecken‘ oder ‚Asylbetrüger‘, gegen die Erderwärmung oder das Coronavirus, gegen Rechtspopulismus und ‚Querdenker‘: Das in jüngerer Zeit diskursiv mobilisierte Arsenal äußerer und innerer Feinde oder eben, in der politisch etablierten Semantik ausgedrückt, externer und interner Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts, scheint unerschöpflich zu sein. Und jetzt auch noch Putin, jetzt auch noch der Russe, jetzt auch noch Krieg – gewissermaßen die Mutter aller Zusammenhaltsimpulse.

Kein Wunder, dass die (im Doppelsinn, als Prozess und Ergebnis) verbreitete Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht nur rhetorischen, sondern auch institutionellen Niederschlag gefunden hat. Seit einigen Jahren fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung mit nicht unerheblichem öffentlichem Mitteleinsatz das zum 1. Juni 2020 förmlich gegründete „Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Ein über elf (universitäre) Standorte verteiltes Forschungsnetzwerk, das sich mit aktuell nicht weniger als 83 Forschungs- und Transferprojekten interdisziplinär und multimethodisch der wissenschaftlichen Erkundung und dem öffentlichen Monitoring des gesellschaftlichen Zusammenhalts verschrieben hat.[1] Ein Gegenstand, so möchte ich im Folgenden argumentieren, für den sich Politik und Öffentlichkeit einer auf sich selbst bezogenen, sich aber auch selbst nicht mehr recht verstehenden – und hierfür wissenschaftliche Unterstützung reklamierenden – bürgerlichen Gesellschaft nicht zufällig interessieren, ja interessieren müssen. Im Sinne meines Fokus auf die Selbstergründung, Selbstvergewisserung und Selbstbespiegelung, die aus der gesellschaftlichen Sorge um den eigenen Zusammenhalt sprechen, werde ich die Diskussion des hier zu rezensierenden Bandes – der ersten größeren Publikation im Rahmen des FGZ – entlang der späten Filmografie Luis Buñuels entwickeln, eines ausgewiesenen Bürgertumverstehers und zugleich auch Bürgerschrecks.[2] Fluchtpunkt der Dramaturgie wird die Einschätzung sein, dass der ‚gesellschaftliche Zusammenhalt‘ ein durchaus obskures Objekt politischer, aber auch wissenschaftlicher Begierde darstellt.

Das Gespenst des Zusammenhalts: Begriff

Um es gleich voraus zu schicken: Dieser Sammelband, erklärtermaßen „eine Art Momentaufnahme am Beginn einer mehrjährigen Kooperation“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 16), funktioniert als solcher nicht wirklich. Die insgesamt achtzehn hier versammelten, sehr heterogenen Beiträge – von essayistischen Betrachtungen über die „Probleme des Liberalismus nach dem Bürgertum“ (Koschorke) bis zum veränderten Zweitabdruck eines Beitrags zu „Verfassungspatriotismus in der Migrationsgesellschaft“ (Thym), von einer äußerst flüchtigen Skizze zum Problemkomplex „Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Populismus in China“ (Kaske) bis zu einer methodisch (über-)elaborierten Medienanalyse zu „Soziale[m] Zusammenhalt bei Pandemien“ (Sackmann) – werden nur durch ihre letztlich lose thematische Kopplung zusammengehalten. Den im Untertitel angekündigten „interdisziplinären Dialog“ sucht der:die Leser:in vergebens, die Wechselrede zwischen verschiedenen an dem Forschungsprogramm beteiligten Disziplinen findet im strengen Sinne nur in einem einzigen, 14-seitigen Beitrag statt – und selbst dort reden die drei Protagonisten vom Forschungsstandort Leipzig (Decker, van Laak, Pickel) wesentlich aneinander vorbei bzw. nebeneinander her.[3] Und dennoch fördert das Buch, quergelesen und bei den am einschlägigsten erscheinenden Kapiteln die Lektüre vertiefend, zweifellos einige interessante Erkenntnisse zu Tage.

Zunächst einmal den, für medial Informierte (die früher so genannten ‚Zeitungsleser‘) allerdings noch wenig überraschenden, Befund, dass die an gesellschaftliche Krisen bzw. Krisenwahrnehmungen gekoppelte, zuletzt pandemisch auf neue Höhen getriebene Begriffskonjunktur den ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘ zu einem „neuen politischen Leitbegriff“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 10) hat werden lassen. Sodann die gleichfalls naheliegende, aber doch systematisch bedeutsame Einsicht in die konstitutive Unterbestimmtheit desselben im politisch-sozial-medialen Diskurs: ‚Gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ nimmt hier „die Funktion eines leeren Signifikanten“ (ebd.: 13) ein, gleicht „einem Chamäleon“ (Forst in Deitelhoff et al.: 41), das mal diese, mal jene inhaltliche Färbung annimmt. „Jenseits eines Kerngehalts, der sich auf ein irgendwie positiv geartetes Verhältnis der Mitglieder zueinander und zu ihrem Gemeinwesen bezieht, ist er für eine Vielzahl von teilweise diametral entgegengesetzten Optionen offen.“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 13)

Auffällig ist nun allerdings, dass auch die wissenschaftliche Bestimmung des Begriffs, wie sie im vorliegenden Band vorgenommen wird, ihrerseits unterbestimmt bleibt – und als definitorischen Kern letztlich ein irgendwie positiv geartetes Verhältnis der Mitglieder zueinander und zu ihrem Gemeinwesen setzt. Dies zu plausibilisieren, unternimmt das von Rainer Forst beigesteuerte, lesenswerte ‚Theorie-Kapitel‘, das die „Arbeitsdefinition“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 19) der Großforschungsgruppe entwickelt und einem „normativ neutralen“ (Forst in Deitelhoff et al.: 43) Konzept gesellschaftlichen Zusammenhalts das Wort redet – von welchem normativ gehaltvolle, ideell bzw. ideologisch bestimmte Konzeptionen desselben abgegrenzt werden, die wahlweise „auf Homogenität oder auf Heterogenität abheben, die kollektivistisch, demokratisch oder autoritär sind“ (ebd.: 44). Dergestalt normativ entkernt (und zugleich offen), ist das von Forst – so steht zu vermuten: mit anderen für alle – ausgearbeitete „Kernkonzept“ (ebd.: 43) analytisch ausgesprochen anspruchsvoll: „Der Begriff bezieht sich [...] auf Gemeinwesen, deren Mitglieder bestimmte positive Einstellungen zueinander und zu ihrem sozialen Gesamtkontext aufweisen, in dem sie als Handelnde in Praktiken und Beziehungen involviert sind, die einen (näher zu bestimmenden) Gemeinschaftsbezug haben, und sich in komplexe institutionelle Prozesse der Kooperation und Integration einfügen, die diskursiv thematisiert und evaluiert werden. Zusammenhalt existiert dort, wo diese Ebenen eine bestimmte Qualität aufweisen und hinreichend übereinstimmen – in den Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutionen und Diskursen einer Gesellschaft.“ (ebd.: 44, Hervorhebungen im Original)

Wir halten also bis hierhin fest: Bei ‚gesellschaftlichem Zusammenhalt‘ geht es um die Einstellungen, Handlungen, Beziehungen, Institutionen und Diskurse (in) einer Gesellschaft – genaugenommen also um alles, um ein totales (soziales) Phänomen. Einerseits. Andererseits kann ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ aber auch alles sein bzw. werden: demokratisch oder autoritär, tolerant oder intolerant, differenzierend oder entdifferenzierend, individualitätsfreundlich oder -feindlich. Schließlich bleibt definitorisch ungeklärt, wo die Grenzen des Zusammenhalts liegen, wo er anfängt und wo er aufhört, auf welchen „sozialen Gesamtkontext“ er bezogen ist, welche „Qualität“ und welches Maß an „Übereinstimmung“ die unterschiedlichen „Ebenen“ des Zusammenhalts aufweisen müssen, um diesen zu gewährleisten bzw. als gewährleistet gelten zu lassen. All dies, so lautet die Botschaft, lässt sich letztlich nur empirisch klären – und, apropos letztlich, recht eigentlich auch erst im Nachhinein feststellen, post festum: So gesehen gibt es keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern es wird ihn, in den Augen zukünftiger Beobachtender, gegeben haben – oder eben auch nicht (mehr).

Die hiermit rekonstruierte „Konsensdefinition“ (Zick/Rees in Deitelhoff et al.: 133) des FGZ erscheint, jedenfalls aus der Außenperspektive, eher als Kompromisslösung: Auf eine gemeinsame normative Konzeption des Untersuchungsgegenstandes konnte und wollte[4] man sich nicht einigen; aber auch das analytische Konzept zur Erforschung desselben musste wohl so gehalten werden, dass sich eine große Zahl von Forschenden unterschiedlichster disziplinärer, paradigmatischer, methodologischer und methodischer Provenienz und Observanz dahinter versammeln und darunter subsumieren lassen konnten. Mögen Offenheit und Unterbestimmtheit des Konzepts nicht nur als antragsstrategisch nachvollziehbar, sondern unter bestimmten Gesichtspunkten auch als forschungspraktisch angemessen bewertet werden, so wird die strategisch-praktische Kompromissbildung doch mit einer äußerst sperrigen Begriffsdeutung erkauft[5] – während die in den rahmenden Beiträgen wiederholt proklamierte und auch legitimatorisch in Anschlag gebrachte ‚Konzeptionslosigkeit‘ des Forschungsverbunds zugleich performativ dementiert wird.

Denn eines ist ja – eigentlich – vollkommen und von vornherein klar: Begriff und Idee des ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘, und damit das Forschungsinstitut als solches, operieren auf dem Boden und im Horizont der soziologischen Integrationstheorie. Das hat seine offensichtlichen Vorteile: Eine wissenschaftlich gut eingeführte (und ‚abgehangene‘), interdisziplinär anschlussfähige Theorie, deren Sicht auf Gesellschaft mit dem Selbstverständnis derselben korrespondiert und auch ohne Weiteres anschließt an die Weltdeutungen und Handlungsentwürfe politischer Akteure. Wer von ‚Zusammenhalt‘ spricht, meint ‚Integration‘ (vgl. Forst in Deitelhoff et al.: 44), und wo von ‚Integration‘ die Rede ist, da werden Vorstellungen von ‚Einheit‘ mobilisiert – sei es nun absichtsvoll oder unwillkürlich. Nicht erst der politische Ruf nach ‚gesellschaftlichem Zusammenhalt‘, schon die sozialwissenschaftliche Bestimmung desselben als zentrale Analysekategorie ist Ausdruck gesellschaftlichen Einheitsdenkens. Das war schon bei den älteren und jüngeren Ahnherren der Integrationstheorie so, die auch noch die moderne Gesellschaft als Einheit verstanden und verstanden wissen wollten, sei es als Einheit in der organisch aufeinander bezogenen Differenz (Durkheim) oder in Form einer normativ eingebetteten Differenzierung (Parsons). Und so ist es bis heute geblieben: Das Denken von der (sei es sozialen, sei es systemischen) Integration her bestimmt zuverlässig den gesellschaftswissenschaftlichen Mainstream, die Sorge ob des ‚gefährdeten Zusammenhalts‘ ruft quasi-mechanisch die politische Diskurs- und Programmmaschinerie auf den Plan, und die gesellschaftlichen Akteure selbst sind von Kopf bis Fuß auf Einheit eingestellt – ‚West‘ und ‚Ost‘ sollen in Deutschland endlich keine Differenzmarker mehr sein, innerparteilicher Streit gilt als wahlpolitisch tödlich, und wo kommen wir denn hin, wenn jede:r sein:ihr eigenes ‚identitätspolitisches‘ Süppchen kocht?

Die „Sehnsucht nach Synthese“ (Dahrendorf, 1965: 161), das wissen Konflikttheoretiker:innen schon lange, und zumal in Deutschland, ist sozial übermächtig – so sehr, dass eben auch noch der Konflikt selbst, gut soziologisch, als Integrationsfaktor gedeutet und gewertet werden kann. Insofern ist die Option für den ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘, und sei es auch nur als Gegenstand wissenschaftlicher Erforschung, bereits Ausdruck einer bestimmten Konzeption des Sozialen. Wir erinnern uns: „was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen“ (Weber, 1988 [1904]: 184, Hervorhebung im Original). Die gegenwärtige Zeit aber, und die gegenwärtig Forschenden, werden offenbar von der Wertidee des Zusammenhalts bestimmt. Der Rückzug auf die Position, dass mit der Adressierung ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ gerade keine Position bezogen – sprich: nur ein analytisches Konzept präsentiert, nicht aber eine normative Konzeption postuliert – werde, ist so gesehen von zweifelhafter Überzeugungskraft: Wer sich wissenschaftlich, und sei es im öffentlichen Auftrag, der Frage des Zusammenhalts widmet, hat aus der „unendlichen Wirklichkeit“ (ebd.: 171) des gesellschaftlichen Geschehens „einen winzigen Bestandteil als das herausgehoben [...], auf dessen Betrachtung es ihm allein ankommt“ (ebd.: 181). Er – und sie – hat, in diesem Sinne, eine Wertentscheidung getroffen, von der die weitere Forschung nicht unberührt bleibt. Denn die Wissenschaft vom gesellschaftlichen Zusammenhalt erklärt: Wir geben keine Vorstellung des Guten vor, keine Konzeption des ‚richtigen‘ Zusammenhalts – aber wir erheben den Zusammenhalt in den Rang einer wichtigen, ja ‚richtigen‘ Perspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse. Und wir sehen den Sinn unserer Forschung darin, „uns zum Nachdenken über die Alternativen verschiedener normativer Konzeptionen des Zusammenhalts zu zwingen.“ (Forst in Deitelhoff et al.: 49)

Man darf unterstellen, dass mit dem „uns“ des letzten Zitats nicht die Gemeinschaft der den gesellschaftlichen Zusammenhalt Erforschenden, sondern ein größeres, das gesellschaftliche, ‚Wir‘ gemeint ist, welches zum Nachdenken über Alternativen gezwungen (oder sagen wir vielleicht freundlicher: veranlasst) werden soll – über konzeptionelle Alternativen im Konzeptrahmen des Zusammenhalts. Zwar wird in dem Beitrag von Forst – in „klassisch ‚Frankfurter‘“ (ebd.) Manier – betont, dass eine normative Konzeption des Zusammenhalts „nicht nur dort vonnöten [ist], wo gefragt wird, was eine Gesellschaft zusammenhalten sollte, sondern auch dort, wo Aussagen darüber getroffen werden, was eine Gesellschaft zusammenhält“ (ebd.). Aber die Annahme, dass eine Gesellschaft zusammenhalten kann, wird selbst aus der Sphäre normativer Konzeptionen ausgegliedert, und damit gewissermaßen positiviert. Die Frage des Zusammenhalts stellt sich aus dieser Perspektive nicht mehr als solche, sie ist als gesellschaftlich und (damit) wissenschaftlich relevant – ja eigentlich mehr noch: unhintergehbar – gesetzt.

Sicher, in diesem Rahmen wird die Existenz von „Formen von exkludierendem Zusammenhalt“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 18 f.) nicht in Abrede gestellt, weder konzeptionell noch mit Blick auf die historisch-empirischen gesellschaftlichen Realitäten – mehr noch, deren normative Ablehnung durchzieht geradezu den gesamten Band und dessen Einzelbeiträge. Doch wird die entscheidende Frage, ob nämlich „historisch betrachtet ein Zusammenhalt ohne Verrechnungskosten möglich ist“ (Decker in Deitelhoff et al.: 127), ob also das Denken und Handeln in Kategorien des ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ nicht immer und grundsätzlich exkludierende Effekte zeitigt, ja ob dieses nicht geradezu von Strukturen und Mechanismen der sozialen Exklusion bzw. Ent-Integration lebt, allenfalls am Rande, und vom FGZ insgesamt daher zumindest einstweilen nicht, gestellt. Und das, wo die Antwort auf diese Frage doch, so meine Behauptung, ganz klar ‚Nein‘ lauten muss: Gesellschaftlicher Zusammenhalt hat soziale Kosten, Integration fußt systematisch auf Ausschlüssen – schon innerhalb jener Gemeinwesen, „deren Mitglieder bestimmte positive Einstellungen zueinander und zu ihrem sozialen Gesamtkontext aufweisen“ (s. o.); viel mehr aber noch, und in funktionsnotwendiger Weise, mit Blick auf den größeren, im Zweifel globalen gesellschaftlichen Kontext dieses (vermeintlichen) „Gesamtkontexts“ (vgl. Lessenich, 2020).

Der diskrete Charme des Zusammenhalts: Standpunkt

Die jüngere öffentliche Begriffskarriere des ‚Zusammenhalts‘ ist nicht singulär und ohne Vorbild. In seiner theoretisch-politischen Verortung weist der Begriff durchaus Strukturähnlichkeiten mit jenem des ‚Gemeinwohls‘ auf, das vor Jahren eine analoge Diskurskonjunktur erlebte – weswegen die kritischen Anfragen, die Claus Offe an dieses Konzept richtete, auch im hier interessierenden Fall einschlägig erscheinen. Wie Offe vor zwei Jahrzehnten, so könnte man sich auch heute überrascht zeigen von der Rolle, die der Begriff des ‚Zusammenhalts‘ „gerade auf der linken Hälfte des politischen Spektrums zu spielen scheint“ (Offe, 2001: 459), und wie damals ist auch heute wieder „der Mut zum republikanischen Pathos auffällig“ (ebd.), mit dem über den Zusammenhalt „im Singular gesprochen wird“ (ebd.). Offe konterte diese ordnungspolitische Selbstgewissheit des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Linksliberalismus mit der treffenden Frage, wessen Wohl denn das Gemeinwohl eigentlich sei. Und die Frage gilt es neuerlich zu stellen: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?

Eine standpunkttheoretische Reflexion auf den jüngeren Zusammenhaltsdiskurs fördert wichtige Erkenntnisse über dessen Charakter zutage. Denn wer spricht eigentlich vom ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘, von welchem gesellschaftlichen Ort aus, von welchen Positionen im sozialen Raum, kommt dieser überhaupt in den Blick – als Phänomen und Problem, Projekt und Programm? Nun: Man wird wohl sagen können, dass der ‚gesellschaftliche Zusammenhalt‘ eine Selbstverständigungs- und -bestätigungskategorie der bürgerlichen Gesellschaft ist, genauer eine Problematisierungsformel der bürgerlichen Milieus. Aus der Wertschätzung des Zusammenhalts und der Diagnose seiner Gefährdung, aus der Frage nach seinen Voraussetzungen und der Suche nach Wegen zu seiner Förderung spricht die Weltsicht der gesellschaftlichen ‚Mitte‘. Zusammenhalt, das ist – ganz gleich in welchem gesellschaftlichen Kontext – das gesellschaftspolitische Anliegen des Zentrums, nicht jenes der Peripherie(n). Begriff, Konzept und Konzeption (und zwar: jedwede Konzeption) des ‚Zusammenhalts‘ stehen für den Blick, der aus dem gesellschaftlichen Zentrum – und für das Zentrum – auf die als solche dar- und hergestellten Ränder gerichtet wird: Alles noch in Ordnung da draußen, alle noch bei der Stange? Sind die Randständigen auch schön aufs Zentrum orientiert, oder machen sie etwa ihr eigenes Ding? Droht von ihnen Abweichung, Besonderung, Aus-der-Reihe-Tanzen, drohen sie gar selbst damit?

In dem Beitrag von Rainer Forst wird ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ auf einer zweiten Ordnungsebene verortet, einer normativen Metaebene gewissermaßen, nämlich als Zusammenhalt der Zusammenhaltsvorstellungen: „Sozialer Zusammenhalt existiert dort, wo die unterschiedlichen Vorstellungen des richtigen, gerechten sozialen Zusammenhalts (inklusive Gerechtigkeitsbilanz und Zugehörigkeiten), die es in Gruppenmilieus gibt, noch so weit übereinstimmen, dass daraus eine gemeinsame normative Zusammenhaltsvorstellung, wenn auch abstrakt und vielschichtig, resultiert. [...] Dieser Zusammenhalt zerbricht (oder kommt gar nicht erst zustande), wo die einzelnen Zusammenhaltsvorstellungen keine ausreichende Schnittmenge aufweisen. Dann wird Streit zum Kampf.“ (Forst in Deitelhoff et al.: 51) Nun könnte man wohl zunächst fragen, warum gesellschaftliche Gruppen und Milieus sich maßgeblich gerade hinsichtlich ihrer Vorstellungen von ‚Zusammenhalt‘ unterscheiden und sich gerade unter dem Signum solch unterschiedlicher Vorstellungen – ob nun streitend oder kämpfend – begegnen sollten (und nicht unter jenem entweder ihrer materiellen oder aber ganz anderer ideeller Interessen als dem Interesse an ‚Zusammenhalt‘). Doch selbst wenn man diese Setzung akzeptieren wollte, dann ließe sich behaupten, dass es der Modus des Kampfs – und nicht jener des Streits – ist, der als konstitutiv für liberal-demokratische, bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften gelten muss. Ein Kampf um – bleiben wir des Arguments halber bei diesen Kategorien – Zugehörigkeiten und Gerechtigkeitsbilanzen, der den ‚gesellschaftlichen Zusammenhalt‘ der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, soweit zu sehen, in den letzten zwei, drei Jahrhunderten kaum einmal praktisch hat gefährden oder gar zerstören können.

Apropos ‚Zerstörung/Gefährdung‘, womöglich der Zentraltopos des Zusammenhaltsdiskurses: Wie hätte man sich denn wohl eine Gesellschaft vorzustellen, die nicht länger ‚zusammenhält‘? Geht sie aus dem Leim, bricht sie entzwei, löst sie sich in ihre Bestandteile auf, verschwindet sie von der Bühne? Zahlen die Bürger:innen (und zwar nicht mehr bloß die Reichen und Superreichen) keine Steuern mehr (oder jedenfalls nicht mehr im ‚eigenen Land‘)? Unterstützen sie sich nicht mehr in sozialen Notlagen (oder entziehen sich die öffentlichen Instanzen dieser Aufgabe und verweisen sie zurück an die Bürgerschaft selbst)? Werden die basalen Regeln des gesitteten Zusammenlebens systematisch missachtet? Entfremden sich die sozialen Milieus voneinander, stehen sie sich feindselig gegenüber, gibt es gar Bürgerkrieg? Wen oder was hat die Zusammenhaltsforschung eigentlich vor Augen, wenn sie von Gesellschaften spricht, die den Zusammenhalt nicht mehr sicherstellen können: Deutschland? Die Vereinigten Staaten (1861? 2022?)? Belgien (als Kolonialmacht, als Zweisprachennation, als Land der Regierungsbildungsunfähigkeit?)? Oder doch eher Afghanistan (vor 1979? 1979–1989? nach 1989? seit 2021? Oder überhaupt und sowieso?)?

Wie auch immer: Deutlich wird an solch banalen Fragen doch zunächst, dass die Vorstellungswelt des ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ durch und durch nationalgemeinschaftlich geprägt ist – wie bei den Eliten und den Leuten, so auch in den Gesellschaftswissenschaften (und das eine dürfte mit dem anderen zusammenhängen; vgl. Tenbruck, 1981). Um welchen und wessen Zusammenhalt sorgt sich wohl die deutsche Bundesregierung, um welchen und wessen die öffentliche Meinung hierzulande? Hat man schon mal davon gehört, dass sich jemand – zumal folgenreich – um den ‚Zusammenhalt‘ der Weltgesellschaft sorgte? Wie sollte man darauf kommen, dass es so etwas wie einen globalen sozialen Zusammenhalt oder dessen ‚Gefährdung‘ überhaupt geben könnte – bei einer Ungleichheit der Lebenslagen, die alle nationalgesellschaftlich bekannten Niveaus an Ausmaß und Dramatik in den Schatten stellt und bei der, würde sie in Deutschland herrschen, die interdisziplinäre Zusammenhaltsforschung schon längst die Inexistenz ihres Gegenstands hätte konzedieren müssen?

Auf die Idee, dass der ‚gesellschaftliche Zusammenhalt‘ eine zentrale Kategorie der wissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse wie auch der alltagspraktischen Gesellschaftsdeutung sein könnte, und mehr noch auf die Behauptung, dass sie eben dies zweifelsohne auch ist, muss man also erst einmal kommen. Kommt man aber darauf, so sagt dies mindestens so viel, und vermutlich mehr noch, über die institutionalisierten Beobachtungspraktiken einer Gesellschaft aus als über den tatsächlichen Zustand der in ihr herrschenden Verhältnisse. Denn schon ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ als Konzept – vor allen möglichen, wie auch immer normativ gefärbten Konzeptionen – klammert jene gesellschaftlichen Spaltungen aus, die die real existierende Gesellschaft durchziehen. Und zwar nicht nur die Klassenspaltung zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden, zwischen Kapital und Arbeit, die, nähme man sie analytisch ernst, jede Rede vom gesellschaftlichen ‚Zusammenhalt‘ ideologisch erscheinen lassen müsste.

Doch man muss keineswegs ‚Altmarxist‘ sein, um eben diesen Eindruck zu haben: Auch die angesprochene Spaltung von Lebenslagen und Lebenschancen zwischen dem oberen globalen Einkommensfünftel und dem Rest der Weltbevölkerung (vgl. Korzeniewicz/Moran, 2009) oder zwischen den Staatsbürger:innen reicher Demokratien und der „citizenship underclass“ (Murphy, 1984: 559) der restlichen Staatenwelt lässt politische wie wissenschaftliche Zusammenhaltsdiskurse gleichermaßen in einem eigenartigen Licht erscheinen. Ebenso wie all die feministischen, antirassistischen, dekolonialen sozialen Kämpfe, die hier wie anderswo permanent geführt werden: Sie bleiben, obwohl in der bürgerlich-kapitalistischen Welt strukturell angelegt, dem analytischen Blick des Zusammenhaltsparadigmas fremd – wie auch die Zusammenhaltsperspektive, als Konzept wie als Konzeption, den diese Kämpfe führenden Gruppen äußerlich bleiben muss. Denn warum sollten soziale Befreiungs- und Emanzipationsbewegungen von Frauen, People of Color oder Kolonialisierten gerade nach ‚gesellschaftlichem Zusammenhalt‘ streben, oder nach einem anderen Modell des Zusammenhalts als dem herrschenden und ihnen aufgeherrschten? Warum gar nach dem Zusammenhalt ihrer Zusammenhaltsvorstellungen mit jenen von Männern, Weißen, alten und neuen Kolonialmächten? Warum sollten sie auch noch ihre Kämpfe den Zielbestimmungen anderer unterordnen, warum ihre Anliegen und Begehren in den Wertbegriffen artikulieren, die ihnen diskurspolitisch vorgegeben werden? Wie man es dreht und wendet: ‚Gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ ist ein „top-down-framing“ (Quent et al. in Deitelhoff et al.: 87), und zwar von Gesellschaftsanalyse ebenso wie von Gesellschaftspolitik.

Dieses obskure Objekt der Begierde: Widersprüche

Gerade im deutschen Fall aber ist dieser Deutungsrahmen, wissenschaftlich wie politisch, mit besonderer Vorsicht zu behandeln. Damit ist die bereits angedeutete, im vorliegenden Band zutreffend von Oliver Decker problematisierte Tatsache des institutionalisierten Nationalismus oder gar Nativismus öffentlicher Zusammenhaltsdiskurse angesprochen, konkret des hiesigen Diskurses zur ‚deutschen Einheit‘: Steht diese zur Debatte oder gar in Frage, dann geht es seit mittlerweile drei Jahrzehnten grundsätzlich, ausdrücklich oder unausgesprochen, um ‚unseren‘ Zusammenhalt, und immer sprechen daher darüber auch nur ‚wir‘, sind es ausschließlich „autochthon deutsche Stimmen, die Gehör bekommen. Hier findet man plötzlich keine migrantische Perspektive mehr, und dieser Mangel wird nicht einmal bemerkt.“ (Decker in Deitelhoff et al.: 125) Ein Eindruck, den man übrigens auch von der vereinten Zusammenhaltsforschung selbst gewinnen könnte: In dem vorliegenden Band jedenfalls findet sich unter den immerhin fünfzig Autor:innen – soweit ihr Nachname dies erkennen lässt – keine einzige nicht-deutsche oder -deutschstämmige Stimme.

Der Eindruck begrenzter Reflexivität in Fragen der spezifisch deutschen Zusammenhaltshistorie wird verstärkt durch einen Passus im Einführungsbeitrag, der die Vorgeschichte der deutschen ‚Wiedervereinigung‘ in eigentümlich verstellter Weise anspricht: „Dort, wo soziale Kohäsion in der Vergangenheit um den Preis brutaler Exklusion oder sogar massiver Verbrechen gegen die Menschlichkeit erzwungen wurde, lastet die Vergangenheit in besonderer Weise auf aktuellen Aushandlungsprozessen gesellschaftlichen Zusammenhalts.“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 34) Ohne die hier gepflegte Semantik überbewerten zu wollen, drängen sich doch unmittelbar einige Fragen auf: Welchen analytischen Sinn hat es (und zwar im Doppelsinn: wie sinnvoll ist es, welche Sinngebung ist damit verbunden?), den Nationalsozialismus als Regime erzwungener „sozialer Kohäsion“ – seines Zeichens ein Programmbegriff insbesondere der jüngeren EU-europäischen Gesellschaftspolitik – zu bezeichnen? Was bedeutet es, dass die historische Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik „in besonderer Weise“ auf gegenwärtiger Zusammenhaltspolitik lastet: Darf gesellschaftlicher Zusammenhalt heute nicht mehr „erzwungen“ werden, oder aber nur noch auf dem Wege von soft governance? Und warum muss in dem auf das oben wiedergegebene Zitat folgenden, erläuternden Satz in einem Atemzug von „den Verbrechen des Nationalsozialismus oder des Stalinismus“ (ebd.) die Rede sein? Ein Gebot der historischen Lauterkeit, der ideologischen Ausgeglichenheit, des interdisziplinären Dialogs – oder seinerseits des Gruppenzusammenhalts?

Einen deutlich größeren Aufwand, um sich zum Begriff des Zusammenhalts „und dem Spektrum seiner Verwendungen zunächst einmal reflexiv zu verhalten“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 19), betreiben die beiden rahmenden Beiträge des Bandes – wie bereits erläutert – mit Blick auf die Begründung ihrer Entscheidung zugunsten eines „normativ neutralen“ (s. o.) Konzepts. Vor diesem Hintergrund plädieren einige Autor:innen aber nichtsdestotrotz ausdrücklich, und zum Teil auch recht offensiv, für eine bestimmte Konzeption von ‚sozialer Kohäsion‘, etwa in Gestalt eines Bekenntnisses zu „einem inklusiven Zusammenhaltsbegriff“ (Salheiser et al. in Deitelhoff et al.: 216) bzw. eines Plädoyers „für die Produktion universalistischen Zusammenhalts“ (ebd.: 217). Das nimmt man – es folgt eine eigene normative Positionierung – natürlich gern zur Kenntnis, und doch entsteht auf diese Weise der Eindruck einer gewissen inneren Unwucht des Bandes, vor allem da, wo auf die Darlegung der konzeptuellen Option für normative Neutralität umgehend die wohl ebenfalls auf der Konzeptebene zu verortende, zugleich aber für den politischen Diskurs typische und kaum wertfrei zu reproduzierende, Rede von „Gefährdungen des Zusammenhalts“ (Deitelhoff et al. in Deitelhoff et al.: 21) folgt. Ganz in diesem Sinne sieht der Einführungsbeitrag das FGZ nicht nur zur wissenschaftlichen Beobachtung des aktuellen Zusammenhalts- bzw. Zusammenhaltsgefährdungsgeschehens angehalten, sondern auch dazu, aus diesen Beobachtungen „Vorschläge für das bessere Gelingen einer Aushandlung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu unterbreiten“ (ebd.: 40). Und einzelne Beitragende sehen – wie doch auch der Forschungsverbund insgesamt? – ihre Aufgabe durchaus in appellativen, bisweilen präskriptiv („Bei der Lebensführung ansetzen!“) anmutenden Vorschlägen zur substanziellen „Stärkung gesellschaftlichen Zusammenhalts“ (Holubek-Schaum et al. in Deitelhoff et al.: 314).[6]

Die wissenschaftliche Gemeinschaft der Zusammenhaltserforschenden möge selbst beurteilen, inwiefern sich die Unterscheidung von Konzept und Konzeption, das Spannungsverhältnis zwischen normativer Neutralität und werthaltiger Positionierung, letzten Endes doch als operativer Widerspruch einer auf die Programmatik des ‚gesellschaftlichen Zusammenhalts‘ festgelegten Forschungspraxis erweisen wird (oder gar muss). Unzweifelhaft dürfte jedenfalls sein, dass sich jede entsprechende Forschung, ob nun mit oder ohne Bestimmung der eigenen Haltung zum Zusammenhalt, mit oder ohne einheitliche Antwort auf die im Untersuchungsfeld unvermeidliche Frage ‚Wie hältst Du’s mit dem Zusammenhalt?‘, aus dem gesellschaftlichen Kampf der Konzeptionen nicht wird heraushalten können. Nicht umsonst ist das „Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt“, historisch-soziologisch betrachtet, ein Kind der jahrelangen Populismusdebatte und der politischen Sorge öffentlicher Instanzen um einen nicht zur Ruhe kommen wollenden, durch die Pandemie neuerlich und auf ungeahnte Weise befeuerten, mittlerweile als strukturell sich offenbarenden Rechtspopulismus.

Das FGZ ist damit, ob es will oder nicht, Teil jener gesellschaftspolitischen Konjunktur, die zu erforschen es angetreten ist, und wird mindestens – wenn nicht noch mehr – zur Verstetigung derselben beitragen. Wenn das Forschungsinstitut daher in einigen Jahren gegenüber dem jetzigen Stand aktualisierte „Google Books Ngram Viewer“-Abbildungen publizieren wird, die eine über das historische Allzeithoch des Jahres 2019 nochmals deutlich gesteigerte diskursive Verbreitung des Begriffs ‚gesellschaftlicher Zusammenhalt‘ (vgl. Engel/Middell in Deitelhoff et al.: 91) ausweisen werden, dann wird dieser neuerliche peak cohesion nicht zuletzt auch ein Effekt der koordinierten Bemühungen um eine interdisziplinäre Zusammenhaltsforschung selbst sein. Von Frankfurt aus sprechend, wäre man fast schon geneigt, dies als eine – gar normative? – Paradoxie zu bezeichnen.

Literatur

Dahrendorf, R. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland; Piper: München, 1965.Search in Google Scholar

Korzeniewicz, R. P.; Moran, T. P. Unveiling Inequality. A World-Historical Perspective; Russell Sage Foundation: New York, 2009.Search in Google Scholar

Lessenich, S. Doppelmoral hält besser: Die Politik mit der Solidarität in der Externalisierungsgesellschaft. Berliner Journal für Soziologie 2020, 30, 113–130.10.1007/s11609-020-00410-wSearch in Google Scholar

Murphy, R. The Structure of Closure: A Critique and Development of the Theories of Weber, Collins, and Parkin. British Journal of Sociology 1984, 35, 547–567.10.2307/590434Search in Google Scholar

Offe, C. Wessen Wohl ist das Gemeinwohl? In Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas; Günther, K.; Wingert, L., Hrsg.; Suhrkamp: Frankfurt am Main, 2001; pp 459–488.Search in Google Scholar

Tenbruck, F. Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie. Zeitschrift für Soziologie 1981, 10, 333–350.10.1515/zfsoz-1981-0401Search in Google Scholar

Weber, M. Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre; Winckelmann; J., Hrsg; J. C. B. Mohr (Paul Siebeck): Tübingen, 1988 [1904]; pp 146–214.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-05-17
Erschienen im Druck: 2022-05-16

© 2022 Stephan Lessenich, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
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  5. Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
  6. Zum Zusammenhalt
  7. Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
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  9. ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
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  15. Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
  16. Ändert sich die Struktur der Öffentlichkeit durch den digitalen Medienwandel?
  17. Einzelbesprechung Sozioprudenz
  18. Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
  19. Einzelbesprechung Biografieforschung
  20. Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
  21. Einzelbesprechung Theorie
  22. Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
  23. Einzelbesprechung Religion
  24. Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
  25. Einzelbesprechung Gerontologie
  26. Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
  27. Einzelbesprechung Rassismus
  28. Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
  29. Einzelbesprechung Soziale Bewegung
  30. Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
  31. Einzelbesprechung Theorie
  32. Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
  33. Einzelbesprechung Digitale Arbeit
  34. Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
  35. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
  36. Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-0004/html
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