Home Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
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Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €

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Published/Copyright: May 17, 2022
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Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €


Schlüsselwörter: Rassismus; Anti-Diskriminierung; Recht

Wie der Titel bereits nahelegt, handelt es sich bei dieser Schrift um eine vornehmlich rechtswissenschaftliche Studie, die zugleich eine Intervention ist. Doris Liebschers Ausgangspunkt ist die Kontroverse um den Begriff der Rasse im deutschen Grundgesetz und die Frage, wie ein Antidiskriminierungsrecht aussehen müsste, das sich der Reifikationsproblematik entzieht, d. h. nicht seinerseits auf rassialisierenden Konstruktionen beruht. Es geht also um Fragen wie die, ob das Recht colorblind sein soll und dadurch womöglich auch blind für Rassismen, oder ob es Gruppenzugehörigkeiten als Kategorien führen soll, und damit riskieren, dass Differenzen essentialisiert werden.

Liebschers Buch ist mithin ein Beitrag zur „rassismuskritischen Rechtswissenschaft“ – so der Titel des ersten Kapitels, in dem sie auch nachzeichnet, dass die Anfänge dieser Debatte auf die Critical Legal Studies zurückdatieren, von denen dann die Critical Race Studies nicht nur ihren Namen geborgt haben. Oder wie der Intersektionalitätsansatz aus einer kritischen Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Rechtssprechung in Antidiskriminierungsklagen entstanden ist. Ihr geht es indes nicht nur um Genealogien und die Darlegung des Stands der rechtswissenschaftlichen Debatte: Vielmehr unterstreicht sie die zentrale Rolle gesellschafts- und sozialtheoretischer Überlegungen für die Fragestellung und zwar auf mehreren Ebenen.

Bevor sie sich im Hauptteil mit unterschiedlichen Typen von Rechtstexten befasst (Gesetzestexte, Protokolle von Gremien, in denen diese Gesetzestexte formuliert wurden, Urteilstexte und Kommentarliteratur), rekapituliert sie nahezu den gesamten Forschungsstand der kritischen Rassismustheorie seit W.E.B. Dubois entlang zentraler Begriffe und Problemstellungen. Herausgearbeitet werden neben Wirkungen und Funktionen des Rassismus auch seine räumlich-historischen Ausprägungen und damit die Formbarkeit des „flottierenden Signifikanten“ namens Rasse (Stuart Hall) und seiner Fortsetzung in einem essentialisierenden Kulturbegriff (Étienne Balibar). Der Begriff des Rassismus selbst und damit die auch für Liebscher zentrale Idee, dass Rassen sozial konstruiert sind, steht nicht am Anfang dieser Theoriegeschichte. Bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts dominiert noch die Auffassung, dass Rassen eine biologisch-genetische Wirklichkeit besitzen, die nachträglich durch soziale Konventionen und Machtbeziehungen eine Bewertung erfahren. Erst in der Nachkriegsära, vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus und der UN-Erklärungen gewinnt die konstruktivistische Lesart in der Theoriedebatte mehr Gewicht. Dass Rassismus nicht auf die Existenz sichtbarer phänotypischer Merkmale angewiesen ist, veranschaulicht die Rassialisierung von Jüd:innen im Nationalsozialismus, die mangels solcher Merkmale eine ganze Palette von Praktiken der Sichtbarmachung ins Werk setzte – von Einträgen in Ausweisdokumenten bis zu den sogenannten Judensternen. Was die wechselnden Bezugsobjekte rassistischer Diskurse und Praktiken gemeinsam haben ist indes, dass sie als Personen zu einer Gruppe mit (wirklich oder vermeintlich) vererbbaren Merkmalen zusammengefasst werden. Die sozialkonstruktivistische Einsicht, dass Rassen keine biologische Realität, wohl aber eine soziale haben, hatten Theoretiker wie Michael Omi und Howard Winant (und viele andere mehr, von Stuart Hall bis Theo Goldberg) dazu veranlasst, den Fokus auf den Prozess dieser Erzeugung zu legen, also auf Prozesse der „Rassialisierung“. Liebscher plädiert aus genau dieser Perspektive nun für ein „post-kategoriales“ Antidiskriminierungsrecht. Ob eine Person oder Gruppe von Rassismus betroffen ist, soll also nicht mehr durch das Vorhandensein eines Merkmals (Hautfarbe, Geschlecht, Religion) bestimmt werden. Indem sozio-kulturelle und ökonomische Praktiken (der Rassialisierung) in Zentrum der Betrachtung gerückt werden, soll den Merkmalen ihr „Anschein der Vorgängigkeit und Natürlichkeit“ (224) genommen werden. Personenbezogene Merkmale erhalten aber ihre Bedeutung, und eben auch ihre stigmatisierende Wirkung erst durch soziale Interaktionen (229). Wo das Recht nur auf das Vorhandensein von Merkmalen abhebt, so Liebscher, entstehe nicht nur der Eindruck, den ihnen zugrundeliegenden kategorialen Begriffen komme eine Existenz außerhalb des Rechts zu, auch käme es zu einer Verkehrung zwischen Ursachen und Folgen: Das Merkmal selbst (und seine Träger:innen) scheinen dadurch selbst zu Ursachen der Diskriminierung zu werden. Auch aus diesem Grund lehnen Autor:innen wie Stuart Hall (2021), Paul Gilroy (2001) oder Karen und Barbara Fields (2022) den Begriff race als analytische Kategorie ab.

Wie sich nun solche sozialtheoretischen Perspektivwechsel auf die Rechtspraxis auswirken, wird am Beispiel des Konzepts der immutability deutlich. Race gilt in der US-amerikanischen Literatur – anders als das biologische Geschlecht – als immutable, d. h. unveränderbar. Liebscher veranschaulicht dies am Beispiel einer Aktivistin der Bürgerrechtsorganisation NAACP, die sich als Schwarze ausgab und von ihrem Umfeld auch so gesehen wurde. Als ihre leibliche Familie vor einigen Jahren öffentlich erklärte, ihre Tochter sei weiß, entbrannte eine breite öffentliche Debatte, in der die große Mehrheit die Auffassung vertrat, über die Zugehörigkeit zu einer rassialisierten Gruppe lasse sich nicht individuell verfügen. Begründet wird dies mit der genealogischen Signatur rassialisierter Gruppenzugehörigkeit: Race ist im Wesentlichen ein „Mehrgeneration-Prozess“ (131) der kulturellen, sozialen und genetischen Vererbung (so etwa Brubaker 2012 und Hoyt 2016), bei dem Zugehörigkeit über verschiedene Dimensionen der Abstammung hergestellt wird. Eine Lesart, die vor allem von der heute vorherrschenden Critical Race Theory vertreten wird, für die das sozialkonstruktivistische Verständnis nur im Hinblick auf die Genese von race gilt. Ihr Resultat aber ist „unentrinnbares individuelles und kollektives Schicksal und damit [...] unüberwindbar“ (132) wie Liebscher zurecht kritisiert.

Liebscher zeigt nun im Hauptteil ihrer Arbeit, wie solche sozialtheoretischen Überlegungen sowohl den Rassismus im Recht“ als auch für die Geschichte eines gegen Rassismus in Stellung gebrachten Rechts zum Tragen kommen. So ist die o.g. immutability zentraler Baustein eines US-amerikanischen Antidiskriminierungsrechts, das sich um die Idee „individueller Verantwortung“ (232) dreht und auf das sich auch das von ihr kritisierte formal-symmetrische Verständnis von Antidiskriminierung stützt. Legte man nur das Merkmal der Unverfügbarkeit zugrunde, beträfe dies alle Ausprägungen eines kategorial unveränderbaren Merkmals, eben auch Weiße oder Heterosexuelle usw.. Daher habe der Supreme Court der USA seit den 1970er Jahren zwei weitere Kriterien herangezogen, die für die Feststellung eines Diskriminierungsfalles stets zu berücksichtigen seien: Diskriminierungsgeschichte und Machtlosigkeit. Je mehr Gewicht diesen beiden Kriterien zugestanden wird, desto mehr verschiebt sich das Rechtsverständnis in Richtung eines „materiell-asymmetrischen Rechts“ für das auch Liebscher plädiert und mit dem es möglich wird, sowohl historisch kumuliertes Unrecht zu adressieren, als auch gesellschaftliche Machtgefüge zu berücksichtigen.

Behandelt wird neben der US-amerikanischen Rechtsgeschichte auch die Genese (und Vorgeschichte) der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und des Paragrafen 3 des deutschen Grundgesetzes anhand der Sitzungsprotokolle der jeweiligen Gremien. Man könnte erwarten, dass es gerade der Rassismus der nationalsozialistischen Herrschaft und Ideologie war, der die Verfasser:innen des Grundgesetzes motiviert hatte, „Rasse“ in den Antidiskriminierungsparagrafen aufzunehmen. Was die Quellen indes mitteilen ist ein Schweigen. Abgesehen von der Formel von den „Erfahrungen der Vergangenheit“ haben die vielbemühten „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ sich bei ihren Verhandlungen offenbar nicht mit dem Thema befasst.

Eine ausführliche Analyse der bundesdeutschen Kommentarliteratur zu diesem Paragrafen und seiner Verwendung des Begriffs „Rasse“ ergänzt dieses Bild. Über sehr lange Zeit – bis ins 21. Jahrhundert hinein – hält sich in der rechtsdogmatischen Literatur die Auffassung von Rassen als naturwissenschaftlichen Tatsachen. Diskriminierung „aufgrund von Rasse“ entstehe erst durch die ungerechtfertigte Hierarchisierung dieser so gegebenen Menschengruppen. Erst im letzten Jahrzehnt haben sozialkonstruktivistische Lesarten Einzug in die Kommentarliteratur gehalten. Was man daran ablesen kann ist auch, dass das Rechtssystem sich nicht vollständig gegenüber seiner Umwelt abschließen kann, sondern auf Wissen aus unterschiedlichen Teilsystemen zurückgreift. Das betrifft nicht nur die Konstitutionslogik seiner Gegenstände, gerade wenn es um „soziale Tatsachen“ geht. Hier geht es auch um die Frage, wie sich gesellschaftliche Machtbeziehungen in Interpretationen des Rechts niederschlagen. Ein material-asymmetrisches Recht für das sich Liebscher und viele andere engagieren ist einerseits „soziologisch informiert“ (400), weil es gesellschaftliche Machtasymmetrien in die Beschreibung und damit die Bearbeitung von im Recht zu verhandelnden Sachverhalten einführt. Es ist aber andererseits auch selbst eine Intervention in jene Machtgefüge, vermittelt über das Rechtssystem. Während in den Wissenschaften einander widerstreitende Befunde und Theorien, Widersprüche und Leerstellen unentwegt thematisiert, aber auch über lange Zeit in der Schwebe bleiben können, ist das Rechtssystem auf Vereindeutigung ausgelegt. Paradoxien wie die eines allgemeinen Sozialkonstruktivismus, demzufolge zwar alles sozial konstruiert ist, Manches aber mehr als Anderes, müssen in eine Rechtssprache übersetzt werden, die derlei Widersprüchliches buchstäblich prozessierbar machen. Denn ein Rechtsstreit ist auf Regeln angewiesen, mit denen Entscheidungen herbeigeführt werden können. Liebschers Buch ist insofern ein wichtiger Beitrag zu einer notwendigen und überfälligen Übersetzungsarbeit von der – so darf man hoffen – auch von Rassismus Betroffene profitieren können.

Literatur

Balibar, Étienne (1990): „Gibt es einen Neo-Rassismus“, in: ders./Wallerstein, Immanuel: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Argument Verlag. S. 23–38.Search in Google Scholar

Brubaker, Rogers (2012): Trans: gender and race in an age of unsettled identities. Princeton, N.J.: Princeton University Press.Search in Google Scholar

Fields, Karen E./ Fields, and Barbara Jeanne (2022): Racecraft: the soul of inequality in American life. Verso.Search in Google Scholar

Gilroy, Paul (2001): Against race: imagining political culture beyond the color line. Harvard University Press.10.1353/rap.2001.0011Search in Google Scholar

Hall, Stuart (2021): “Race, the Floating Signifier: What More Is There to Say about “Race”? [1997]”, Selected Writings on Race and Difference, Stuart Hall. Hsg. von Paul Gilroy; Ruth Wilson Gilmore. S. 359–37310.2307/j.ctv1hhj1b9.23Search in Google Scholar

Hoyt, Carlos A. (2016): The arc of a bad idea: Understanding and transcending race. Oxford University Press.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-05-17
Erschienen im Druck: 2022-05-16

© 2022 Serhat Karakayali, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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