Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
Rezensierte Publikationen:
Michael Volkmer / Karin Werner (Hrsg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript 2020, 432 S., kt., 24,50 €
Werner Gephart (Hrsg.), In the Realm of Corona Normativities. A Momentary Snapshot of a Dynamic Discourse. Frankfurt a. M.: Vittoria Klostermann 2020, 536 S., kt., 49,00 €
Gesa Lindemann, Die Ordnung der Berührung. Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2020, 132 S., br., 16,90 €
Fiorenza Gamba / Marco Nardone / Toni Ricciardi / Sandro Cattacin (Hrsg.), COVID-19. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive. Zürich/Genf: Seismo 2020, 364 S., kt., 33,00 €
Bernd Kortmann / Günther G. Schulze (Hrsg.), Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: transcript 2020, 320 S., kt., 22,50 €
Einleitung
Die sogenannte Corona-Krise, also der zunächst lokale Ausbruch der Pandemie im Dezember 2019, die dann folgende weltweite Verbreitung des Covid-19 Virus zu Beginn von 2020 und schließlich all seine Mutationen, haben die global vernetzte Weltgesellschaft sichtbar und spürbar verändert, bewegt, und vielleicht zeitweise sogar gelähmt. Zur zeithistorischen Einordnung dieser Rezension: Es ist nun Anfang März 2022 und die sogenannten Omikron-Variante von SARS-CoV-2 hat sich weltweit mit rasanter Geschwindigkeit verbreitet, auch weil sie deutlich leichter und schneller als ihre Vorgängervarianten übertragen wird. Gut 72 % der deutschen Bevölkerung sind vollständig (zweifach) geimpft, etwa 50 % haben eine so genannte (dritte) Booster-Impfung erhalten, die vor schweren und tödlichen Krankheitsverlauf schützen soll. Politisch verhandelt wird gegenwärtig die Frage nach einer allgemeinen Impfpflicht. In diesem Beitrag befassen wir uns vor allem mit Büchern und Texten, die die Frühphase der pandemischen Situation wissenschaftlich reflektierten und zwar in einer Phase, als der Ausgang und jetzige Status quo völlig ungewiss waren.
In den vergangenen zwei Jahren haben sich viele Wissenschaftler:innen, darunter auch viele Soziolog:innen in unterschiedlichen Medien, Plattformen und digitalen Veranstaltungsformaten öffentlich zum Stand der Krise geäußert und insbesondere die gesellschaftlichen Folgen und Ausprägungen der Pandemie zu rekonstruieren versucht. Selten zuvor hat die Wissenschaft sich so öffentlich darstellen und äußern müssen wie zu Beginn der Pandemie. Gerade für die Soziologie schien die Krise eine besondere Herausforderung darzustellen, weil sie einerseits eine Gesellschaft unter Laborbedingungen vorfand, als eine Art Versuchsanordnung, in der bestehende Prämissen und alltägliche Strukturen zugunsten der Minimierung des Infektionsrisikos auf den Kopf gestellt wurden. Gefundenes soziologisches Fressen, so könnte man meinen. Andererseits krankt die Disziplin an ihrer Form der Wissenschaftskommunikation, sich selbst öffentlich, d. h. auch und gerade soziologische Erkenntnisse einem breiten Publikum verständlich zugänglich zu machen (u. a. Burawoy, 2005). Daran entzündet sich auch fachintern immer wieder eine breite Diskussion. Zu konstatieren ist dennoch, dass die Soziologie nicht geschwiegen hat, sondern bereits in der Frühphase der Pandemie und im deutschsprachigen Raum im vielstimmigen Chor der Wissenschaften angehört wurde: als Beobachterin, Versteherin oder Erklärerin des Krisenphänomens und als Beraterin politischer Gremien. Im Wettstreit der Disziplinen um Aufmerksamkeit und Deutungshoheit vermochte sie durchaus, zur Orientierungsstiftung beizutragen.
„Ist nicht nahezu alles von fast allen gesagt?“
Mit Blick auf die hier zu besprechenden Sammelbände sei vorweggenommen, dass eine zentrale Gemeinsamkeit der Beiträge darin liegt, dass viele Essays nicht auf empirischer Forschung zu Corona beruhen (können), sondern auf Alltagsbeobachtungen und theoretisierenden Zuspitzungen. Hieran knüpft die Frage an, mit welchen Erwartungen man an die Lektüre solcher Sammelbände geht, insbesondere anderthalb Jahre nach ihrem Erscheinen und nunmehr im dritten Jahr der Pandemie. Vor dem Hintergrund der vielen Stimmen scheint die Frage von Krämer in ihrem Beitrag (in Kortmann/Schulze 2020: 31) nur allzu passend: „Ist nicht nahezu alles von fast allen gesagt?“
Ein ganz anderer Aspekt kommt erschwerend hinzu: Die sozialen Lehren aus der Pandemie waren ja, dass ihr Verlauf und die variantenreichen Mutationen des Virus kaum oder nur schwerlich vorhersehbar waren. Vielmehr zeigte sich in dramatischer Weise, dass der Umgang mit Nichtwissen und Ungewissheit die gegenwärtige sich selbst beobachtenden Wissensgesellschaften vor neue Herausforderungen gestellt hat, Tendenzen der Spaltung und Kritik nicht nur ‚subkutan‘, sondern öffentlich und performativ dargestellt wurden.
Gleichzeitig zeigt sich jetzt schon, dass auch die hier besprochenen Sammelbände nicht nur Zeugnisse und Momentaufnahmen der Gegenwartsgesellschaft sind, sondern gleichsam archivieren und dokumentieren, was wir uns mehr oder weniger scharf konturiert zu einer Zeit ausgemalt haben, als noch nicht klar war, wie lange diese Pandemie uns beschäftigen wird.
Was sagen also die Bände heute immer noch über die Aktualität von sozial- und naturwissenschaftlichen Beobachtungen? Denn bei all der Kritik, die man u. U. an solchen Sammelbänden üben kann, sollte nicht vergessen werden, dass die Öffentlichkeit nach Erklärungen verlangte.
Auf dem Weg in die „Coronagesellschaft“?
Volkmer und Werner geben sich in ihrem Band der Versuchung hin, einer „Coronagesellschaft“ das Wort zu reden. So deutet der Titel zwar auf den Versuch einer Gesellschaftsdiagnose hin, die jedoch nicht konzeptualisiert wird. Der namentlich prominent besetzte Band verfügt über einige thematische Rubriken (u. a. Körper, Räume, Zeitlichkeiten, Gesellschaftsordnung, Solidaritäten), wobei sich die rund 39 Beiträge (die in anderen Fassungen z. T. auch in Tageszeitungen abgedruckt wurden) auch „quer“ in andere Themenfelder einordnen lassen, was sich in Teilen auch deutlich herauslesen lässt.
In ihren Beiträgen verhandeln Klein und Liebsch sowie Alkemeyer und Bröskamp körpersoziologische Fragen der Pandemie. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass social distancing vor allem ein phyiscal distancing implizierte, mit der Folge, dass wir unsere eigenen wie auch die Körper anderer neu klassifizierten. „Körper erscheinen in Zeiten der Pandemie als ein gefährdetes und ein gefährdendes Gut“ (Alkmeyer/Bröskamp in Volkmer/Werner: 69). Körper wurden im privaten wie auch im öffentlichen Raum unterschiedlich situiert und brachten sich auf neue Weise als distanzierte, verhüllte und vulnerable Körper hervor. Dickel richtet seinen Blick auf mediatisierte Nähe- und Distanzherstellungen, die ihrerseits Körper als Kontaktstellen für kommunikative Geflechte jedweder Art hervorbringen.
Die Verwobenheit von Körpern und Räumen ist ebenso zu betonen. Knoblauch und Löw greifen hier etwa auf Foucault, Beck oder Goffman zurück, um einerseits über die konkreten interaktiven Folgen der Pandemie und andererseits über die großterritorialen Refigurationen globaler Raumordnungen zu resümieren. Eckard wiederum richtet den Blick auf die Segregation der Städte und wie sich Städte in der Coronapandemie verstärkend mit den Folgen ihrer missglückten Planung und der „Art und Weise der städtischen Wohlstandsgenerierung“ (Eckard in Volkmer/Werner: 118) konfrontiert sehen. Räume wurden im Zuge der Pandemie nicht nur verändert, sie selbst wurden zum Ausdruck gesellschaftlicher Disparitäten und Differenzmarkierungen (vgl. auch Schulz-Nieswandt zu „Kasernierung alter Menschen“ oder Speck zur geschlechtssoziologischen Betrachtung von Homeoffice im Band von Volkmer und Werner).
Für Henkel ist die Coronapandemie ein Stresstest für die Gesellschaft, insbesondere für das Prozessieren ihrer Funktionssysteme und ihre erfolgreiche Problembearbeitung daher existentiell. Auch Stichweh nimmt einen differenzierungstheoretischen Ausgangspunkt und spiegelt diesen vor dem Hintergrund der Corona-Krise. Im Postscript (Stichweh in Volkmer/Werner: 204) kommt er zu der Diagnose, dass die Funktionssysteme nicht verschwinden, sondern die Gesellschaft ihrerseits ein „soziales Immunsystem“ aufbaue, um sich künftig vor Pandemien zu schützen. Hirschauer blickt durch die Linse der Humandifferenzierung auf die Pandemie und zeigt auf, welche Relevanz medizinische Differenzierungen (infiziert/nichtinfiziert) im Zuge der pandemischen Entwicklung nicht nur lokal, sondern global entfaltet haben. Diese Differenzierungen haben sich im Laufe der Pandemie gesteigert (bspw. Systemrelevanz) und werden bis heute etwa durch die Einteilung von Menschen in Nichtgeimpfte, Geimpfte und Geboosterte oder auch von ganzen Staaten als (pandemische) Risikogebiete systemisch fortgeschrieben und institutionalisiert. Dies ist nicht nur folgenreich für das soziale Mit- und Gegeneinander, sondern zugleich Erscheinungsform einer neuen Wirklichkeit, die uns als gegenwärtige Gesellschaftsordnung gegenübertritt – man mag nur hoffen, dass sie die Pandemie nicht überdauert.
Das Einwirken des Staates als regulierender und intervenierender Akteur ist ebenfalls ein zentraler Diskussionspunkt in vielen Beiträgen. Die Einschränkung von Reisefreiheiten, Schließungen von Schulen oder Geschäften, stellten eine Zäsur in unseren stark auf individuelle Freiheit abzielenden Gesellschaften dar. Reckwitz hebt – auch in Anlehnung an Beck – auf die staatliche Risikopolitik ab, als einer Praxis der Vermeidung und Verhinderung negativer Zustände, als eine auf Sicherheit und Zukunftsbewältigung abzielende Politik, als eine Politik, die auch verstärkt auf Erkenntnisse der Wissenschaft angewiesen ist. Der Staat spielt auch in den Überlegungen von Lindemann eine zentrale Rolle. Sie untersucht die Frage, was wir über moderne Gesellschaften aus der Coronakrise heraus lernen und versucht dies anhand der Verhältnisbestimmung von Staat, Medizin Familie und Individuum in der Krise zu eruieren (siehe hierzu die ausführliche Besprechung des Buches in diesem Artikel).
Der Sammelband schließt mit einem Kapitel zu konkreten Utopien, die als Zukunftsentwürfe, Gedankenspiele und (implizite) Empfehlungen zu lesen sind. Helfrich schlägt Commons statt dem Marktstaat vor, also die Betonung des Gemeinsamen und der Gemeinproduktion außerhalb kapitalistischer Marktlogiken. Baier und Müller plädieren für die Stärkung erweiterter Daseinsvorsorge durch selbstorganisierte, kollektive Infrastrukturen, Winkler für den Aufbau einer solidarischen und nachhaltigen Care-Ökonomie.
Hinter diesen genannten und anderen Beiträgen verbirgt sich immer auch jene vielzitierte Hoffnung, dass aus der abrupten Bremswirkung der Coronapandemie etwas Besseres – genauer: eine bessere Gesellschaft – entsteht und die Akteur:innen aus allen Gesellschaftsbereichen ihre Praxis reflexiv überdenken lässt. Der nachträgliche Eindruck scheint aber ein anderer zu sein. Aus der fast wundersamen, sozial distanzierten Entschleunigung scheint nunmehr eine weitere Beschleunigung in Gang gesetzt worden zu sein, die insbesondere jene Teile der Gesellschaft in einem wahrgenommenen Krisenmodus hält, die nicht über Möglichkeiten körperlicher, räumlicher, sozialer oder auch kommunikativer Selbstentfaltung verfügen. Differenzierungen werden nicht nur durch staatliche Regulierungen vollzogen, sondern offenkundig durch weltanschauliche Konstruktionen sozialer Gegenwirklichkeiten, die nicht mehr im stillen Kämmerlein oder im digitalen Raum stattfinden. Wenn dies manifeste Ausdrucksformen einer Corona- oder gar Postcoronagesellschaft wären, bedarf es dringend eines sozialen Impfstoffs von nachhaltiger und dauerhafter Wirkung.
Eine Stimme für die Sozialwissenschaften in der Krisenbewältigung?
Aus dem Kontext der Genfer Fakultät für Soziologie stammt das Buch von Fiorenza Gamba Fiorenza, Marco Nardone, Toni Ricciardi und Sandro Cattacin. Dieses Buch vereint 21 Beiträge sowie Vorwort und Fazit, die sich spezifischen, klassisch soziologischer Forschung nahestehenden Gegenstandsbereichen vor dem Hintergrund der Krise widmen. Sie selbst beschreiben das Buch im Vorwort als Resultat der intellektuellen Ohnmacht im Angesicht der Quarantäne, das in Eile erschienen ist. Dabei möchten die Herausgeber:innen des Bandes der zu der Zeit des Verfassens ihrer Ansicht nach vermutlich – v. a. im Schweizer Kontext – vorherrschenden medizinisch-epidemiologischen Perspektivenverengung auf die Krise explizit sozialwissenschaftliche Zugänge zur Seite stellen. Im Folgenden seien einige exemplarische Beiträge herausgegriffen.
Einige verschreiben sich vor allem der Verortung, historischen Einordnung und Begriffsklärung. Dies gilt z. B. für das Essay zu Pandemien im Fokus der Weltgeschichte (Ricciardi), wie auch für den Beitrag zur “Sozialen Distanz” und zum “Confinement” (vulgo Lockdown), den Debarbieux vorlegt, und bei dem er die historischen Ursprünge dieser Infektionsvermeidungsstrategien und sozialwissenschaftlichen Anschlüsse (von Hall bis Goffman) knapp einführt. Er diskutiert die Vorstellungen der Abschottung und fragt, ob diese für einen langfristigen Wandel unserer Interaktionsbeziehungen sorgen werden.
Salerno legt hingegen, als einer der wenigen Autoren in unserer Auswahl, nicht “nur” eine theoretische Einordnung oder Perspektive vor, sondern eine kleine empirische Studie zur “Kommunikation einer Pandemie”. Dabei hat er eine Analyse der Tweets internationaler und Schweizer Akteur:innen im Zeitraum Januar bis März 2020 durchgeführt, die sich mit dem Krisenmanagement befassten. Die Analysen, die das Framing der Krise zwischen Dialog- und Handlungsaufruf und Meinungsäußerung und “Fake News”-Debatte in den Blick nehmen verbleiben dabei verständlicherweise auch etwas vorläufig, zeigen aber durchaus auf, dass zumindest solche Meta-Analysen des Geschehens durchaus schnell möglich sind, wenn auch sehr beschränkt bleiben (müssen).
Bourrier bietet mit ihrer Einordnung, die sich auf die Tradition der “Normalen Katastrophen” und der “High Reliability Organisations” bezieht, eine Perspektive auf das pandemische Krisenmanagement. Mit dem Konzept des “degradierten Betriebsmodus” zeigt sie die produktive Leistung einer Form der Arbeitsorganisation, die vom Routinebetrieb abweicht, dabei u. a. nicht immer klaren Vorgaben und perfekten Lösungen folgen kann und Improvisation erfordert und auch möglich macht. Dieser Modus, dessen Analyse sie von der Studie des Managements von Hochrisikoumgebungen (wie Kernkraftwerken) auf die Corona Krise überträgt, kann durchaus funktional sein, um in Situationen von Ungewissheit die Handlungsprobleme doch in den Griff zu bekommen.
Deutlich wird die Perspektive des Bandes auch, politisch relevantes Expert:innenwissen bereitzustellen, blickt man auch auf die Kapitel, die besondere Betroffenheiten und Verletzlichkeiten thematisieren. Angesprochen werden hierbei unter anderem Familiendynamiken (Widmer, de Bel, Ganjour, Girardin und Zufferey), ältere Menschen (Oris, Ramiro Farinas, Pujol Rodriguez und Abellán Garcia), Kinder (Stoecklin), Behinderung (Rosenstein) oder auch Covid-19 im Gefängnis (Nardone). Den Blick auf diese Gruppen und Bereiche zu richten, ist sicherlich ein wertvoller Beitrag, wenn es sich hierbei auch um sehr heterogene Essays zu den Verletzlichkeiten handelt, die zu der Zeit noch keinen systematischen Überblick ermöglichten, wie er wohl für politische Einflussnahme notwendiger wäre.
Die Frage, welchen Beitrag sozialwissenschaftliche Perspektiven nun leisten können, greift der Abschnitt zur Steuerung der Gesundheit auf, der in einer Reihe von Beiträgen den professionellen Umgang (Gesundheitsmanagement, Epidemiologie usw.) mit der Krise thematisiert. Im Fazit diskutieren die Herausgeber:innen erneut die Rolle der Sozialwissenschaften, wobei neben der Betonung allgemeiner Diagnosen wie der Komplexität und Fragilität, Fragen der Freiheit und des Datenschutzes hervorgehoben werden. Schließlich setzen sie zu einer vorsichtigen Kritik an technokratischen Expertensystemen an.
Ordnung, Staat und Corona-Normativitäten
Gesa Lindemann ist bekannt als Gesellschaftstheoretikerin, die u. a. mit ihrer Schrift „Weltzugänge“ (2014) ihre auf Plessners philosophischer Anthropologie und Schmitz Phänomenologie ausgehenden Überlegungen in einen gesellschaftstheoretischen Ansatz ausgebaut hat. Mit der 128-Seiten knappen Monographie „Die Ordnung der Berührung: Staat, Gewalt und Kritik in Zeiten der Coronakrise“ adressiert sie nun explizit nicht mehr nur das Fachpublikum, sondern richtet sich auch an die breitere Öffentlichkeit. In diesem Buch lernen wir viel über das Verhältnis von Staat, Medizin und Bürgerinnen, von Ordnung und den Bedingungen moderner Gesellschaft. Ihr Zugang bleibt dem tiefgehenden Nachdenken über die Bedingungen der Möglichkeit der Ordnung, die sie über das abstrakte Konzept der Berührung konzipiert, verpflichtet, über das sie dann auch auf die Corona-Pandemie und den Umgang damit verschiedene Perspektiven entwickelt. Im Titel des Buches sollte vor allem die Ordnung der Berührung ernst genommen werden, denn es geht nur am Rande um die konkreten sich wandelnden Berührungen als vielmehr um die Ordnungen, die diese verschiedenen Berührungen erst ermöglichen oder verbieten. Dabei ist die Unterscheidung zwischen leiblicher und körperlicher Berührung (Lindemann: 13) als zentral zu verstehen, denn in Zeiten der Corona-Krise wird ja vor allem die Berührung der Körper reguliert, was aber auf einem bestimmten biomedizinischen Dispositiv aufbaut. Subjektiv relevant sind für die Subjekte jedoch die (alltäglichen) leiblichen Berührungen, welche durch die Kontaktbeschränkungen mitbetroffen sind.
Lindemanns Überlegungen leisten konkrete Beiträge zu öffentlichen Diskussionen, etwa indem sie die Frage, ob es nun physical oder social distancing zu nennen sei, sozialtheoretisch fundiert. Ihre Sozialtheorie verwendet Lindemann als Ausgangspunkt, um ihre gesellschaftstheoretische Perspektive zu entfalten. Sie steigt ein mit einer Erläuterung des modernen Weltverständnisses, ein Kapitel das auf die (Hobbessche) Frage der Monopolstellung von Gewalt in modernen Gesellschaften verweist. Denn die Ordnung der Gewalt, die in unserer Gesellschaft zentral durch den Staat geregelt – unsichtbar gemacht wird, aber dennoch immer präsent bleibt – wird, ist für sie im Zusammenhang zu den alltäglichen Berührungsbeziehungen zu sehen. Hier baut Lindemann auch eine systematische Erklärung der Rolle von Verschwörungserzählungen ein, da diese der (Verfahrens)ordnung der Opferung folgen, basierend auf Opferverschiebungen die auf einem Bruch des Vertrauens in das Staatsmonopol der Gewalt basieren. Im zweiten Hauptkapitel, „Die Staatsgewalt und der individuelle Mensch“ geht Lindemann von der Verschiebung vom Seelenindividuum zum Körperindividuum aus, das mit dem Tod endet. Sie verfolgt die Diskurse und Dispositive in Foucaultscher Manier, wobei sie insbesondere auf die Pastoralmacht Bezug nimmt (Lindemann:49), und zeigt, wie einerseits die Kirche und später der Staat die Individuen einerseits aus der Familie emanzipiert, ihnen per Taufe die Chance auf von einer höheren Organisationseinheit (Kirche/Staat/Menschenrechte) vermittelten rechtsbasierten Individualstatus ermöglicht, sie aber auch den jeweiligen Dispositiven dieser Institutionen unterwirft.
Für das Verständnis der Corona Krise ist das insofern bedeutsam, weil die Berührungsregelungen in Familie und in anderen Kontexten unterschiedlich geregelt sind, was bis hinein in Quarantänebestimmungen greift, und Auswirkungen auch für Fragen sozialer Ungleichheit hat (wer muss eng gedrängt zusammenleben, wer kann sich Abstand leisten).
“Horizontale Differenzierung” ist das dritte Hauptkapitel betitelt, in dem Lindemann in differenzierungstheoretischer Manier zwar nicht die verschiedenen Systemcodes, aber doch in ganz ähnlicher Weise die verschiedenen Berührungslogiken darstellt, die von Wirtschaft, Politik und anderen Handlungssphären – insbesondere auch der Wissenschaft – adressiert werden. Dieser Part ist für Soziolog:innen möglicherweise in der Grundargumentation nicht weiter neu, bettet aber das differenzierungstheoretische Denken in ihr Theoriegebäude ein, und dieses Motiv ist bekanntermaßen immer wieder anregend für Nicht-Soziolog:innen, an die sich das Buch ja auch richtet.
„Die Staatsbürgerinnen als potentiell aufrührerische Subjekte“ ist das abschließende Kapitel, das sich insbesondere mit dem Verhältnis der Black Lives Matter-Bewegung im Verhältnis zur Corona Krise auseinandersetzt. Unter Rückgriff auf eine Diskussion des Gewaltbegriffs, der bei Lindemann reflexiv gefasst wird, beschreibt sie hier den Weg von einem engen zum weiteren strukturellen Gewaltverständnis, das sie anhand der Proteste, die im Vergleich zu den ausbleibenden Protesten in der Fleischindustrie (in der Menschen an den Arbeitsbedingungen erkranken oder gar sterben) thematisiert. Dieses Kapitel verbleibt ein wenig indexikal. Es verdeutlicht die Perspektive, lädt aber in seiner Skizzenhaftigkeit sicherlich auch zu Kritik ein.
Zusammenfassend kann aus der Perspektive der Rezensenten festgehalten werden, dass es sich bei diesem Werk um eine skizzenhafte Anwendung auf die im Gange befindliche Krise, aber die tiefgehende Fundierung klar durchschein lassende Leistungsschau avancierter Sozialtheorie handelt, die interessante Perspektiven auch über den engeren Kern des Theoriediskurses hinaus eröffnet, und dabei einen gut handhabbaren Einstieg in Lindemanns Theoriewelt bietet. Für die Analyse der Krise selbst bietet sie Schlaglichter auf verschiedene Aspekte (von der Rolle der Familie, über die Opferverschiebung der Verschwörungserzählungen bis hin zu Ungleichheitsverhältnissen), die verständlicherweise noch weitere Ausarbeitung und Reflektion erfordern, um als eigene Forschungsergebnisse bestehen zu können.
Wo die Nähe zum Motiv des Leviathans bei Lindemann schon durchscheint, da schmückt ein mit Coronaviren übersätes Titelbild des Hobbesschen Klassikers das Titelbild des von Werner Gephart herausgegebenen Buches „In the Realm of Corona Normativities - A dynamic Snapshot of a dynamic discourse“. Dieser Band ist aus dem Forschungskontext „Recht als Kultur“ des Käte Hamburger Kollegs hervorgegangen und möchte sich damit auseinandersetzen, die normative Dimension der Krise herauszuarbeiten, wobei hier Recht selber als Gegenstand und kulturelle Praxis behandelt werden soll. Der spezifische Zugang des Kollegs, der auch der Rahmen der Selektion der Autor:innen war, wird in der Einleitung anhand von zentralen Prämissen ausgeführt. Zusammengefasst sind rechtliche Tatbestände multidimensional zu verstehen, weisen eine symbolische, normative rituelle und organisationale Dimension auf. Das Recht wird dabei in seiner lokal-globalen Verortung verstanden und Verweise auf sowohl Religion als auch Ästhetik sollen mitgedacht werden. Der englisch(teils französisch)-sprachige Band vereint 51 sehr kurze Beiträge und ist in fünf Abschnitte gegliedert, die die Fragestellungen des Kollegs grob widerspiegeln. Während der Frühphase der Krise geschrieben, setzt er sich als Aufgabe, Momentaufnahmen (Snapshots) der Pandemiesituation zu liefern. Diese sind dabei sehr heterogen und unabhängig voneinander geschrieben. Man merkt dem Band an, dass er die Perspektiven der (vermutlich) weit verteilt, isoliert im Lockdown sitzenden Autor*innen zusammenträgt. Anerkennend ist zu sagen: Es ist durchaus eine Leistung diese vielfältigen Beiträge zusammenzutragen, bedenkt man die Situation und den Zeitpunkt. Stellt man die Frage, was die Beiträge inhaltlich liefern, so zeichnen sie sich durch eine große Vorläufigkeit der Ideen, eine Widerspiegelung der offensichtlichen Unsicherheit aus. Der Band liefert mehr abstrakte Reflexionen über verschiedene Zugänge und nur vereinzelt gegenstandsbezogene Beobachtungen. Insofern leistet er weniger ein „Abbilden“ im Sinne eines Snapshots, sondern vielmehr ein Aufblitzen verschiedener Perspektivierungen.
Beispielsweise liefert der Band Einordnung des Wandels der „Clinical Trials in Pandemic Settings: How Corona unbinds Science“ (Gadebusch-Bondio/Marloth) bis hin zu abstrakt theoretischen Reflexionen über ein neues „System of Knowledge about Law“ (Commaille). Knapp dahingeworfene Postulate nach neuer „Metaphysik“ (Gabriel) (die teils auch im Schlusswort kritisiert werden) reichen bis hin zu allgemeinen Reflexionen über Kunst in Zeiten Coronas (z. B. Terrone).
Greifen wir einzelne Beiträge heraus, so thematisiert Leko zum Beispiel mit „At the Borders of Europe. On Spatial Mobility during the Covid-19 Crisis“, die Gleichzeitigkeit der De-Globalisierung und Globalisierung, die er im Kontext der Rekonfiguration der Grenzen zwischen politischer Grenzlinie und dynamischer „Borderscape“ in den Blick nimmt. Er verbindet Fragen der EU-Migrations- und Frontex-Politik mit dem Blick auf Folgen der Praktiken der Pandemie Verfolgung in Relation zur „Differential Inclusion“ der Subjekte.
Suntrups Essay zu „Corona: Biopolitical Models and the Hygiene of Tact“ referiert knapp den Begriff der Biopolitik bei Foucault und stellt ihn mit Bezug in Relation zu Agambens Homo Sacer. Dabei blitzen einige Parallelen zu den Analysen Lindemanns (siehe oben) auf. Das liegt am Bezug auf das Kapitel Plessners mit dem Titel „Hygiene des Taktes“ in den „Grenzen der Gemeinschaft“ (Plessner 2002), das zwar eine anregende Referenz in Zeiten der Krisen und für die Studie der sich wandelnden Interaktionsformen darstellt, in dem kurzen Essay jedoch leider keine ausführlichere Diskussion erfährt.
„Discovering Society in a Time of Plague“ von Whimster diskutiert die Corona Krise als nie dagewesenes Experiment, bei dem er Mary Douglas’ Kulturheorie folgend die von Durkheims Selbstmordstudie bekannte Schematik der gesellschaftlichen Kräfte nutzt, um mit einem Vierfelderschema die unterschiedlichen nationalen Umgangsweisen mit dem Virus zu ordnen. In eine ähnliche Bresche schlägt auch Bucholc, die versucht das Habituskonzept für die unterschiedliche Folgsamkeit neuer Corona-Normativen im Vergleich von Nationalstaaten zu lesen.
Aufgrund der sehr ausgeprägten Heterogenität und Bruchstückhaftigkeit stellt dieser Band Leser:innen wie auch die Rezensenten vor eine größere Herausforderung. Es stellt sich auch die Frage, was aus diesem Stroboskop der kurzen Einlassungen zu lernen ist. Im Rückblick eher ein Zeitdokument der Gedankenwelt der Sozialwissenschaft zu der Zeit, das jedoch mittlerweile durch die Realität überholt wurde und das in der Breite kaum zu lesen ist, auch wenn einzelne Beiträge bezogen auf ihr Spezialthema durchaus interessante Perspektiven eröffnen. Vielleicht wären solche kurzformatigen Aufschläge in einem offen zugänglichen, digitalen Rahmen besser aufgehoben gewesen, um auch ein breiteres Publikum zu erreichen.
Prognosen zur Post-Corona-Gesellschaft?
Kortman und Schulze befassen sich in ihrem Sammelband „Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft“ explizit mit der Zeit in der „Postcoronagesellschaft“ und lassen dafür in gut 32 Beiträgen Wissenschaftler:innen aus unterschiedlichen Disziplinen zu Wort kommen. Dies ist insofern bemerkenswert, weil bereits sehr früh im Verlauf der ersten Welle darüber sinniert wurde, ob und inwieweit sich gesellschaftliches Zusammenleben nach der Pandemie verändere und ob es Lehren gebe, die man aus den ersten Wochen der Isolation und der sozialen und physischen Kontaktbeschränkungen ziehen könne. Demzufolge ist den Beiträgen gemein, dass sie neben relevanten Bestandsaufnahmen auch einen Blick in die Zukunft wagen, der wahlweise als „Wunschzettel“ oder Prognose verstanden werden kann. Beim Lesen scheint immer wieder die reflektierte Unsicherheit der Autor:innen heraus, wie und auf welcher Grundlage sie sich über Zukünftiges äußern, eben weil der spezifische Status quo ein höchst kurzlebiger ist.
Der ehemalige Richter des Bundesverfassungsgericht Voßkuhle spitzt es pointiert zu: Prognosen erwiesen sich innerhalb der Pandemie einerseits als Zumutungen für die Bevölkerung, weil auch das Urteil von Expert:innen immer wieder korrigiert und nachjustiert werden musste. Andererseits müssen wir notwendigerweise auf der Grundlage schlechter Kenntnisstände handeln. Folgt man der Ethnologin und Religionswissenschaftlerin Meyer, dann dürfte eine Welt „nach Corona“ auch eine Welt „mit Corona“ sein (Meyer in Kortmann/Schulze: 147). In ihrem Beitrag zu „Religion und Pandemie“ geht es weniger um die Rolle der Kirche in der Pandemie (vgl. hierzu Striet in Kortmann/Schulze.), sondern darum, wie über die Forschung zu Religion auch eine Perspektive „zu Menschen in Bezug auf andere Lebewesen und Kräfte in der Welt“ entwickelt wird. Leonard sieht sich aus einer historischen Perspektive mit dem Problem konfrontiert prognostisch in die Zukunft zu blicken. Wie er lakonisch bemerkt: „das heuristische wie hermeneutische Eis ist eher dünn.“ (Leonard in Kortmann/Schulze: 197). Betont wird vor allem die Permanenz gleichzeitiger Paradoxien zwischen „globalen Herausforderungen und partikularen Antworten“ oder auch das „Nebeneinander von Wissen und Nichtwissen“ (Leonard in Kortmann/Schulze: 201).
Ein besonders virulentes Phänomen – auch in wissenssoziologischer Hinsicht – sind Verschwörungstheorien. Der Amerikanist Butter listet hierzu 10 Erkenntnisse aus der Pandemie auf. Instruktiv ist aber vor allem der Gedanke, dass Verschwörungstheorien in westlichen Gesellschaften „eine stigmatisierte Wissensform, ein heterodoxer Wissensbestand“ (Butter in Kortmann/Schulze: 229) ist. In der Krise aber auch im Windschatten politischer Veränderungen (Trump, Johnson, Bolsonaro etc.) sind diese Fronten jedoch aufgeweicht und gesellschaftliche Fragmentierungen sichtbarer.
Dass Differenzierungen nicht nur auf der Ebene von Verschwörungstheorien nachhaltig die Gesellschaften prägen oder gar „spalten“ zeigt auch Thomä. Er analysiert in seinem Beitrag die Heroisierung jener Alltagshelden, die als „Systemrelevante“ vor allem ihre Arbeitskraft in den Dienst der Gesellschaft stellen mussten, als viele Bereiche in der Wirtschaft schon längst zum Erliegen kamen. Er stellt aber zugleich in frage, warum bestimmte Berufsgruppen „in einer seltsamen Mischung aus Gleichgültigkeit und Großzügigkeit“ (Thomä in Kortmann/Schulze: 56) in einer Momentaufnahme auf ein Podest gehievt werden, wenn es jedoch nicht von nachhaltiger Dauer ist.
Kitzing, widmet sich der „Kindheit in Zeiten von Corona“. Die Wahrung des Kindeswohls gilt in den qua Selbstbeschreibung als besonders aufgeklärt erscheinenden westlichen Gesellschaften als zentrale Maxime. Schulen und Kitas wurden jedoch ersatzlos geschlossen. Digitale Angebote oder auch die Ausstattung von Klassenräumen mit Luftfiltern verlief schleppend. Zudem galten Kinder schnell als Treiber der Virusverbreitung. Aber was wurde hier politisch eigentlich miteinander abgewogen? Dahinter steht die ethische und soziale Frage, inwieweit der medizinisch-epidemiologische Status vulnerabler Gesellschaftsgruppen (Alte, Vorerkrankte u. a.) Vorrang gegenüber den entwicklungspsychologischen und sozialisatorischen Folgen für Kinder genießt. Will heißen: demokratische Mitsprache von Kindern und Jugendlichen fand nicht statt. Gerade hierauf sollten Gesellschaften künftig Antworten finden.
Was hier – zwei Jahre später – beim Lesen deutlich wird ist, dass uns viele Bilder längst abhandengekommen sind. Wir erinnern uns vielleicht noch daran, dass man klatschend auf dem Balkon stand, aber weiß man heute noch wofür? In diesen Momenten entfaltet auch der Sammelband eine interessante Wirkung, die wie bereits eingangs angemerkt, nicht so sehr darin besteht, dass hier gründliche Analysen vorgetragen, sondern Alltagsbeobachtungen deskriptiv oder theoretisch mal mehr, mal weniger verdichtet dargelegt werden.
Fazit
Die Durchsicht der Bände hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Wir sehen, dass es eine Reihe von Versuchen gab, die gesellschaftlichen Entwicklungen ad hoc einzufangen und dass viele Artikel vielleicht die Funktion erfüllten – wie einige Herausgeber:innen einräumen – mit der in den Alltag eingedrungenen Krisensituation umzugehen. Dabei sollte nicht ignoriert werden, dass auch die Wissenschaften um Möglichkeiten gerungen haben, Forschung und Lehre unter Pandemiebedingungen fortzusetzen und reflexiv an die gegebenen Bedingungen anzupassen (u. a. die Diskussion in der Soziologie vgl. Schindler et al., 2022; Reichertz, 2021). Ganz zu schweigen von den Kohorten an Studierenden, denen es in den vergangenen zwei, nunmehr drei Jahren nicht möglich war, einen „regulären“, Studierendenalltag zu entfalten. Dieses Ausmaß ließ sich natürlich in den Beiträgen noch nicht absehen. Die gesichteten Bücher beinhalten zumeist sehr kleingliedrige Spezialdiskussionen, Alltagsbeobachtungen, aber auch vereinzelt sozialtheoretisch fundierte Beiträge zur Pandemie. Krisen und (Um)Brüche scheinen gleichermaßen nach Zeit- und Gesellschaftsdiagnosen zu rufen (u. a. Osrecki, 2011, Prisching, 2018), die mithin plakativ in neue Etikettierungen wie die Corona- oder die Postcorona Gesellschaft münden. So war auch bis in die Feuilletons schnell die Rede von Corona als einem Brennglas, durch das soziale Probleme und bestehende Ungleichheiten besonders deutlich hervortraten. Etwas polemisch zugespitzt sind solche Metaphern auch ein Ausdruck jener Such- und Denkbewegungen, mit denen eine sich unabsehbar verändernde Gesellschaft sich selbst zu begreifen versucht. Die schiere Wucht, mit der uns die Pandemie insbesondere in den ersten Monaten traf, wird in den beschriebenen Sammelbänden, gewissermaßen als Berichte aus dem Auge des epidemiologischen Orkans, durchaus eingefangen. Wer sich allerdings Bewegungen innerhalb der Theorielandschaft oder tiefer reichende empirische Erkenntnisse erwartet, dürfte von diesen frühen Publikationen zur Coronapandemie etwas enttäuscht werden. Hierauf werden wir aus guten Gründen noch ein wenig warten müssen. Es wäre wünschenswert in künftigen Publikationen darüber zu lesen, was Gegenwartsgesellschaften aus solchen Krisenerfahrungen wie der Coronapandemie lernen und wie sie sich verändert haben. Seit rund 20 Jahren scheint sich ein gesellschaftlicher Handlungsmodus permanenter Krisenbewältigung eingestellt zu haben, der die Soziologie als „Krisenwissenschaft“ mehr denn je fordert. Nur werden die Abstände zwischen den Krisenereignissen (9/11, Finanzmärkte, Fluchtbewegungen, Klima und Energie etc.) immer kürzer. So hat sich auch bei uns beim Verfassen dieser Rezension das Gefühl eingestellt, dass uns die gegenwärtigen Ereignisse und Folgen aus dem russischen Angriff auf die Ukraine überholen.
Literatur
Burawoy, M. For Public Sociology. American Sociological Review 2005, 70, 4–28.10.1177/000312240507000102Search in Google Scholar
Lindemann, G. Weltzugänge: Die mehrdimensionale Ordnung des Sozialen. Velbrück Wissenschaft. Weilerswist, 2014.Search in Google Scholar
Osrecki, F. Die Diagnosegesellschaft: Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld: transcript, 2011.10.1515/transcript.9783839416563Search in Google Scholar
Plessner, H. Grenzen der Gemeinschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2002.Search in Google Scholar
Prisching, M. Zeitdiagnose. Methoden, Modelle, Motive. Beltz Juventa: Weinheim und Basel, 2018.Search in Google Scholar
Reichertz, J. Die coronabedingte Krise der qualitativen Sozialforschung. Soziologie 2021, 50, 313–335.Search in Google Scholar
Scheffer, T. Existentielle Probleme, soziologisch. Zeitschrift Für Theoretische Soziologie 2021, 1, 3–33.10.3262/ZTS2101003Search in Google Scholar
Schiek, D.; Schindler, L.; Greschke, H. Qualitative Sozialforschung in Krisenzeiten: Fachgebiet oder Notprogramm? Soziologie 2022, 51, 20–31.Search in Google Scholar
© 2022 René Tuma und Ajit Singh, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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- ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
- Sammelbesprechung
- Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
- Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
- Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
- Doppelbesprechung
- Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
- Ändert sich die Struktur der Öffentlichkeit durch den digitalen Medienwandel?
- Einzelbesprechung Sozioprudenz
- Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Biografieforschung
- Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Religion
- Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Gerontologie
- Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
- Einzelbesprechung Rassismus
- Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Bewegung
- Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Arbeit
- Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
- Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
- Zum Zusammenhalt
- Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
- Essay
- ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
- Sammelbesprechung
- Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
- Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
- Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
- Doppelbesprechung
- Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
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- Einzelbesprechung Sozioprudenz
- Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Biografieforschung
- Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Religion
- Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
- Einzelbesprechung Gerontologie
- Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
- Einzelbesprechung Rassismus
- Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
- Einzelbesprechung Soziale Bewegung
- Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
- Einzelbesprechung Theorie
- Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
- Einzelbesprechung Digitale Arbeit
- Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
- Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)