Home Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
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Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €

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Published/Copyright: May 17, 2022
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Rezensierte Publikation:

Buss, Klaus-Peter / Kuhlmann, Martin / Weißmann, Marliese / Wolf, Harald / Apitzsch, Birgit (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €


Die Digitalisierung und die mit ihr einhergehenden Veränderungen in der Arbeitswelt gehören zu den am heißesten diskutierten Fragen der letzten Jahre. Dabei reicht das Spektrum der Beiträge von Diagnosen radikalen gesellschaftlichen Wandels bis zu Relativierungen, die Kontinuität und Gradualität betonen. In diesem Kontext haben Autor:innen des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen in Kooperation mit weiteren Forscher:innen in dem Sammelband „Digitalisierung und Arbeit“ die Befunde ihrer Forschung zu diesem Thema zusammengeführt, um – wie sie schreiben – „ein empirisch fundiertes Korrektiv gegen einige Kurzschlüsse und Engführungen bisheriger Deutungsansätze“ in der Arbeits- und Industriesoziologie zu formulieren (Apitzsch et al.: 12).

In dem einleitenden Beitrag gehen Birgit Apitzsch, Klaus-Peter Buss, Martin Kuhlmann, Marliese Weißmann und Harald Wolf auf die Motivation und die Kernthesen des Sammelbands ein. Sie grenzen sich dabei von zwei Typen von Beiträgen ab. Auf der einen Seite kritisieren sie Studien, die in der Digitalisierung den Kern eines radikalen gesellschaftlichen Umbruchs sehen. Dazu gehört Philipp Staabs (2019) These der Entwicklung eines auf der Plattformlogik beruhenden „Digitalen Kapitalismus“, der von Andreas Boes et al. (2020) entwickelte „Informatisierungsansatz“ und seine These eines durch das Internet hervorgerufenen Produktivkraftsprungs, der mit der Unterwerfung der Kopfarbeit unter einen digitalen Taylorismus einhergeht, sowie auch Sabine Pfeiffers (2021) These einer von der Zirkulationssphäre und den durch die Digitalisierung hervorgebrachten „Distributivkräften“ dominierten Phase des Kapitalismus. Die Autor:innen des SOFI kritisieren an diesen Ansätzen die Verallgemeinerung einzelner Phänomene und die Nutzung der Digitalisierung als Catch-All-Begriff, der heterogene Entwicklungen zusammenbringt, deren Eigenlogik aber verschleiert.

Auf der anderen Seite verweisen Apitzsch et al. auf die Vielzahl der empirischen Studien über Digitalisierung, die unterschiedliche Arbeitsprozesse, Technologien und Branchen untersuchen, aber nicht den Versuch unternehmen, die Befunde im Hinblick auf Bestimmungsfaktoren, Arbeitsfolgen und Regulierungserfordernisse der Digitalisierung zu verallgemeinern.

Demgegenüber beschreiben Apitzsch et al. den Ansatz des SOFI folgendermaßen:

  1. Statt von der einen Digitalisierung zu sprechen, müssen Digitalisierungen im Plural gedacht werden. Es gibt unterschiedliche Triebkräfte, Mechanismen und Auswirkungen des technologischen Wandels, je nach Einsatzfeldern, genutzten Technologien, arbeitspolitischen Leitbildern der Unternehmen, Arbeitsstrukturen und Prozessen.

  2. Technologische Entwicklungen müssen im Zusammenhang mit dem Wandel der Unternehmensstrategien, der Geschäftsmodelle und des Umfelds der Unternehmen, etwa im Bereich der Produktmärkte, der Finanzmärkte, aber auch der Regulierung, untersucht werden. Die Digitalisierungen sind nur ein Faktor des Wandels unter vielen.

  3. Es gibt nicht die eine technologische Disruption, sondern eine Vielfalt zeitlich unterschiedlich angeordneter Entwicklungen. Die Digitalisierungen müssen historisch eingeordnet werden. Dabei muss die Forschung sich dessen gewahr sein, dass die Wahrnehmungen des Wandels durch „Technodiskurse“ gerahmt und geprägt werden.

  4. In den Betrieben treffen Digitalisierungsprozesse auf sehr unterschiedliche stofflich-tätigkeitsspezifische Anforderungen, arbeitspolitische Leitbilder und gewachsene Aneignungsformen der Technologie. Zudem muss die Mobilisierung von Ressourcen für technologischen Wandel zwischen Akteuren im Betrieb ausgehandelt werden. Daraus resultiert eine „strukturierte Vielfalt“ (Apitzsch et al.: 22) der Digitalisierungen.

Die weiteren Beiträge des Sammelbandes teilen die hier skizzierte allgemeine Perspektive, verfolgen aber unterschiedliche Argumentationspfade und Themen. Eine erste Gruppe von Beiträgen konzentriert sich auf die Faktoren und Triebkräfte, die die „strukturierte Vielfalt“ der Digitalisierungen prägen. Harald Wolf plädiert für eine Historisierung der Diskussion über die Digitalisierung der Arbeit. Eine wichtige Gemeinsamkeit in den gegenwärtigen Debatten und früheren Forschungskontroversen über den Zusammenhang zwischen Technologie und Arbeit sieht er darin, den technologischen Wandel als einen interessengeleiteten Rationalisierungsprozess zu verstehen, in dessen Zentrum die Auseinandersetzungen um Kontrolle der Arbeit stehen. Michael Faust untersucht den Zusammenhang zwischen Finanzialisierung und Digitalisierung. Er argumentiert, dass die Technologieversprechen aus dem Digitalisierungsdiskurs auch die Zukunftserwartungen auf den Kapitalmärkten beeinflussen. Digitalisierungsdiskurse und Investitionsentscheidungen hängen eng zusammen. Klaus-Peter Buss und Eva-Maria Walker betonen die Rolle branchenspezifischer Wettbewerbsbedingungen und ihren Einfluss auf Geschäftsmodelle und Digitalisierungsstrategien von Unternehmen. Am Beispiel des Einzelhandels diskutieren sie, wie die Geschäftsmodelle den Einsatz von Digitalisierungstechnologien wie Onlineshops, Selbstbedienungskassen oder Künstlicher Intelligenz prägen. Knut Tullius analysiert die Wettbewerbsdynamik im Bereich der Finanzdienstleistungen und ihre Auswirkungen auf Digitalisierungsstrategien. Er interpretiert die Entwicklungen als eine neue Welle systemischer Rationalisierung in der Branche, die ambivalente Auswirkungen auf Arbeit hat: einerseits werden routinegeprägte Teilprozesse automatisiert, andererseits nehmen aber die Qualifikationsanforderungen in den nicht von Automatisierung betroffenen Aktivitäten zu.

Die zweite Gruppe von Beiträgen fokussiert im engeren Sinne auf das Thema Arbeit. Martin Kuhlmann fasst die Befunde mehrerer Projekte des SOFI im Hinblick auf die Digitalisierungen im Bereich der Industriearbeit zusammen. Er hebt die Langfristigkeit und zugleich inkrementelle Logik vieler Digitalisierungsvorhaben hervor und identifiziert vier Anwendungstypen: (1) Automatisierung, (2) digitale Assistenzsysteme, (3) Datafizierung (im Sinne einer verstärkten Sammlung und Nutzung von Daten) sowie (4) systemische Integration als eine abteilungs- und standortübergreifende Vernetzung von Datenströmen und IT-Systemen. Die Arbeitsfolgen hängen vom Anwendungstypus, aber auch von arbeitspolitischen Leitbildern und betrieblichen Aushandlungsprozessen ab. Volker Baethge-Kinsky fokussiert insbesondere auf die industrielle Facharbeit. Er betont, dass die Digitalisierung bislang keinen radikalen Wandel der Arbeitsbedingungen und Anforderungen in diesem Bereich gebracht hat. Kristin Carls, Hinrich Gehrken, Martin Kuhlmann, Lukas Thamm und Barbara Splett diskutieren die Auswirkungen der Digitalisierungen auf Gesundheit und Arbeitsbelastungen. Sie argumentieren, dass die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Beschäftigten bei der Einführung neuer Technologien entscheidend für die Folgen sind. Marliese Weißmann untersucht die Nutzung von digitalen Kooperationsplattformen in Arbeitsprozessen und hebt die Aushandlungsdynamiken im Hinblick auf die Gestaltung der Plattformen und das Interesse der Beschäftigten an Autonomie hervor. Stefan Rüb untersucht schließlich die Auseinandersetzungen über Digitalisierung in der betrieblichen Mitbestimmungspraxis, während Birgit Apitzsch, Lena Schulz, Ronny Ehlen, Maximiliane Wilkesmann und Caroline Ruiner auf die Arbeitsbedingungen externer IT-Expert:innen eingehen.

Insgesamt bietet das Buch einen gut lesbaren und fundierten Überblick über unterschiedliche Dimensionen und Arten der Digitalisierungen in der Arbeitswelt. Es wird seinem Anspruch gerecht, die strukturierte Vielfalt von Entwicklungen zu analysieren, d. h. einerseits empirisch genau zu arbeiten und nicht einzelne Phänomene zwecks eines griffigen Arguments zu verallgemeinern und andererseits ein Modell zur Analyse dieser Vielfalt anzubieten – ein Anspruch, der auch von anderen Beiträgen im Feld geteilt wird (Butollo et al., 2022).

Durch viele Querverweise auf andere Studien bietet das Buch auch einen guten Einstieg in die arbeits- und industriesoziologische Debatte über die Digitalisierung der Arbeit, wenngleich allerdings Kenntnisse der Grundbegriffe der Disziplin vorausgesetzt werden. Der Fokus des Buches liegt dabei auf der deutschsprachigen Diskussion. Beiträge aus internationalen Debatten werden gelegentlich zitiert, allerdings ohne auf diese systematisch einzugehen.

Es ist auffällig, dass die Beiträge des Buches auf die „traditionellen“ Kernbranchen der deutschen Ökonomie fokussieren: Industrie, Handel, Finanzwesen. Eine Leerstelle bleibt hingegen das Thema Plattformökonomie. Das ist einerseits ein Vorteil, denn diese Fokussierung erlaubt es, die Debatte über Digitalisierung zu „erden“ und mit empirischem Material aus jenen Branchen zu konfrontieren, in denen die große Mehrheit der Beschäftigten in Deutschland arbeitet. Zugleich ist diese Fokussierung ein Nachteil, denn sie blendet ja gerade jene Bereiche der Ökonomie aus, in denen neue Organisationsmodelle entstehen.

Sowohl Vor- als auch Nachteil ist ebenfalls die Fokussierung auf Deutschland. Durch die besonders starke Mitbestimmung in Deutschland werden Aushandlungsprozesse und die Rolle arbeitspolitischer Leitbilder bei der Implementierung von Technologien besonders sichtbar. Ein Nachteil ist allerdings, dass Deutschland im Bereich der Digitalisierung eher „konservativ“ ist und nicht unbedingt zu den Vorreitern zählt. Es ist möglich, dass durch das Ausblenden globaler Entwicklungen die Dynamik der Digitalisierung von den Autor:innen unterschätzt wird.

Mit den genannten Einschränkungen bleibt das Buch ein wichtiger Beitrag zur Forschungsdiskussion. Auf die Frage, worin die „digitale Transformation“ bestehe und wohin sie führe (Apitzsch et al.: 9), antwortet es: Es kommt darauf an, wo wir hinschauen und wie genau wir hinschauen. Diese Antwort wird wahrscheinlich jene Leser:innen, die nach griffigen und plakativen Interpretationen der Digitalisierung suchen, nicht überzeugen. Es ist aber ein anregendes Buch für die an differenzierter empirischer Analyse von Digitalisierungsprozessen interessierten Forschenden.

Literatur

Boes, A.; Kämpf, T.; Ziegler, A. Arbeit im Informationsraum – Informatisierung als Perspektive für ein soziologisches Verständnis der digitalen Transformation. In Soziologie des Digitalen – Digitale Soziologie?; Maasen, S.; Passoth, J-H., Hrsg.; Nomos: Baden-Baden, 2020; pp 307–324.10.5771/9783845295008-305Search in Google Scholar

Butollo, F.; Feuerstein, P.; Krzywdzinski, M. Was zeichnet die digitale Transformation der Arbeitswelt aus?. AIS-Studien, 2022, 2, 27–44.Search in Google Scholar

Pfeiffer, S. Digitalisierung als Distributivkraft; transcript: Bielefeld, 2021.10.1515/9783839454220Search in Google Scholar

Staab, P. Digitaler Kapitalismus; Suhrkamp: Frankfurt/Main, 2019.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-05-17
Erschienen im Druck: 2022-05-16

© 2022 Martin Krzywdzinski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  1. Frontmatter
  2. Frontmatter
  3. Editorial
  4. Symposium
  5. Wieviel Gemeinschaft benötigt der gesellschaftliche Zusammenhalt heute?
  6. Zum Zusammenhalt
  7. Dieses obskure Objekt der Begierde. Oder: Wessen Halt ist der Zusammenhalt?
  8. Essay
  9. ‚Reine‘, ‚angewandte‘ und ‚empirische‘ Soziologie. Die Edition der Schriften von Ferdinand Tönnies aus dem Jahr 1931 in der Gesamtausgabe
  10. Sammelbesprechung
  11. Explorierende oder kritische Diagnostik? Corona, Kapitalismus und Politik im Fokus kritischer Gesellschaftsanalysen
  12. Von der Emotion zum Affekt und wieder zurück? Aktuelle Entwicklungen in der Emotionssoziologie
  13. Im Auge des Orkans: Analysen, Befunde und Diagnosen zur Gesellschaft in der Coronapandemie
  14. Doppelbesprechung
  15. Viele Arten, (Kinder-)Armut zu betrachten. Zwei Handbücher bieten einen Überblick zum deutschsprachigen Forschungsstand
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  18. Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln. Frankfurt / New York: Campus 2020, 443 S., kt., 39,95 €
  19. Einzelbesprechung Biografieforschung
  20. Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €
  21. Einzelbesprechung Theorie
  22. Rafael Alvear Moreno, Soziologie ohne Mensch? Umrisse einer soziologischen Anthropologie. Bielefeld: transcript 2020, 324 S., kt., 40,00 €
  23. Einzelbesprechung Religion
  24. Oliver Dimbath / Lena M. Friedrich / Winfried Gebhardt (Hrsg.), „Die Hölle der Spätmoderne – Soziologische Studien zum Bedeutungswandel ewiger Verdammnis“, Bielefeld: transcript 2021, Reihe „Kulturen der Gesellschaft“, 388 S., kt., 39,00 €
  25. Einzelbesprechung Gerontologie
  26. Kirsten Aner / Klaus R. Schroeter (Hrsg.), Kritische Gerontologie. Eine Einführung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2021, 145 S., kt., 34,00 €
  27. Einzelbesprechung Rassismus
  28. Doris Liebscher, Rasse im Recht, Recht gegen Rassismus. Genealogie einer ambivalenten rechtlichen Kategorie. Berlin: Suhrkamp 2021, 498 S., br., 26,00 €
  29. Einzelbesprechung Soziale Bewegung
  30. Sven Reichardt (Hrsg.), Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“, Frankfurt am Main / New York: Campus 2021, 323 S., kt., 29,95 €
  31. Einzelbesprechung Theorie
  32. Vincent August, Technologisches Regieren: Der Aufstieg des Netzwerk-Denkens in der Krise der Moderne. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 480 S., kt., 38,00 €
  33. Einzelbesprechung Digitale Arbeit
  34. Klaus-Peter Buss / Martin Kuhlmann / Marliese Weißmann / Harald Wolf / Birgit Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit: Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag 2021, 372 S., br., 45,00 €
  35. Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2022
  36. Eingegangene Bücher (ausführliche Besprechung vorbehalten)
Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-0019/html
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