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Schlüsing Carina Mielke Katja Deutsches Engagement im Irak: Wie weniger mehr sein kann. Bonn: Bonn International Conversion Center (bicc Policy Brief 4), April 2018
Der vor der Parlamentswahl im Irak am 12.05.2018 und dem Bundestags-Beschluss zum Bundeswehreinsatz im Irak[1] erschienene bicc Policy Brief formuliert fünf konkrete Empfehlungen an die Bundesregierung für das deutsche Engagement im Irak. Die Autorinnen Carina Schlüsing und Katja Mielke fordern eine deutliche Reduzierung des militärischen Engagements verbunden mit dem Ausbau ziviler und diplomatischer Maßnahmen.
Den Autorinnen zufolge befindet sich der Irak im Umbruch, sogar an einem Scheideweg. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre weisen ihrer Ansicht nach auf gefährliche Fragmentierungserscheinungen im Land und der Bevölkerung hin. Diese zeigten sich insbesondere im abnehmenden Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Sicherheitskräfte und die Politik sowie an der Verstärkung bereits bestehender ethno-konfessioneller Konflikte. Als Beispiele solcher Fragmentierungen führen die Autorinnen drei irakische Provinzen an: die nordirakische Provinz Ninawa, die bis 2014 jesidisch geprägte Region Shingal und die mehrheitlich von Christen besiedelte Region Hamdaniye.
Darüber hinaus werde der politische Prozess zunehmend von Akteuren schiitischer Milizen geprägt und sei insgesamt stark zersplittert, was wiederum zu einer deutlich gestiegenen Unzufriedenheit und Politikverdrossenheit der Bevölkerung führe.
Eine weitere Herausforderung für die Sicherheitslage sehen Schlüsing und Mielke in der angestrebten Integration von grundlegend unterschiedlichen Sicherheitskräften des Landes, wie den Streitkräften der Zentralregierung, den Kämpfern der Hashd al-Shabi-Miliz und der Peschmerga, besonders im Hinblick auf ethno-konfessionelle Grenzen.
Um diesen Herausforderungen und Bedrohungen für die Sicherheitslage im Irak angemessen zu begegnen, fordern die Autorinnen nicht nur ein entsprechendes Vorgehen von der Zentralregierung in Irak, sondern auch ganz konkret von der Bundesregierung für ihr Engagement vor Ort. Die Empfehlungen im Einzelnen:
„Aktuelles militärisches Mandat klarer ausdifferenzieren“: Nach Ansicht der beiden Autorinnen bedarf die Ausbildungsmission der irakischen Streifkräfte durch die Bundeswehr einer präziser formulierteren Strategie. Dabei müsse insbesondere deutlich werden, welche Partner mit welchen Zielen ausgebildet werden und was sinnvolle Indikatoren für die Zielerreichung und Wirkungsüberprüfung seien. Mit der Abstimmung im Bundestag vom 07.03.2018 wurde für eine Verlängerung des Einsatzes der Bundeswehr im Irak gestimmt. Es wäre spannend zu erfahren, ob Schlüsing und Mielke die Ausführungen im Mandat im Sinne einer klarer formulierteren Strategie ausreichen.
„Militärische Zusammenarbeit auf nicht-letale Maßnahmen beschränken“: Eine weitere Forderung ist, die Kampfmittelräumung und Sanitätsdienste deutlich auszubauen. Eine rein militärische Befähigung irakischer Sicherheitskräfte solle die Bundesregierung einstellen, da sie Versöhnungs- und Ausgleichsprozessen in der Gesellschaft entgegenstehe. Auch Waffen- und Kampfmittellieferungen sollen eingestellt werden. Ein Schwerpunkt der Bundeswehrmission ist nach dem aktuellen Mandat die Kampfmittelräumung und die diesbezügliche Ausbildung der irakischen Kräfte.
„Hinwirken auf Vertrauensbildung in der Bevölkerung und integrative Politik der irakischen Partner“: Die Bundesregierung solle die Zentralregierung und die kurdische Autonomieregierung stärker dazu auffordern, Zugeständnisse gegenüber Minderheiten zu machen, beispielsweise durch Verhandlungen über Schutzmechanismen für Minderheiten und die Erarbeitung einer Strategie für Rückkehrmöglichkeiten der Binnenvertriebenen.
„Diplomatischer Druck: UNAMI mit breiterem Mandat für den Verfassungsklärungsprozess“: Die Bundesregierung solle ihre Unterstützung für die Zentral- und Autonomieregierung von deren Bereitschaft abhängig machen, einen Verfassungsklärungsprozess einzuleiten: Dieser müsse insbesondere die Artikel 111 und 112 der irakischen Verfassung zur Nutzung der Erdölvorkommen und Artikel 140, der sich mit Regelungen zu umstrittenen Gebieten befasst, betreffen. Dafür käme insbesondere eine erneute Ausweitung des Mandats für UNAMI (United Nations Assistance Mission for Iraq) in Frage. Die in der Vergangenheit der Mission gesammelten Erfahrungen und aufgebauten Netzwerke vor Ort hätten sich bereits als geeignete Mediationsstrukturen erwiesen, insbesondere da sie sich auf ausgearbeitete Detailstudien und in den Folgejahren initiierte Mechanismen zur Umsetzung von Art. 140 stützen könne. Die Bundesregierung solle deshalb jegliche Unterstützung im zivilen und militärischen Bereich an die Bereitschaft beider Partner knüpfen, einen entsprechenden Verfassungsklärungsprozess einzuleiten.
„Praktisches Engagement: Bereitstellung externer Expertise für die schrittweise Bearbeitung von Verfassungsartikel 140 und Unterstützung beim Wiederaufbau“: Weiterhin empfehlen die Autorinnen bewährte Verfahren (best practices) bei Landrestitutionsprozessen in vergleichsweise weniger strittigen Gebieten, wie im Gouvernement Dijala, identifikationsstiftend für nachhaltige Konfliktmediation heranzuziehen. Dazu solle auch auf die Beratung und Expertise deutscher Rechtsberater zurückgegriffen und diese den irakischen Partnern angeboten werden. Materielle Unterstützung durch die Bundesregierung für den Wiederaufbau sunnitischer Provinzen und andere Minderheitengebiete solle immer auch lokale Initiativen miteinschließen, um die Akzeptanz und Nachhaltigkeit zu erhöhen.
https://www.bicc.de/uploads/tx_bicctools/BICC_Policy_Brief_4_2018.pdf
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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