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Wie geht es weiter mit den kurdischen Gebieten im Nordosten Syriens? Bericht von einer Erkundungsreise im Sommer 2018

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Published/Copyright: December 14, 2018

Der Krieg zwischen dem Assad-Regime und den überwiegend sunnitischen Aufständischen, der im März 2011 begann, neigt sich jetzt seinem Ende zu. Die letzten unabhängigen Rebellenenklaven in Teilen der Provinzen Deraa und Quneitra existieren nicht mehr. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind nur noch zwei Gebiete des Landes unter Kontrolle der Rebellen. Die Aufständischen können sich in beiden Regionen nur halten, weil ihre Präsenz durch eine ausländische Macht gestützt wird. Die beiden Gebiete sind der US-Stützpunkt in al-Tanf und dessen Umland einerseits und das von der Türkei kontrollierte Gebiet andererseits, das sich von Dscharabulus an der syrisch-türkischen Grenze nach Westen bis zum Distrikt Afrin und südlich bis zur Provinz Idlib erstreckt.

Ob sich diese Enklaven mittel- oder langfristig halten können, ist alles andere als sicher. Derzeit geht der Kampf um die Enklave Idlib in seine entscheidende Runde. Diese Enklaven markieren eine Wende im Bürgerkrieg. Die Aufständischen verfolgen kein eigenes politisches Projekt mehr, sondern sie sind mehr oder weniger zu Dienstleistern ausländischer Mächte geworden, die in Syrien jeweils ihre eigene Agenda verfolgen.

Diese Situation spiegelt eine grundlegende Veränderung der Kräfteverhältnisse in Syrien wider. Das Assad-Regime ist nicht länger in seiner Existenz bedroht. Dank iranischer und russischer Unterstützung ist sein Überleben heute gesichert. Allerdings kontrolliert es weiterhin nur 60 Prozent des syrischen Territoriums. Das größte nicht vom Regime kontrollierte Gebiet sind jetzt die 30 Prozent des Landes, die von den durch die USA unterstützten, kurdisch-geführten Demokratischen Kräften Syriens (SDF) gehalten werden. Die Situation in Syrien hängt heute von den Entscheidungen und Rivalitäten äußerer Mächte ab, während die Wünsche der Syrer auf allen Seiten keine entscheidende Rolle mehr spielen. Was die 30 Prozent des syrischen Staatsgebiets anlangt, die von den SDF kontrolliert werden, so hängt ihre Zukunft von den USA ab.

Falls die USA beschließen sollten, aus Ostsyrien abzuziehen, bleibt den SDF kaum etwas Anderes übrig, als mit den Behörden in Damaskus über ihre Kapitulation zu verhandeln. Sollten sie dies nicht tun, blüht ihnen das gleiche Schicksal wie ihren Kameraden in Afrin – Besetzung durch die Türkei – oder das der Rebellen in Ghuta, Deraa und Quneitra – entschlossene Rückeroberung durch Truppen des Regimes, Irans und Russlands.

Ende Juli 2018 reiste ich in die SDF-Enklave in Ostsyrien, wo ich Ar-Raqqa, Manbidsch, Qamischli, Ain Issa und Kobani besuchte. Ich wollte mir auf dieser Reise einen Eindruck davon verschaffen, wie sowohl Amtsträger als auch einfache Menschen die gegenwärtige Lage in Syrien beurteilen und was sie insbesondere von einer möglichen Rückkehr des Regimes halten.

Das Erste, was jedem auffällt, der diesen Teil Syriens besucht, ist die relativ friedliche und geordnete Atmosphäre. Ich habe während des Krieges sämtliche Regionen Syriens bereist (außer dem von ISIS kontrollierten Gebiet). In den Rebellen-Gebieten herrschte immer Chaos. Meine persönliche Sicherheit hing von der Autorität der jeweiligen Rebellengruppe ab, in die ich eingebettet war. In den vom Regime kontrollierten Gebieten spürt man sofort ganz deutlich, dass man sich in einem totalitären Staat befindet, in dem die Macht der Behörden jeden zwischenmenschlichen Kontakt durchdringt und jedes normale, freimütige Gespräch mit Fremden unmöglich macht. Das von den SDF kontrollierte Gebiet ist zwar kein demokratisches Paradies, dort herrscht aber eine völlig andere Atmosphäre.

Trotzdem muss man auf der Hut sein. Selbst „sichtbare“ Einheiten des Regimes fehlen nicht völlig in den von den SDF kontrollierten Räumen. In den Städten Qamischli und al-Hasaka sind Truppen Assads in „Sicherheitszonen“ stationiert, d. h. Gebieten unter der militärischen Kontrolle des Regimes, die über den von Regimetruppen gehaltenen Militärflugplatz in Qamischli versorgt werden.

Wenn man von Qamischli aus Richtung Westen fahren will, muss man die Stadt zunächst einmal mit großer Vorsicht durchqueren, um diesen Enklaven auszuweichen. Ausländer, die ihnen zu nahe kommen, wurden in den letzten Wochen von den wieder selbstbewusst auftretenden Soldaten Assads festgenommen.

 Zerstörung in Raqqa in Ostsyrien. Bildnachweis: Wikimedia Commons, Mahmoud Bali (VOA).

Zerstörung in Raqqa in Ostsyrien. Bildnachweis: Wikimedia Commons, Mahmoud Bali (VOA).

Das von den SDF kontrollierte Gebiet wirkt sicherer als es tatsächlich ist. In ar-Raqqa und Manbidsch funktionieren die Bürgerräte, die Checkpoints der Sicherheitspolizei der SDF und der Asayîş (kurdischer Geheimdienst) sind allgegenwärtig und so effizient wie eh und je. Aber hinter der Fassade scheinbarer Normalität herrscht Angst. Alle fragen sich besorgt: Werden die Amerikaner bleiben? Die Frage lässt sich nicht leicht beantworten.

Im März 2018 versprach US-Präsident Donald Trump, amerikanische Truppen innerhalb eines Jahres heimzuholen. In dem von den SDF kontrollierten Gebiet halten sich laut offiziellen Angaben 2.000 US-Spezialkräfte auf. Tatsächlich dürften es doppelt so viele sein. Trumps Erklärung hat das Gefühl der Unsicherheit noch verstärkt.

SDF-Offizielle und ihre zivilen Pendants im Demokratischen Rat Syriens (SDC) bleiben, zumindest öffentlich, zuversichtlich im Hinblick auf eine langfristige amerikanische Präsenz als Existenzgarantie für ihre Enklave. Aldar Khalil, einer der obersten Amtsträger in der Enklave, sagte: „Es ist nicht zu erwarten, dass die USA sofort oder bald abziehen. Nach ISIS werden die USA gegen den Iran kämpfen. Und sie werden den Iran in Syrien bekämpfen.“ Nach dieser Sichtweise würde die SDF-Enklave, die im Zuge des Kriegs gegen ISIS entstanden ist, in eine zukünftige US-Strategie zur Eindämmung und Zurückdrängung der Iraner integriert werden. „Viele verfolgen in Syrien eigene Pläne – die Türken, die Russen, die Iraner. Die Amerikaner halten uns für das geringste Risiko, die moderatesten Kräfte,“ ergänzte Khalil.

Mustafa Bali, der Leiter des Pressebüros der SDF, stimmte zu: „Es ist im Interesse der USA, hier präsent zu sein,“ sagte er in einem staubigen SDF-Stützpunkt in der Stadt Ain Issa. „Die USA sind besorgt wegen des iranischen Halbmonds“, womit er den Wunsch der Iraner nach einer zusammenhängenden Einflusssphäre von der irakisch-iranischen Grenze über Irak, Syrien und Libanon bis zum Mittelmeer meinte.

Und SDF-Sprecher Nuri Mahmoud meinte: „Seit der Schlacht um Kobani sind die USA unsere Bündnispartner. Die Medien spekulierten über einen unmittelbar bevorstehenden Abzug. Auch Putin sagte einmal, dass seine Truppen abziehen – geschehen ist dann das genaue Gegenteil. Syrien ist heute ein Ort internationaler Konfrontation, wo alle Parteien bestrebt sind, ihre Verbündeten vor Ort zu stärken. Die USA werden Syrien nicht verlassen, solange sich die Lage innerhalb des Landes nicht stabilisiert hat. Und wir sehen keinerlei Anhaltspunkte für einen unmittelbar bevorstehenden Abzug.“

Diese Einschätzungen werden bis zu einem gewissen Grad von den jüngsten Erklärungen von US-Offiziellen gestützt. Verteidigungsminister James Mattis sagte Anfang Juni 2018: „Auch wenn die Operationen irgendwann einmal zum Abschluss kommen werden, müssen wir unbedingt vermeiden, in Syrien ein Vakuum zu hinterlassen, das vom Assad-Regime oder seinen Unterstützern ausgenutzt werden kann.“

Ein Bericht in der Londoner Times vom 27. Juli 2018 zitierte unterdessen „Quellen vom Persischen Golf,“ die bestätigten, Präsident Trump habe bei seinem Treffen mit dem russischen Präsidenten Vladimir Putin in Helsinki erklärt, die US-Truppen würden so lange in Syrien bleiben, bis die iranischen Streitkräfte abzögen. Der Times-Artikel erwähnte auch, dass der Nationale Sicherheitsberater, John Bolton, ABC News gesagt habe, US-Truppen würden „so lange bleiben, wie die iranische Bedrohung im gesamten Nahen Osten andauert.“ Dies hört sich nach einer Zusage an, die Washingtons kurdische Alliierte beruhigen sollte.

Allerdings sind Handlungen viel aussagekräftiger als Worte. Und so scheint es, als hegten die Anführer der SDF/SDC weiterhin Zweifel an den langfristigen US-Plänen. Im Juni 2018 fanden die ersten direkten Verhandlungen zwischen ihren Vertretern und denjenigen des Assad-Regimes in Damaskus statt.

Es ist nicht klar, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden. Die Interessen Israels liegen indes auf der Hand. Die ostsyrische Enklave und der Stützpunkt bei al-Tanf stellen ein erhebliches physisches Hindernis für die Hoffnung des Irans auf einen zusammenhängenden „Korridor“ dar. Deren Aufrechterhaltung würde auch verhindern, dass Iran als eindeutiger Sieger aus dem Krieg hervorginge, und es würde dem Westen bei substanziellen politischen Verhandlungen über die Zukunft Syriens einen Platz am Tisch sichern. Daher sollte Israel über alle verfügbaren Kanäle in Washington – sowohl zur Regierung als auch zum Kongress – seiner Stimme Gehör verschaffen und sich für die Aufrechterhaltung der SDF-Enklave in Ostsyrien einsetzen.

Insbesondere sollten Anstrengungen unternommen werden, damit die USA offiziell die Einrichtung einer Flugverbotszone für Flugzeuge des Regimes und mit dem Regime verbündeter Streitkräfte östlich des Euphrats erklären. Dieser Schritt, der an die Flugverbotszone über dem irakischen Kurdistan nach dem Golfkrieg von 1991 erinnert, könnte auf einen Schlag das Überleben des von den SDF kontrollierten Gebiets sicherstellen. Die SDF-Zone beziehungsweise die „Demokratische Föderation Nordsyriens,“ wie sie formal genannt wird, sollte auch offiziell anerkannt werden. Da diese Region keine Unabhängigkeit von Damaskus anstrebt, sind die Sorgen im Westen über die Folgen einer formellen Zerschlagung Syriens in Bezug auf diesen Schritt unbegründet.

In dem Maße, wie die strategische Rivalität zwischen Iran und seinen Verbündeten und den USA und ihren Verbündeten an Dynamik gewinnt, ist es unabdingbar, dass der Westen seine Bündnisse und Engagements beibehält und sich so verhält, dass er als eine glaubwürdige und loyale Schutzmacht und verlässlicher Verbündeter wahrgenommen wird. Ostsyrien stellt gegenwärtig ein Testgebiet dafür dar. In Qamischli, Kobani und anderen mühsam verteidigten Zonen harren die Bewohner gespannt der Entscheidung des Westens.


Anmerkung

Dieser Beitrag erschien in englischer Sprache auf der Webseite des Jerusalem Institute for Strategic Studies.


Published Online: 2018-12-14
Published in Print: 2018-12-19

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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