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Faktenboxen – Wie passen Evidenz und Laienverständlichkeit zusammen?

  • Kai Kolpatzik EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 14. März 2017

Zusammenfassung

Qualitätsgesicherte Gesundheitsinformationen sind für Laien oft schwer zu finden und zu verstehen. Faktenboxen bereiten Gesundheitsinformationen aus wissenschaftlichen Studien in einem prägnanten Frage-Antwort-Prinzip auf und stellen zentrale Informationen in einer tabellarischen oder grafisch unterstützten Form zusammen. Es wird keine Empfehlung gegeben. Die Wissensvermittlung soll Menschen befähigen, eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Abstract

Quality-assured health information is often difficult for the lay person to find and understand. Facts Boxes prepare health information from scientific studies in a concise question-and-answer principle and compile central information in a tabular or graphically supported form. No recommendation is given. The knowledge transfer is intended to enable people to make an informed decision.

Einleitung

Google gibt für den Begriff Gesundheit über 170 Millionen Treffer an. In dem Dschungel an Gesundheitsinformationen ist es schwer, verlässliches und qualitätsgesichertes Wissen zu finden und zu erkennen. Was bislang fehlte, ist ein Format, das Gesundheitsinformationen knapp und laienverständlich aufbereitet und trotzdem eine gesicherte Qualität bietet. Diese Lücke füllt die sogenannte Faktenbox. Ursprünglich in den USA von den Wissenschaftlern Lisa Schwartz und Steven Woloshin für Themen aus dem Arzneimittelbereich entwickelt, fassen die Faktenboxen die beste verfügbare medizinische Evidenz zu Nutzen und Schaden von Gesundheitsmaßnahmen ausgewogen und verständlich zusammen. Dabei geben sie grundsätzlich keine Empfehlung, sondern ermöglichen dem Leser, mithilfe des vermittelten Wissens eine informierte Entscheidung zu treffen. Randomisiert-kontrollierte Studien haben gezeigt, dass Patientinnen und Patienten die Faktenboxen gut verstehen und annehmen [1, 2].

Wissenschaftliche Studien als Grundlage

Die AOK-Faktenboxen basieren auf dem amerikanischen Format. Die AOK hat gemeinsam mit dem Harding-Zentrum für Risikokompetenz des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung zunächst eine klassische Variante zu Fragen aus dem diagnostischen und therapeutischen Bereich entwickelt, darunter „Welchen Nutzen und welchen Schaden kann die Einnahme der Pille für mich haben?“ oder „Sollte ich meinen Rücken bei Schmerzen röntgen lassen?“. Die Faktenboxen fassen die wesentlichen Aspekte klinischer Evidenz in einfacher tabellarischer oder grafischer Form zusammen. Dabei vergleichen sie beispielsweise jeweils eine Gruppe von Menschen, die eine bestimmte Behandlung erhalten (zum Beispiel 1.000 Personen, die ein Medikament nehmen), mit einer Gruppe von Menschen, die diese Behandlung nicht oder nur eine Scheinbehandlung (Placebo) erhalten. Als Grundlage zur Erstellung der Faktenboxen dienen wissenschaftliche Übersichtsarbeiten zu Nutzen und Risiken von Behandlungen, die im Regelfall noch nicht verständlich für Endverbraucher aufbereitet wurden. Ähnlich den bekannten „Produktsteckbriefen“, zum Beispiel von Elektroprodukten, vermitteln die Faktenboxen auf einen Blick die zentrale Information zu Nutzen und Risiko einer Fragestellung.

Neben der klassischen Variante hat die AOK in einem zweiten Schritt auch eine Version entwickelt, die Leistungen und Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung laienverständlich und visualisierend darstellt. Sie soll zu einem besseren Verständnis des Gesundheitssystems beitragen. Bisher sind beispielsweise Faktenboxen zu den Themen Kinderkrankengeld, Behandlungsfehler oder zum Organspendeausweis erschienen.

Faktenboxen zu über 20 Themen

Ausgangspunkt für beide Varianten war eine 2014 veröffentlichte Umfrage des AOK-Bundesverbandes und des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zur Gesundheitskompetenz in Deutschland. Diese erste bundesweite repräsentative Studie zur Gesundheitskompetenz von gesetzlich Krankenversicherten zeigte, dass die Gesundheitskompetenz bei gesetzlich Krankenversicherten und damit die Fähigkeit zur Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung zu über 50 Prozent „problematisch“ bis „unzureichend“ ausgebildet ist [3]. Mehr als ein Viertel der Versicherten findet es sehr kompliziert, gesundheitsrelevante Informationen zu finden; fast ein Drittel hat Schwierigkeiten, entsprechende Informationen zu verstehen. Zwei Drittel haben Probleme damit, die Vertrauenswürdigkeit von Informationen über Gesundheitsrisiken einzuschätzen. Und ein Viertel gelingt es kaum, Arztinformationen eigenverantwortlich umzusetzen. Aktuellere Studien wie der Health Literacy Survey Germany, HLS-GER, bestätigen diese Ergebnisse [4].

Aktuell liegen über 20 unterschiedliche Faktenboxen für die Onlinenutzung vor. Sie sind auf der Webseite www.aok.de/faktenboxen eingestellt. Die Themen reichen von Impfungen und Nahrungsergänzungsmitteln über diagnostische und therapeutische Maßnahmen bis hin zu leistungsrelevanten Fragestellungen der gesetzlichen Krankenversicherung (siehe Tabelle 1).

Evaluation zeigt Wirksamkeit der Faktenboxen

Die AOK-Faktenboxen funktionieren immer nach dem gleichen standardisierten Frage-Antwort-Prinzip, das folgendes Beispiel verdeutlicht: Die Faktenbox zur Früherkennung von Eierstockkrebs informiert Frauen darüber, welchen Nutzen und welche Risiken ein jährlicher Ultraschall hat. Dazu wird zunächst die Frage gestellt: Was bringt mir ein jährlicher Ultraschall zur Früherkennung? Die Antwort liefern absolute Zahlen: Die Sterblichkeitsrate bei Frauen ohne Ultraschalluntersuchung ist genauso hoch wie bei Frauen mit Früherkennung durch Ultraschall (jeweils drei je 1.000 Frauen). Von 1.000 Frauen ohne Früherkennung durch Ultraschall erhielten fünf die Diagnose Eierstockkrebs. Bei Frauen mit Ultraschalluntersuchung waren es sechs. Auffällige Befunde gab es je 1.000 Frauen ohne Früherkennung keine; bei Frauen mit Früherkennung waren es 102 je 1.000. Auffällige Ultraschalle sind fast immer Fehlalarme. Auch zusätzliche Bluttests können Eierstockkrebs selten aufdecken. Oft folgen unnötige Eierstock-Entfernungen mit weiteren Nebenwirkungen. Von 100 auffälligen Tests hatten nur sechs Frauen Eierstockkrebs. Bei den 94 Fehlalarmen wurden 31 Frauen die Eierstöcke unnötigerweise entfernt. In fünf Fällen kam es zu schweren Nebenwirkungen und Komplikationen (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: AOK-Faktenbox zur Eierstockkrebs-Früherkennung.
Abbildung 1:

AOK-Faktenbox zur Eierstockkrebs-Früherkennung.

Dass das neue Informationsangebot hilfreich ist, zeigen erste Evaluationsergebnisse zur Faktenbox zur Früherkennung von Eierstockkrebs. So konnte bei Testpersonen nach der Lektüre der Faktenbox ein signifikanter Wissenszuwachs sowie eine realistischere Einschätzung des Risikos, an Eierstockkrebs zu sterben, festgestellt werden [5].

Mit den Faktenboxen ist somit ein neues, transparentes und leicht zugängliches Format entstanden, mit dem der informierte Patient auf Augenhöhe in das Arzt-Patienten-Gespräch gehen kann (www.aok.de/faktenboxen).


Korrespondenz: Dr. Kai Kolpatzik, AOK-Bundesverband, Health Promotion and Prevention, Rosenthaler Straße 31, 10178 Berlin

  1. Conflicts of interest: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  2. Conflicts of interest: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

Literatur

1. Schwartz LM, Woloshin S, Welch HG. The drug facts box: providing consumers with simple tabular data on drug benefit and harm. Med Decis Making 2007;27:655–62.10.1177/0272989X07306786Suche in Google Scholar PubMed

2. Schwartz LM, Woloshin S, Welch HG. Using a drug facts box to communicate drug benefits and harms: two randomized trials. Ann Intern Med 2009;150:516–27.10.7326/0003-4819-150-8-200904210-00106Suche in Google Scholar PubMed

3. Zok K. Unterschiede bei der Gesundheitskompetenz. WIdO-monitor 2014;11:1–12.Suche in Google Scholar

4. Schaeffer D, Vogt D, Berens EM, Messer M, Quenzel G, Hurrelmann K. Health literacy in Deutschland. In: Schaeffer D, Pelikan JM, Hrsg. Health literacy: Forschungsstand und Perspektiven. Bern: Hogrefe, 2016:129–43.Suche in Google Scholar

5. Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Pressekonferenz, Bundespressekonferenz, Berlin 26.5.2015.Suche in Google Scholar

Online erschienen: 2017-03-14
Erschienen im Druck: 2017-03-01

©2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

Artikel in diesem Heft

  1. Frontmatter
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Gesundheitskompetenz – Was ist das?
  5. Gesundheitskompetenz messen – Kritischer Blick auf standardisierte Verfahren
  6. Developments and perspectives of health literacy in Europe
  7. Gesundheitskompetenz in Deutschland – Nationaler Aktionsplan
  8. Gesundheitskompetenz von gesetzlich Krankenversicherten
  9. Gesundheitskompetenz in der Schweiz: bestätigte Befunde - aber nicht so gut wie erwartet
  10. Gesundheitliche Kompetenz erhöhen, Patientensouveränität stärken
  11. Gesundheitskompetenz und Patientensicherheit
  12. KomPaS: Studie zur Kommunikation und Patientensicherheit
  13. Gesundheitskompetenz durch Patientenschulungen – ein Überblick
  14. Patientenschulungen bei chronisch kranken Kindern, Jugendlichen und Eltern
  15. Gemeinschaftliche Selbsthilfe und Gesundheitskompetenz
  16. Forderung der Gesundheitskompetenz – Erfahrungen im Rahmen der Patientenuniversitat
  17. Faktenboxen – Wie passen Evidenz und Laienverständlichkeit zusammen?
  18. Leichte Sprache: Verständlichkeit ermöglicht Gesundheitskompetenz
  19. Patentrezept Medienkompetenz. Ein Weg zur Steigerung der Gesundheitskompetenz?
  20. Informationen aus dem Internet
  21. Gesundheitskompetenz vernetzen: Qualitätsentwicklung von Online-Multiplikatorenplattformen
  22. Abwehrreaktionen und negative Effekte von Gesundheitsinformationen
  23. Gesundheitskompetente Krankenbehandlungseinrichtungen
  24. Health Literate Organizations – ein Konzept für den deutschen stationären Sektor?
  25. Händehygiene und Gesundheitskompetenz im Kontext von Patientensicherheit im Krankenhaus
  26. Gesundheitskompetenz und Wahlentscheidungen bei öffentlichen Qualitätsvergleichen
  27. Die Entwicklung der Gesundheitskompetenz in der frühen Kindheit
  28. Gesundheitskompetenz, subjektive Gesundheit und Gesundheitsverhalten bei Studierenden
  29. Gesundheit als schulische Bildung?
  30. Gesundheitskompetenz im Alter fördern – Partizipative Interventionsentwicklung im Projekt „GeWinn“
  31. Health literacy and palliative care
  32. Public Health Infos
Heruntergeladen am 27.9.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/pubhef-2016-2140/html
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