
Eigentlich kann und will ich es auch nicht glauben, dass am 26. Juni 2023 ein Anruf bei Paul Kaegbein, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, ohne Antwort blieb. Dabei war es doch immer wieder verblüffend, mit welch gleichbleibend klarer Stimme er jedes Jahr meine Glückwünsche entgegennahm, von seinen Aktivitäten vor allem für die Baltische Gesellschaft berichtete und sich angelegentlich über den Fortgang der Arbeit an „unserer“ gemeinsamen Zeitschrift BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis informieren ließ. Man hatte den Eindruck, dass er die Gabe besaß, vom Altern verschont zu bleiben. Dabei haben ihn in den letzten Jahren beschwerliche Leiden geplagt, die er wohl zu verschweigen wusste. Am 8. März 2023 ist er im Alter von 97 Jahren gestorben.
In seiner Geburtsstadt Dorpat (Tartu) hat er wohl nur wenige Monate verbracht, denn seine Familie (der Vater stammte aus Mecklenburg, die Mutter aus einer angesehenen Kaufmannsfamilie in Reval/Tallinn) zog bald nach Berlin. Sein ernsthafter Charakter war sicher auch davon beeinflusst, dass er als Jugendlicher seit dem zweiten Lebensjahr unter Asthma litt. Deshalb wurde er im Zweiten Weltkrieg nicht eingezogen. 1943 machte er in Berlin Abitur und konnte das Studium der Geschichte, der Germanistik und der Historischen Hilfswissenschaften an der Humboldt-Universität beginnen; er beendete es 1948 mit der Promotion zum Dr phil. Nach kurzer Assistententätigkeit am Historischen Seminar war er von 1949 bis 1951 Bibliotheksreferendar und wurde er anschließend Oberbibliothekar an der Bibliothek der Humboldt-Universität zu Berlin. 1952 wechselte er an die Universitätsbibliothek der Technischen Universität Berlin, die er von 1961 bis 1975 mit bemerkenswertem Erfolg leitete. Es gelang ihm, vorbildliche Entwicklungen zum einheitlichen Bibliothekssystem einzuführen und erste Schritte der EDV-Entwicklung zu gehen. Seit 1964 lehrte er auch; 1970 wurde er Honorarprofessor für Bibliothekswissenschaft und Dokumentation an der Freien Universität Berlin. So war es fast natürlich, dass er 1975 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Bibliothekswissenschaften an der Universität Köln berufen wurde, den er bis zu seiner Emeritierung 1990 der Informationswissenschaft öffnete und international vernetzte. Als der Kölner Lehrstuhl nicht fortgeführt werden konnte, hat er aktiv daran mitgewirkt, das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin aufzubauen.
Paul Kaegbein war ein Vernetzer. Das zeigte sich auch in seiner erfolgreichen Verbandsarbeit, wo er sich in der Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken, dem Deutschen Bibliotheksverband und vor allem auch in der Internationale Vereinigung bibliothekarischer Verbände und Einrichtungen (IFLA) durch seine langjährige Mitarbeit auch in leitender Position große Verdienste erworben hat. Er war ein begnadeter Moderator, der in aller Ruhe und Bescheidenheit auch in komplexen Situationen zu Lösungen zu führen verstand – ein lebendiges Beispiel der Kraft leiser Töne.
Paul Kaegbein war in vieler Hinsicht einzigartig. Seine nicht nachlassende Konzentrationsfähigkeit z. B., die es ihm ermöglichte, auch auf den strapaziösesten Flugreisen seelenruhig weiterzuarbeiten, war legendär; seine Fähigkeit, Fehler beim Korrekturenlesen aufzuspüren, war unerreichbar. (Nur ganz selten habe ich einmal einen zusätzlichen entdecken können – wenn er vorher schon ein, zwei andere korrigiert und den letzten vielleicht übersehen hatte). Er war ein exzellenter Forscher, der historische Themen genauso erfolgreich bearbeiteten konnte wie informationswissenschaftliche Grundprobleme – er war aber ebenso ein Mann der Praxis.
Ich habe aus Anlass seines 90. Geburtstags in dieser Zeitschrift schon geschildert, wie er auf einem Rheinspaziergang von Bonn nach Bad Godesberg auf dem Rückweg von einer Sitzung das Thema einer neu zu konzipierenden Bibliothekszeitschrift ansprach. Wir stellten schnell fest, dass wir so gut wie identische Vorstellungen davon hatten. Sie sollte in modernem Design Forschung und Praxis umfassen, für alle Sparten des Bibliothekswesens offen sein und insbesondere auch Entwicklungen anderer Länder im deutschsprachigen Bereich bekannt machen. Daraus ist eine jahrzehntelange freundschaftliche Zusammenarbeit entstanden, die ich immer – es sei noch einmal gesagt – als beglückend empfunden habe.
Paul Kaegbeins Wirken hat nach langen Jahren unermüdlicher und fruchtbarer Tätigkeit einen natürlichen Endpunkt gefunden. Seine Wirkung aber setzt sich mit jedem Heft unserer Zeitschrift BIBLIOTHEK – Forschung und Praxis fort. Inzwischen hat eine neue Generation von Bibliothekar*innen dafür Verantwortung übernommen. Sie wird die Zeitschrift in seinem weltoffenen Geiste weiterführen.
Elmar Mittler
für die Herausgeber*innen
© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Nachruf
- Der große Klare aus dem Norden
- Call for Papers
- Call for Papers
- Themenschwerpunkt: Offenheit in Bibliotheken
- Editorial: Offenheit in Bibliotheken
- Thesauri – a Toolbox for Information Retrieval
- Digitale Sammlungen als offene Daten für die Forschung
- Linked Open Data. Zukunftsweisende Strategien
- Nutzungsmessung von Präsenzzeitschriften mittels Sensoren
- Online-Ausstellungen. Bedeutung, Herausforderungen und Potenziale für Literaturarchive und Nachlassinstitutionen
- Auf gut Klick! Über die Do’s and Dont’s der virtuellen Wissens- und Kulturvermittlung
- E-Day: Die Bibliothek setzt mit einem Event auf Offenheit
- Immersive 360°-Lernressourcen als Werkzeuge in der protoberuflichen Bildung
- Ein Rummelplatz für Entdeckungen. Mit Zukunftswerkstätten, Fokusgruppen und Moodboards erfindet sich die Zentralbibliothek Hannover neu
- Strategieentwicklung mittels „Cultural Probes“
- Das BiblioWeekend – Eine nationale Kampagne für Bibliotheken in der Schweiz
- Komplexe räumliche Systeme: Bibliotheksräume im digitalen Zeitalter
- Sustainable Development in Danish Public Libraries
- Kunst in/aus Bibliotheken – Kreative Nutzung von digitalen Bibliotheken
- Empowerment durch Offenheit: (Netzwerk) Tutorials in Bibliotheken
- Von Open Educational Resources zu Open Educational Practices: der community-geleitete OER-Ansatz der ZHAW Hochschulbibliothek
- Open for Library-Faculty Collaboration: A Liaison Librarian Use Case at the University Library of Freie Universität Berlin
- Open Access Monitoring: Verzerrende Datenquellen und unbeabsichtigte Leerstellen – eine explorative Studie
- Herausgeberschaft und Verantwortung: Über die Un-/Abhängigkeit wissenschaftlicher Fachzeitschriften
- Von der Strategie bis zur Evaluation – Die Brandenburger Open-Access-Strategie und die Vernetzungs- und Kompetenzstelle Open Access Brandenburg als Landesinitiative
- Rezensionen
- Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfgang Semar, Christa Wormser-Hacker (Hrsg.): Grundlagen der Informationswissenschaft, 7., völlig neu gefasste Ausgabe, Berlin: De Gruyter, 2023, gebundene Ausgabe: 958 S., ISBN-10: 311076895X, ISBN-13: 978-3110768954, € 220,00
- Ellyssa Kroski (Ed.): 25 ready-to-use sustainable living programs for libraries, Chicago: ALA Editions, 2022, ISBN 9780838936498, $59.99
- Veronica Arellano Douglas and Joanna Gadsby (Eds.): Deconstructing Service in Libraries. Intersections of Identities and Expectations. Sacramento, CA: Litwin Books, 2020. 404 S., Paperback, ISBN: 978-1634000604, $22.75.
- Judith Mavodza: Navigating and Managing an Academic Library. Best Practices from the Arabian Gulf Region. (Current Topics in Library and Information Practice), Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2022, ISBN 978-3-11-074008-0, € 92,95
- Kednik, Manfred (Hrsg.) unter Mitarbeit von Annemarie Kaindl: Martin Willibald Schrettinger (1772–1851). Vom eigenwilligen Mönch zum leidenschaftlichen Bibliothekar. Festschrift zum 250. Geburtstag (Neumarkter Historische Beiträge: 17). Neumarkt: Historischer Verein für Neumarkt in der Oberpfalz, 2022. 274 S. Abb., fest gebunden. ISBN 978-3-9811330-9-7, € 15,00
Articles in the same Issue
- Titelseiten
- Nachruf
- Der große Klare aus dem Norden
- Call for Papers
- Call for Papers
- Themenschwerpunkt: Offenheit in Bibliotheken
- Editorial: Offenheit in Bibliotheken
- Thesauri – a Toolbox for Information Retrieval
- Digitale Sammlungen als offene Daten für die Forschung
- Linked Open Data. Zukunftsweisende Strategien
- Nutzungsmessung von Präsenzzeitschriften mittels Sensoren
- Online-Ausstellungen. Bedeutung, Herausforderungen und Potenziale für Literaturarchive und Nachlassinstitutionen
- Auf gut Klick! Über die Do’s and Dont’s der virtuellen Wissens- und Kulturvermittlung
- E-Day: Die Bibliothek setzt mit einem Event auf Offenheit
- Immersive 360°-Lernressourcen als Werkzeuge in der protoberuflichen Bildung
- Ein Rummelplatz für Entdeckungen. Mit Zukunftswerkstätten, Fokusgruppen und Moodboards erfindet sich die Zentralbibliothek Hannover neu
- Strategieentwicklung mittels „Cultural Probes“
- Das BiblioWeekend – Eine nationale Kampagne für Bibliotheken in der Schweiz
- Komplexe räumliche Systeme: Bibliotheksräume im digitalen Zeitalter
- Sustainable Development in Danish Public Libraries
- Kunst in/aus Bibliotheken – Kreative Nutzung von digitalen Bibliotheken
- Empowerment durch Offenheit: (Netzwerk) Tutorials in Bibliotheken
- Von Open Educational Resources zu Open Educational Practices: der community-geleitete OER-Ansatz der ZHAW Hochschulbibliothek
- Open for Library-Faculty Collaboration: A Liaison Librarian Use Case at the University Library of Freie Universität Berlin
- Open Access Monitoring: Verzerrende Datenquellen und unbeabsichtigte Leerstellen – eine explorative Studie
- Herausgeberschaft und Verantwortung: Über die Un-/Abhängigkeit wissenschaftlicher Fachzeitschriften
- Von der Strategie bis zur Evaluation – Die Brandenburger Open-Access-Strategie und die Vernetzungs- und Kompetenzstelle Open Access Brandenburg als Landesinitiative
- Rezensionen
- Rainer Kuhlen, Dirk Lewandowski, Wolfgang Semar, Christa Wormser-Hacker (Hrsg.): Grundlagen der Informationswissenschaft, 7., völlig neu gefasste Ausgabe, Berlin: De Gruyter, 2023, gebundene Ausgabe: 958 S., ISBN-10: 311076895X, ISBN-13: 978-3110768954, € 220,00
- Ellyssa Kroski (Ed.): 25 ready-to-use sustainable living programs for libraries, Chicago: ALA Editions, 2022, ISBN 9780838936498, $59.99
- Veronica Arellano Douglas and Joanna Gadsby (Eds.): Deconstructing Service in Libraries. Intersections of Identities and Expectations. Sacramento, CA: Litwin Books, 2020. 404 S., Paperback, ISBN: 978-1634000604, $22.75.
- Judith Mavodza: Navigating and Managing an Academic Library. Best Practices from the Arabian Gulf Region. (Current Topics in Library and Information Practice), Berlin, Boston: De Gruyter Saur, 2022, ISBN 978-3-11-074008-0, € 92,95
- Kednik, Manfred (Hrsg.) unter Mitarbeit von Annemarie Kaindl: Martin Willibald Schrettinger (1772–1851). Vom eigenwilligen Mönch zum leidenschaftlichen Bibliothekar. Festschrift zum 250. Geburtstag (Neumarkter Historische Beiträge: 17). Neumarkt: Historischer Verein für Neumarkt in der Oberpfalz, 2022. 274 S. Abb., fest gebunden. ISBN 978-3-9811330-9-7, € 15,00