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Komplexe räumliche Systeme: Bibliotheksräume im digitalen Zeitalter

  • Johannes Pointner

    Johannes Pointner

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Published/Copyright: August 5, 2023

Zusammenfassung

Durch die digitale Technologisierung von Räumen sind Bibliotheken als räumliche Strukturen mit sich dynamisch verändernden Bedingungen konfrontiert. Mit der damit einhergehenden Wahrnehmung komplexer werdender Räume soll eine terminologische Annäherung zwischen dem Komplexitäts- und dem Raumbegriff vorgenommen werden, um in weiterer Folge die Wissens- und Interaktionsräume der Bibliothek als komplexe räumliche Systeme zu definieren. Dabei geht es nicht um eine bloße Bestandsaufnahme bzw. Analyse vorherrschender Raumvorstellungen in Bezug auf Bibliotheksräume, sondern vielmehr um die Skizzierung eines theoretisch fundierten, architektonischen Entwurfsansatzes, der die heutige technologische Realität in ihrer paradigmatischen Dimension einbezieht.

Abstract

Against the background of the dynamically developing technologization of spaces, the spatial structures of libraries are confronted with changing conditions. With the accompanying perception that spaces are becoming more complex, a terminological rapprochement between the concept of complexity and the concept of space will be undertaken to define the knowledge and interaction spaces of the library as complex spatial systems. This will not be a mere analysis of prevailing concepts of space in relation to library spaces, but rather an attempt at an architectural design approach that incorporates today’s technological reality in its paradigmatic dimension.

1 Einleitung: Komplexer Bibliotheksraum?

Die zunehmende Digitalisierung und Technologisierung von Räumen stellt Bibliotheken vor neue Fragen und Herausforderungen. Die Dynamik und Komplexität dieser neuen Räume erfordert eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff selbst. In diesem Zusammenhang ist zu beobachten, dass insbesondere in raumbezogenen Wissenschaften, wie der Architektur oder der Raumsoziologie, vermehrt Begriffe aus der eigentlich fachfremden Komplexitätsforschung wie Nichtlinearität, Netzwerk oder Multidimensionalität verwendet werden.

Vor diesem Hintergrund schlägt der Artikel eine terminologische Annäherung zwischen dem Komplexitätsbegriff und dem Raumbegriff vor. Ziel ist es, die Wissens- und Interaktionsräume der Bibliothek als komplexe räumliche Systeme zu definieren und zu verstehen. Der anschließend ausgeführte architektonische Entwurfsansatz soll aufzeigen, wie Bibliotheksräume durch die konsequente Integration digitaler Technologien zu Orten werden könnten, die nicht nur Wissen bewahren, sondern auch auf vernetzter und hybrider Kollaboration basieren. Wie könnten physische und virtuelle Bibliotheksräume dazu beitragen, komplexe epistemische Kontexte zu erschließen? Nach welchen Parametern müssten Bibliotheksräume angelegt werden, damit in diesen selbst die Produktion komplexer Wissenszusammenhänge und das Auftreten komplexen Verhaltens realisiert werden kann? Inwieweit ist damit eine Öffnung von Bibliotheksräumen verbunden? Diese Publikation trägt somit zur Diskussion über die Zukunft von Bibliotheksarchitektur und Bildungsräumen bei und zeigt in einem spekulativen Architekturkonzept, wie Bibliotheken als komplexe räumliche Systeme gestaltet werden könnten, um den aktuellen, sich dynamisch entwickelnden Anforderungen gerecht zu werden.

1.1 Technologie und Komplexität

Der Begriff der Komplexität ist einer jener Termini, die eng mit der technischen Entwicklung zusammenhängen. Im Deutschen wird das Wort „komplex“ seit dem 18. Jahrhundert verwendet, um Attribute wie „zusammenhängend“ und „umfassend“ zu beschreiben. In der Philosophie und Mathematik wurde der Begriff im 20. Jahrhundert populär, insbesondere durch den britischen Philosophen und Mathematiker Alfred North Whitehead, der ihn in seiner Prozessphilosophie verwendete, um die topologische Natur von Systemen zu beschreiben, die aus vielen miteinander verbundenen Elementen bestehen. Whitehead beschrieb Entitäten so als „drops of experience, complex and interdependent“[1] und versuchte dabei dezidiert naturwissenschaftliche Theorien seiner Zeit, wie die Theorie der Elektrodynamik oder die Relativitätstheorie, in seine philosophischen Auseinandersetzungen zu integrieren. Seine Arbeit sollte in der Folge nicht unerheblichen Einfluss auf die nur wenige Zeit später entstehenden kybernetischen Anfänge haben. Laut dem Komplexitätsforscher Paul Cilliers besteht ein Zusammenhang zwischen der zunehmenden Verbreitung elektronischer Kommunikations- und Informationstechnologien einerseits und der verstärkten Aufmerksamkeit gegenüber Phänomenen der Komplexität andererseits. Die Technologisierung des Sozialen führe zu einer „explosion of information“ und damit zur Entstehung komplexer Netzwerkstrukturen, die nicht mehr mit den klassischen Mitteln der analytischen Methode verstanden werden können. Umgekehrt ermöglicht die gestiegene Leistungsfähigkeit der elektronischen Datenverarbeitung auch eine bessre Erfassung und Untersuchung komplexer Phänomene.[2]

1.2 Technologie und Raumtransformation

Folgt man den Raumsoziolog*innen Martina Löw und Hubert Knoblauch, so ist Raum „the medium in which the transformation of any society or social change takes place.“[3] Dementsprechend müsste sich die von Cilliers attestierte technologieinduzierte Vernetzung des Sozialen auch räumlich feststellen lassen. An dieser Stelle soll daher ein kurzer Überblick über aktuelle räumlich-technologische Entwicklungen gegeben werden.

Ausgangspunkt ist das Konzept der Mediatisierung, das auf einem grundlegenden Level „den Wandel von Alltag, Kultur und Gesellschaft im Kontext des Wandels der Medien“[4] untersucht. Damit ist diese Perspektive auch geeignet, mediale Brüche wie dem Übergang von Papier-basierten zu digitalen Medien nachzuvollziehen und die einhergehenden medialen Spezifika herauszuarbeiten. Die aktuell bedeutendste Facette von dieser sich vollziehenden Metatransformation ist die Digitalisierung. Sie beschreibt, inwieweit sich durch die ubiquitär fortschreitende Verbreitung von digitaler Datenverarbeitung eine homogene, computergesteuerte Infrastruktur etabliert, „über die tendenziell die gesamten symbolischen Operationen in einer Gesellschaft abgewickelt werden“.[5] Damit verknüpft ist die Virtualisierung von Erfahrungswelt in dem Sinne, dass digitale Medien eine Unmenge dezentraler Kommunikationskanäle bilden, die Informationsaustausch unabhängig von Raum und Zeit ermöglichen. Auf diese Weise entsteht eine schier unendliche Anzahl digital-virtueller Räume, die analoge Räume dynamisch erweitern, anreichern oder ganz hinter sich lassen. Kommunikative Handlungen werden verschachtelt und wirken simultan auf verschiedenen räumlichen Skalen und Dimensionen.[6] Ein Zustand der allgemeinen Vernetzung tritt ein.[7] In Erweiterung dazu kann auch der Aspekt der Algorithmisierung hinzugefügt werden: Die in digitalen Medien simulierten virtuellen Räume prägen durch Algorithmen und künstliche Intelligenz ein Eigenleben aus. Räume an sich werden dadurch einerseits selbst zu Akteuren. Des Weiteren werden durch die Allgegenwärtigkeit virtueller Räume die ihnen sprichwörtlich eingeschriebenen mathematischen Logiken auf die gesamte Lebenswelt ausgedehnt. Digitalisierung, Virtualisierung, Mediatisierung, Algorithmierung etc. erscheinen dadurch als theoretische Modellierungen, die als unterschiedliche Dimensionen eine komplexere Entwicklung mit verschiedenen, aber sich bedingenden Fokussierungen zu beschreiben versuchen.

Digitale Technologien führen zusammengefasst also zu einer zunehmend vernetzten räumlichen Struktur. Der geografischen Position kommt dabei immer geringere Relevanz zu. Wichtiger wird dagegen die ansteigende Vernetzung durch Daten- und Informationsflüsse. So entstehen räumliche Verhältnisse, die vor allem durch Hybridität und Heterogenität gekennzeichnet sind. Es entstehen Räume, die sich der Vereinfachung verwehren und die Nonlinearität, Emergenz oder Selbstorganisation ausprägen – Eigenschaften, die mit gängigen Werkzeugen der räumlichen Analyse nur bedingt untersucht werden können, sondern die vielmehr aus dem Jargon der Komplexitätsforschung bekannt sind.

2 Komplexität und Raum: Eine Annäherung

Im Rahmen dieses Beitrages soll dementsprechend nahegelegt werden, dass Erkenntnisse der Komplexitätstheorie herangezogen werden können, um heutige räumliche Phänomene nicht nur besser zu verstehen, sondern darüber hinaus auch Rahmenbedingungen für das Entwerfen von architektonischen Systemen abzustecken, die selbst komplexes Verhalten ausbilden sollen. Im folgenden Teil des Textes soll daher eine Zusammenführung von Relationaler Raumtheorie und Komplexitätstheorie skizziert werden. Hier soll dabei eine Beschränkung auf wesentliche Aussagen erfolgen, damit im Nachhinein ausführlicher auf die daraus resultierenden Parameter für die architektonische Gestaltung von Bibliotheksräumen eingegangen werden kann.

2.1 Übersicht Komplexitätstheorie

Anstelle einer eindeutigen Definition werden in der Komplexitätsforschung eine Reihe von Charakteristika aufgeführt, mit denen Komplexität als Eigenschaft von Systemen beschrieben werden kann. Als System wird in diesem Kontext etwas verstanden, das sich von seiner Umgebung abgrenzt, ein Innen und ein Außen hat und aus mehreren Komponenten besteht.[8]

  • Komplexe Systeme sind durch eine große Anzahl von Elementen bestimmt, die auf nichtlinearer Weise interagieren. Die Aktivität einer Entität kann über Schleifen bzw. indirektes Feedback rekursiv auf sie selbst zurückwirken. Somit werden kausale Kategorien verflochten und das Prinzip der einfachen Superposition außer Kraft gesetzt.

  • Interaktionen auf Mikroebene können somit Auswirkungen auf Strukturen und Qualitäten auf Makroebene haben. Dieses als Emergenz bezeichnete Verhalten lässt sich nicht vollständig vorhersagen.

  • Dementsprechend ist komplexen Systemen eine Historizität eingeschrieben: Sie entwickeln sich dynamisch im Laufe der Zeit.

  • Komplexe Systeme sind des Weiteren offene Systeme und befinden sich in ständiger Wechselwirkung mit ihrer Umgebung, indem sie Information verarbeiten und austauschen.

  • Aufgrund ihrer Multidimensionalität ist das Wissen über komplexe Systeme immer begrenzt: Es basiert in der Regel auf Modellen oder Abstraktionen von diesen und reduziert damit zwangsläufig die Fülle der im System vorhandenen Information. Wird ein komplexes System daher auf verschiedene Arten beschrieben, so wird in jeder dieser Beschreibungen das System auf unterschiedliche Weise aufgeschlüsselt. Die daraus resultierenden Erkenntnisse sind immer abhängig von der Perspektive, aus der die Beschreibung erstellt wurde.[9]

2.2 Übersicht Relationale Raumtheorie

Bis ins 20. Jahrhundert dominierten vor allem euklidische Raumvorstellungen, die davon ausgingen, dass sich Körper und Objekte analog zu einem Koordinatensystem in einem statischen, leeren Container befinden, in dem sich Handlungen unabhängig vom Raum abspielen. Die Entdeckung von nicht-euklidischen Geometrien in der Mathematik oder der Allgemeinen Relativitätstheorie in der Physik lösten dann aber eine breite Revision von Raumvorstellungen aus, die über Naturwissenschaften, Philosophie und Künste schließlich auch die Sozialwissenschaften erreichte. Unter dem Einfluss von beschleunigter Globalisierung und elektronischer Mediatisierung wurde Raum mit dem Spatial Turn in den 1980er-Jahren schließlich als etwas Dynamisches und sozial Produziertes verstanden. Damit rückten die Beziehungen zwischen den räumlichen Entitäten stärker in den Fokus.

Die Relationale Raumtheorie kann als eine aktuelle Manifestation dieser Entwicklung gesehen werden. Sie befasst sich mit der Untersuchung der sozialen und kulturellen Bedeutung von Räumen und wie diese durch soziale Beziehungen und Interaktionen geformt werden. Das von der Raumsoziologin Martina Löw geprägte Konzept geht davon aus, dass der spezifische Kontext die jeweilige Raumproduktion prädeterminiert. So verschiebt sich das Verständnis von Raum als starrer Behälter hin zum Raum als „socially produced manifolds“[10]. Nach der Relationalen Raumtheorie intervenieren Akteure, Objekte oder Technologien im Raum und verändern dessen materielle oder symbolische Konfiguration. Gleichzeitig schränken diese Konfigurationen als räumliche Dispositive potenziell nachfolgende Interventionen ein.[11] Handlungen sind nicht vom Raum losgelöst, sondern werden von ihm bedingt und produzieren ihn mit, wodurch die auf Interaktion basierende Handlungsmacht der räumlichen Akteure besondere Beachtung findet. Damit betont die Theorie auch die dynamischen und kontextabhängigen Eigenschaften von Raum. Sie erkennt an, dass räumliche Beziehungen auf kulturelle, soziale und subjektive Faktoren beruhen können, was zu unterschiedlichen Verständnissen und Interpretationen von Räumen führt.

2.3 Zusammenführung: Komplexe räumliche Systeme

In dem hier vorgeschlagenen Ansatz fungiert die Systemtheorie als Schnittstelle. Hat sich die Komplexitätstheorie ursprünglich innerhalb von Mathematik und Informatik entwickelt, so wurden diese Felder doch schnell hinter sich gelassen und deren Konzepte über die Systemtheorie breiter rezipiert. Die Relationale Raumtheorie kam sozusagen von der anderen Seite und hat machte es erst möglich, Räume auch unter den Gesichtspunkten der Systemtheorie zu erfassen, indem Raumproduktion als agentenbasierter Prozess definiert wurde. Damit wurden die Voraussetzungen geschaffen, dass Räume nun hinsichtlich ihrer inhärenten Komplexität untersucht werden können. Beide Theorien, sowohl die Relationale Raumtheorie als auch die Theorie komplexer Systeme, schaffen Zugänge und Verständnis für Phänomene, die sich mit absolutistischen, starren oder reduktionistischen Strukturprinzipien nur schwer erklären lassen. Egal ob die jeweiligen Untersuchungsgegenstände Raum oder System genannt werden, auf formaler Ebene beruhen beide auf agentenbasierter Interaktion und nichtlinearer Rekursivität. Räumliche Komplexität entsteht dann, wenn Interaktionen in einem räumlichen System in hoher Quantität und Heterogenität auftreten. Durch die digitale Transformation und der damit einhergehenden hybrid-räumlichen Verwobenheit sind diese Bedingungen zunehmend gegeben und führen damit auch zu komplexer werdenden Räumen.

Durch diese (nur skizzenhafte) begriffliche Annäherung sollen unter dem Arbeitsbegriff der komplexen räumlichen Systeme einerseits Synergieeffekte entstehen, um beide Komponenten und deren Schnittmenge klarer zu untersuchen. Andererseits soll damit aber auch ein Verständnis darüber geschaffen werden, mit welchen gestalterischen Parameter das Auftreten von Komplexität in Räumen gezielt generiert werden kann.

Als Zusammenführung ließen sich die Merkmale von komplexen räumlichen Systemen folgendermaßen synthetisieren:

  • Die Akteure/Entitäten eines komplexen räumlichen Systems interagieren untereinander und verursachen materielle und symbolische Veränderungen innerhalb dieses Netzwerks von Beziehungen. Diese Veränderungen lösen nichtlineare Rückkopplungen aus, die wiederum die räumliche Aktivität der Akteure im System rekursiv beeinflussen.

  • Komplexes räumliches Verhalten von Systemen entsteht durch nichtlineare Muster in der Interaktion. Diese räumliche Emergenz ist nicht vollständig prognostizierbar. Durch die Funktion des Raums als Medium werden indirekte und damit nichtlineare Effekte verstärkt.

  • Der Multidimensionalität komplexer Räume kann sich nur durch eine Multiplizität der partikularen Perspektiven angenähert werden. Verschiedene Beschreibungen können zutreffend sein, auch wenn sie nicht übereinstimmen. Eine absolute Perspektive ist theoretisch möglich, erfordert aber sehr hohe Verarbeitungsleistungen, um die Reduktion der im System enthaltenen Information zu vermeiden.

  • Komplexe räumliche Systeme verfügen über eine Historizität und verändern sich dynamisch über eine Zeitachse. Der momentane Zustand determiniert die potenziell Darauffolgenden.

  • Als offene Systeme befinden sie sich in ständiger Wechselwirkung mit anderen Räumen in ihrer Umgebung, indem sie Informationen oder Materie austauschen und verarbeiten.

2.4 Die Bedeutung komplexer Räume für die Wissensproduktion

Warum aber sollen Räume überhaupt komplexes Verhalten ausbilden? Am Beispiel von Bildungsräumen – und besonders an dem von Bibliotheken – lässt sich dieser Punkt in prägnanter Weise verdeutlichen. In Analogie zur Durchsetzung vernetzter Strukturprinzipien muss jedoch von einem aktualisierten Verständnis von Wissensproduktion und -organisation ausgegangen werden. Von einem Verständnis, nach dem Wissen in einem komplexen System von Interaktion konstituiert wird: „Knowledge comes to be in a dynamic network of interactions, a network that does not have distinctive borders.“[12] Damit geht einher, dass auch epistemische Zusammenhänge vermehrt in komplexen und inhaltlich offenen Zusammenhängen entstehen, die sich einer eindeutigen disziplinären Zuordnung verweigern.

Unter dem Schlagwort der „wicked problems“ zeichnet sich analog dazu ein generelles Bewusstsein für die verwobene und intersektionelle Natur von Daten-, Informations- oder Wissenskontexten ab. Komplexe Themen erfordern einen integrativen Ansatz, der als Ergänzung zur fachlichen Spezialisierung fungiert und in verschiedene Disziplinen verstreut Forschung verbinden kann.[13] Tatsächlich ist die fachübergreifende Zusammenarbeit in der Wissenschaft inzwischen zum Status Quo geworden. Inter- oder Transdisziplinarität sind regelrecht zu Buzzwords aufgestiegen, die in keinem wissenschaftlichen Projektpapier mehr fehlen dürfen. Die akademische Praxis scheint bereits die Tendenz zu bestätigen, dass sich aktuelle Wissensproduktion in einem Bewusstsein der vernetzten, epistemischen Relationalität abspielt. Mit ihren tradierten Mitteln kann die gegenwärtige bibliothekarische Praxis diesen Umstand jedoch nicht akkurat abbilden. Wenn Reduktionismen vermieden werden sollen, dann verlangen komplexe Wissensbezüge nach entsprechend komplexen Repräsentationsräumen. Darüber hinaus besagt eine Abwandlung desselben Arguments, dass Bibliotheks- oder Bildungsräume a priori über Komplexität verfügen müssen, wenn sie nachfolgend dabei helfen sollen, komplexe Wissenskonstellationen zu erzeugen. Sie bilden die räumlich-epistemischen Voraussetzungen für das Gelingen transdisziplinärer Multiperspektivität. Sicherlich müssen nicht alle Räume auch komplexe Räume sein. Heutige Bildungsräume sollten aber über eine hohe Sensibilisierung darüber verfügen, dass Wirklichkeit in ihrer Komplexität wahrgenommen und auch gestaltet werden kann. Bibliotheken sollten hochperformante räumliche Systeme sein, die als sozio-technologische Infrastrukturen die Komplexität heutiger epistemischer Realitäten widerspiegeln.

Des Weiteren kann, indem Komplexität als räumliche Rahmenbedingung in Wissens- und Bildungsräume inkorporiert wird, das Auftreten von Kreativität als „systemic, distributed, networked process“[14] gezielt gefördert werden. Transdisziplinäre Komplexitätsansätze unterstützen im Sinne einer Multiperspektivität die Verknüpfung und Kontextualisierung von Wissen aus unterschiedlichen Quellen. Dadurch entstehen relationale Wissens-Freiräume, denen nicht durch bereits erlernte und wiederholbare Anwendungen von Wissen begegnet werden kann, sondern die unkonventionelle Lösungsstrategien, partnerschaftliche Kooperation und Ambiguitätstoleranz erfordern.[15] Diese Unbestimmtheit und Offenheit setzt aber die Möglichkeit der undeterminierten Aneignung von Räumen und das spontane Entstehen kommunikativer Handlungen voraus.

3 Der komplexe und hybride Bibliotheksraum: Ein spekulativer Entwurfsansatz

An dieser Stelle soll die Denkrichtung nun umgekehrt werden und im Folgenden eine architektonische bzw. konkret-räumliche Perspektive eingenommen werden, um der bereits aufgeworfenen Frage nachzugehen, durch welche Faktoren komplexe räumliche Systeme auch erzeugt werden können. Anhand des Beispiels Bibliothek soll gezeigt werden, wie Nutzer*innen und Architektur integrale Bestandteile eines dynamischen, nichtlinearen und auf Interaktion basierenden Systems werden könnten, das in der Konsequenz komplexes Verhalten entfalten kann.

Bibliotheken sind dabei in besonders anschaulicher Weise von einer dualen Organisation geprägt. Auf der materiellen Oberfläche werden konkret-räumliche Elemente und Körper, wie Decken, Wände, Türen, Tische, Kabel oder auch Personen etc. organisiert. Diese Struktur ist aber von einer abstrakt-räumlichen Ebene durchdrungen, auf der vor allem Wissen und Information organisiert wird – die Ebene der Systematik. Diese letztere ist auch die strukturelle Basis für alle weiteren räumlichen Schichten und soll daher Ausgangspunkt der Betrachtung sein. Grundlegend für die Entstehung von komplexen räumlichen Systemen ist, wie bereits erwähnt, die dezentrale Interaktion der Entitäten. Die räumlichen Verhältnisse sollten deshalb so gestaltet sein, dass kommunikative Verbindungen und Wechselwirkungen auf allen Ebenen mit hohen Freiheitsgraden realisiert werden können. Dieses Primat der Interaktion würde für die Organisationsprinzipien der Bibliothek eine nicht unerhebliche Veränderung ihrer Funktionsweisen bedeuten, auf die nun eingegangen werden soll. Die folgenden Ausführungen zielen dabei auf die konzeptionellen Vorstellungen ab, die mit Bibliotheken verbunden sind. Auch wenn sich der praktische Bibliotheksalltag nie in Reinform nach ihnen gestaltet, so sind sie doch als normative Leitideen für die Planung und Nutzung von Bibliotheken anzusehen.

Gängige bibliothekarische Systematiken ordnen als Klassifikationsverfahren eingehende Wissensmedien (primär Texte) in eine bestehende statisch-lineare Struktur. Das bedeutet, dass binäre Entweder-Oder-Zuteilungen vorgenommen werden: Wissensentität A entspricht entweder Container 1 oder Container 2. Zwar können auch mehrere Container aufgeführt werden. Diese Mehrfachnennung stellt aber das Prinzip von eindeutiger Zugehörigkeit und Ausschluss nicht infrage. Aufbauend auf dieser binären Logik ergibt sich eine eindimensionale – und damit zwangsweise lineare – Struktur von Ober- und Unterbegriffen, die dann alle möglichen Positionierungen der Entitäten vorgibt. Die inhaltliche bzw. thematische Zuordnung ist dabei kontingent. Etablierte Bibliotheksklassifikationen (wie die DDC oder auch die RVK) fungieren in diesem Sinne als reduktionistische epistemische Rahmungen. Information wird durch sie hierarchisch-linear nach wenigen Parametern prozessiert und in eine starre, für sich immer schon existierende Struktur eingeteilt. Interaktivität ist grundsätzlich unterbunden. Vielmehr obliegt das Hinzufügen neuer Systemstellen ganz im Gegenteil nur zentralen Gremien, die in regelmäßigen Abständen aktualisierte Versionen der Klassifikationen allen Empfängern zur Verfügung stellen.

Die gleiche Feststellung lässt sich auch auf die materielle Ebene übertragen: Lesesäle sind sehr einheitliche und statische Räume, denen gleichsam eine scheinbar universale Ewigkeit eingeschrieben ist. Auch hier wird Interaktion zwischen den Nutzer*innen über autoritäre Verhaltensregeln restriktiv eingeschränkt, welche dementsprechend nur auf einen einzigen Modus des Arbeitens abzielen: der stillen und individualisierten Textarbeit. Funktionsanordnungen sind tendenziell linear angeordnet, was determinierte, repetitive Bewegungsmuster und Nutzungsweisen zur Folge hat. Innerhalb des informationsverarbeitenden Systems Bibliothek bleiben die Komponenten weitgehend isoliert und verfügen nur über sehr geringe Freiheitsgrade. In seiner Gesamtheit ist es demnach darauf ausgelegt, Komplexität – sei sie epistemisch, räumlich oder sozial – durch reduktionistische Maßnahmen und analytisch-deduktive Strukturprinzipien regelrecht zu unterbinden.

Diese etablierten bibliothekarischen Mechanismen stehen im Gegensatz zur dynamischen und nicht prognostizierbaren Organisation komplexer Räume. Es ließen sich aber alternative Ordnungen entwerfen, in denen Information, Architektur und User*innen als relationale Bestandteile eines räumlich komplexen Systems interagieren. Voraussetzung dafür ist aber eine architektonische Struktur, die dezentrale Interaktionen und infolgedessen nichtlineares, emergentes Verhalten ermöglicht. Die folgende spekulative Skizzierung nimmt dabei wesentliche Aspekte auf, die bereits in dem Beitrag „Ideathek: Eine Plattform für Wissen“ desselben Autors im vorausgegangenen Heft dieser Zeitschrift erschienen sind.[16] In Ergänzung dazu soll nun dezidiert auf die hier diskutierten Aspekte von komplexen räumlichen Systemen eingegangen werden.

3.1 KI-basierte Wissensorganisation

Die drastisch gestiegene Leistungsfähigkeit der Datenverarbeitung durch Hard- und Softwaresysteme erlaubt es heute, Wissensinhalte in ihrer Gesamtheit zu analysieren. Für den Fall von Text-Publikationen resultiert daraus, dass diese nicht auf wenige Schlagworte oder Oberbegriffe reduziert werden müssten, sondern dass der gesamte Text mit einer hohen Anzahl von Parametern inspiziert werden kann. Alle so behandelten Textelemente einer Datenbank könnten demnach zu einer Struktur in einem hochdimensionalen, abstrakt-mathematischen Raum ausgegeben werden. Die Nachbarschaftsbeziehungen in diesem Raum ergeben sich rein aus den Ähnlichkeiten zwischen den Elementen, nicht aus bereits vordefinierten und kontingenten Containern. Fügt man ein Element hinzu, berechnet sich das gesamte System neu, es ergibt sich eine dementsprechend neue Form. Die Gesamtheit der vernetzten Lokalbeziehungen bestimmen in diesem Bottom-Up-Prinzip also erst die Gestalt der Makroebene. Die entstehende Netzwerkstruktur ist dabei transdisziplinär, weil sie keine binären Unterscheidungen vornimmt, sondern nur graduelle Ähnlichkeiten feststellt. Sie könnte in einem weiteren Schritt auch transmedial sein, indem auf der homogenen digitalen Infrastruktur neben Texten auch Bilder, Videos, Sounds und andere Datenformate prozessiert werden. Darüber hinaus wäre es möglich, dass die User*innen der Bibliothekscommunity selbst über Personenprofile und Aktivitätsverläufe in die algorithmische Auswertung einbezogen werden. Es entsteht ein computergeneriertes Beziehungsgeflecht, das durch thematische Analyse nicht nur Wissen, Informationen und Daten (in all ihren medialen Ausprägungen), sondern auch Personen in einer relationalen Struktur zusammenbringt. Dabei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der so entstehende virtuelle Raum schon aufgrund der hohen Zahl von Untersuchungsparametern in seiner Gesamtheit für die menschliche Anschauung nicht unmittelbar zugänglich ist.

In diesem ruhenden Zustand ist das informationsverarbeitende System aber vorerst noch nicht komplex. Komplexität entwickelt sich erst durch einen weiteren Aspekt: die dezentrale Interaktion der handelnden Entitäten. Dadurch, dass User*innen auf das Wissenssystem zugreifen, die Elemente kombinieren und im Prozess selbst wider Wissen herstellen, werden sie selbst zu aktiven Teilen des nun dynamischen Systems. Nichtlinearität entsteht deshalb, da hochgeladene Inhalte durch die Community in Autonomie rezipiert, kommentiert und schließlich in neuen Inhalten referenziert werden. In diesem Sinne ist auch eine Relationalität gegeben: Benutzer*innen fügen dem Wissensnetzwerk Elemente hinzu, verändern dadurch dessen Konfiguration und schaffen eine modifizierte Ausgangsposition für darauffolgende Handlungen.

Die ursprünglich Papier-basierten Methodiken der Informations- und Wissensorganisation werden von zeitgenössischen Technologien der künstlichen Intelligenz abgelöst. Beide Varianten dienen der Prozessierung von Daten und leisten damit die notwendige Mediation zwischen Nutzer*innen und Datenbank. Letztere verfügt jedoch über gänzlich andere Voraussetzungen, indem sie zwischen allen Bestandteilen des Systems – zwischen Mensch, Medium und Information – „mehrdimensionale Input-Output-Relation[en]“[17] herstellen und diese im virtuellen Raum der Berechnung zusammenbringen kann. Dies betrifft die Integration neuer Daten in das Netzwerk, andererseits aber auch den Zugang zum komplexen Raum für die Benutzer*innen. Dieser letztere Punkt ist dabei nicht trivial. Komplexe Systeme lassen sich mit konventionellen Mitteln nur darstellen, wenn die großflächige Reduktion des inhärenten Relationenreichtums in Kauf genommen wird. Wie oben unter dem Stichwort der Mutlidimensionalität bereits angedeutet, bedarf es daher einer anderen Herangehensweise, die auf einer Multiplizität der Beschreibungen beruht.

Dies könnte durch eine Suchfunktion erreicht werden, die je nach Suchanfrage nicht einen Ausschnitt des Systems, sondern eine spezifische Zusammensetzung bzw. Konstellation des virtuellen Systems ausgibt. Je höher die Übereinstimmung zur Anfrage, desto näher wird ein Element dazu vom Algorithmus positioniert. Im topologischen Zentrum entsteht eine Agglomeration mit hoher inhaltlicher Dichte in Bezug auf die ursprüngliche Suche. Jede sich so ergebende Konfiguration entspricht dabei einem singulären, situativen Blickwinkel auf das hochdimensionale Gesamtsystem. Ähnlich zur Funktion von Internet-Suchmaschinen werden dieselben Elemente je nach Suche auch in unterschiedlichen Kontexten bzw. Perspektiven vorhanden sein – mal mehr nach vorne, mal mehr nach hinten gefiltert. Analog zur Beschreibung von räumlich komplexen Systemen besitzt jede der Beschreibungen individuelle Kohärenz und Aussagekraft. Zwischen den einzelnen Konstellationen können aber simultane Mehrdeutigkeiten, wenn nicht sogar Widersprüchlichkeiten auftreten. Diese weisen aber auf die Reichhaltigkeit eines komplexen Systems hin, nicht notwendigerweise auf dessen Unzulänglichkeit oder Dysfunktionalität. Dem vollständigen Informationsgehalt des hochdimensionalen Systems kann sich demnach nur über die Summe der partikularen Beschreibungen angenähert werden. Die existierende Komplexität wird somit nicht reduziert, sondern in multiple Konstellationen distribuiert.

3.2 Kollaboration im hybriden Arbeitsraum

Beschränkte sich das räumlich-komplexe System bis zu diesem Punkt der Ausführung auf den virtuellen Raum der Wissens- und Informationsorganisation, so soll im nächsten Schritt auch der physische Bibliotheksraum einbezogen werden. Soll es zwischen den Ebenen dabei nicht zum Bruch kommen, muss der physische Raum die Eigenschaften und Funktionsweisen des digital-virtuellen Raums aufgreifen und reproduzieren. Die Separierung zwischen physisch und virtuell muss gleichsam aufgegeben werden, um einem Kontinuum Platz zu machen, in dem virtuelle und physische Komponenten wechselwirken und ein hybrides, räumliches System geschaffen wird. Ausgangspunkt dafür ist die oben skizzierte, virtuelle Suchfunktion. User*innen benutzen sie durch digitale Medien vom physischen Raum aus und erhalten eine partikulare Konstellation des digitalen Informationsraums. In diesem sind Wissensentitäten, Informationen, Daten, aber auch Personenprofile konzentriert, die alle eine hohe Übereinstimmung zum Suchauftrag besitzen. Der Bibliotheksraum könnte dementsprechend als Ort fungieren, in dem die vorerst nur virtuellen Konstellationen in den physischen Raum übertragen bzw. erweitert werden. Die Mitglieder der Community nutzen den Raum, um dort mit allen zur Verfügung stehenden Wissensträgern (elektronische oder analoge Medien, andere Personen) zu interagieren. Beide medialen Ebenen informieren und bedingen sich gegenseitig. Algorithmen und KI bilden die berechnenden und prozessierenden Schnittstellen.

Innerhalb eines ehemaligen Lesesaals entsteht dadurch auch ein neuer Modus des Arbeitens, der auf vernetzter, kollektiver und informeller Interaktion – also Kollaboration – beruht. Das Spektrum der möglichen Aktivitäten erweitert sich vom Lesen und Schreiben von Texten, über das Betrachten von Bildern oder Videos, dem Hören von Musik oder Podcasts, über Faktenchecks, Programmieren oder Datenanalyse, bis hin zum kommunikativen Aushandeln der rezipierten Inhalte und dem Konzipieren neuer multimedialer Inhalte, die wiederum zum nächsten Bestandteil des epistemischen Systems werden. Die Nutzer*innen kommen in den physischen und virtuellen Räumen der Bibliothek zusammen, um dort kollektive Recherche- und Austauschformate zu initiieren, transdisziplinäre Forschungsprojekte zu konzipieren und durchzuführen oder um informelle Interessenskontexte zu bilden.

Um im virtuellen Raum zu kommunizieren und kollaborativ zu arbeiten, kann bereits auf eine Vielzahl bestehender Services und Plattformen zurückgegriffen werden, die von den sozio-epistemischen Teams je nach ihren spezifischen Anforderungen kombiniert und angepasst werden können: Man denke an Gruppenchats, Wikis, Dienste zur gemeinsamen Nutzung von Daten etc. Simultan zu dieser sehr flexiblen und intuitiven Nutzung von Online-Räumen, muss der physische Raum, das dynamische Zusammenkommen von Nutzer*innen, Daten, Information und Wissensinhalten ebenso ermöglichen. In der Regel erfüllen Bibliotheksräume diese Anforderung nicht, da sie auf der Logik einer hierarchischen und linearen Nutzung basieren. Soll dieser Punkt aber berücksichtigt werden, muss auch hier das Prinzip der Interaktivität Anwendung finden. Im Gegensatz zur ruhenden Ordnung des klassischen Lesesaals steht es den User*innen in dieser architektonischen Konzeption daher frei, räumliche Elemente wie Tische, Stühle, Raumteiler, elektronische Geräte (und sich selbst) zu spezifischen Konstellationen anzuordnen. Die Elemente sind mobil und modular gestaltet. Dementsprechend können sie je nach kollektiven oder individuellen Bedürfnissen schnell und einfach zu verschiedensten Kombinationen arrangiert werden. Es herrscht folglich ein Defizit an räumlicher Determination vor – ein Möglichkeitsraum, der sprichwörtlich Platz für die Aktivität der Benutzer*innen schafft und der von ihnen durch materielle und symbolische Interventionen selbstbestimmt gestaltet werden kann. Durch das situative Zusammenfinden von Menschen, Medien und Informationen entsteht für jede der Konstellationen eine Konzentration von kommunikativen Handlungen und Inhalten. Eine Multiplizität dieser Sub-Systeme läuft dabei innerhalb des Bibliotheksraums simultan ab – ein heterogenes Nebeneinander von unterschiedlichen thematischen Fokussierungen, Blickwinkeln, Vorhaben und Intentionen. Sie definieren das komplexe Mikrolevel des Gesamtsystems. Der Bibliotheksraum wird dadurch zur „Netzwerkagentur“,[18] indem sich eine Vielzahl solcher „Filterblasen“ formen, punktuell verdichten, verstreuen oder vergehen.

Mit dem Verständnis der Relationalen Raumtheorie verändern die Nutzer*innen durch ihre Interventionen die räumliche Zusammensetzung auf beiden Ebenen des nun hybriden Bibliotheksraums und schaffen dadurch kontinuierlich neue Bedingungen für ihr eigenes Handeln. Durch diese rekursive Schleife sind so auch die Voraussetzungen für nichtlineare Effekte gegeben. Besteht eine kritische Menge dieser vernetzten Interaktionen, kann das System damit auch auf Makroebene emergentes Verhalten realisieren. Man denke etwa an das spontane, lokale Entstehen von thematischen Konzentrationen und deren performative, allgemeine Durchsetzung innerhalb der Community. Demnach könnten sozio-epistemische Konvergenzen zur Abhaltung von Kollektivereignissen oder ähnlichem führen. Komplexe Systeme lassen sich nicht vollständig simulieren oder prognostizieren. Um diesem Umstand aber entgegenzukommen und zu begünstigen, könnten für bestimmte Bereiche der Bibliothek eine Community-basierte Kuration von Programmen und Formaten vorgesehen werden. Bereiche, in denen sich ohne räumlich-programmatische Vorgaben auch bibliotheksweite Happenings realisieren lassen. Es sollte auch das programmatische Ziel der Gestaltung sein, fließende, funktionale Kontinua zu erzeugen, in denen User*innen informelle, nichtlineare Funktionsabfolgen durchführen können. Außerdem sollte bereits eine möglichst große Bandbreite räumlicher Situationen angeboten werden, die diverse Modi des Arbeitens bzw. der Aktivität ermöglichen: von dynamischen Kollaborationsflächen, über Zonen der zurückgezogenen Einzelarbeit (so wie man sie aus heutigen Bibliotheken kennt), bin hin zu Bereichen der Regeneration und Zerstreuung.

4 Offenheit und Open Science

Für den Bibliotheksraum bedeutet die hier ausgeführte Konzeption eines digital durchdrungenen Raumes der Kollaboration eine Öffnung in multipler Hinsicht. Die inhärente Tendenz digitaler Medien zu Vernetzung und Interaktivität verlässt regelrecht ihre Bindung an Bildschirme und expandiert in die umliegenden Räume. Dies erfordert aber ein erweitertes Verständnis von räumlicher Gestaltungspraxis, in der Architektur interdisziplinäre Koalitionen mit anderen (Design-)Disziplinen eingeht, vom Interface oder User Experience Design bis hin zu vermeintlich fremden Bereichen wie der Informatik.

Durch die Schaffung eines räumlich komplexen Systems ließen sich zudem die Prinzipien von Open Science in einer Konsequenz realisieren, wie sie von bestehenden Bibliotheksordnungen nicht umgesetzt werden können. Offener Zugang und dezentraler Transfer von Daten, Informationen, Wissen, Methoden etc. sind geradezu grundlegende Funktionsweisen des hier ausgeführten Raumkonzepts.

  • Offener Zugang zu Daten und die Möglichkeit zur offenen Publikation sind zwei Ableitungen desselben Gedankens. Im vernetzten Zustand eines Informations- und Wissenssystems kann Aktivität nicht mehr in Rezeption und Produktion separiert werden, sondern bilden eine Einheit. Digitale Medien bieten die Möglichkeit zu Vernetzung und hoher Zugänglichkeit. Offene Repositorien werden dafür aber zur infrastrukturellen Voraussetzung.

  • Offene Kollaboration: Dehnt man diese Logik des ungehinderten Transfers weiter aus, erfasst sie schließlich auch die Nutzer*innen innerhalb des Systems. Als menschliche Wissensträger werden nun auch sie in den Austausch einbezogen. Die Limitierung auf individualisierte Formen der Rezeption und Produktion weicht sich auf und ermöglicht kollektivere Aktivitätsformen. Der vorgeschlagene Arbeitsmodus der hybriden und informellen Kollaboration ist eine klare Anerkennung der Nutzer*innen als wissen- und raumschaffende Akteure.

  • Offene Methoden: Basierend auf der undeterminierten Kollaboration der Entitäten ist dem komplexem Bibliotheksraum eine grundlegend transdisziplinäre Ausrichtung eingeschrieben. Dessen Multidimensionalität erfordert nicht nur den Austausch, sondern auch die Aushandlung von Inhalten, Blickwinkeln oder Methoden.

Komplexe räumliche Systeme sind per definitionem auch offene System und stehen damit in besonderer Verbindung zu ihrer Umgebung. Dieser Umstand deutet darauf hin, dass in einem nächsten Schritt die Bewegung der hybrid-räumlichen Vernetzung und Dezentralisierung auch auf größerem Maßstab weitergedacht werden könnte. Die virtuelle Hybridisierung von Räumen stellt die Begrenzung der Bibliothek auf ihre physischen Mauern immer radikaler infrage und bietet gleichzeitig aber einen Ausblick auf weitere mögliche Funktionen. Beispielsweise könnten temporäre und projektbezogene Dependancen in der virtuellen oder urbanen Umgebung eröffnet werden, die Kompetenzen der bibliothekarischen Praxis in neue, bisher externe Bereiche zur Anwendung bringt. Dadurch würden sich auch weiterführende Forschungsfragen und ein erweiterter Anforderungskatalog für die Praxis selbst ergeben.

5 Fazit

Im Sinne der hier skizzierten Reformulierung verwirklicht sich der Bibliotheksraum als räumlich komplexes System. Eine Informations- und Wissensökologie entsteht, in der eine „Vielfalt humaner und nicht humaner Akteure und Kräfte [zusammenwirken]“.[19] Die mediatisierte Architektur schafft als Interface-Technologie dafür aber erst die notwendigen Voraussetzungen und wird zu einer „Folge von Zustandsänderungen“[20]. Über das Primat der Interaktivität auf allen räumlichen Ebenen treten User*innen als wissen- und raumschaffende Akteure in den Vordergrund. Daten-, Informations- und Wissensräume entfalten sich in ihrer Multidimensionalität und können in dieser aber auch zugänglich und produktiv gemacht werden. Komplexität bedeutet unter diesen Umständen nicht die beängstigende und überbordende Fülle von Informationen, sondern im Gegenteil die Anerkennung und Affirmation des relationalen Facettenreichtums der Wirklichkeit. Bibliotheken und Bildungsräume sehen sich heute aufgrund des rasanten technologischen und gesellschaftlichen Wandels mit neuen Prämissen konfrontiert, um epistemische Kontexte angemessen zu (re)produzieren. Den komplexen, miteinander verwobenen Wissenskonstellationen des 21. Jahrhunderts kann nur in multidimensionalen, sozio-technologischen Kollaborationen begegnet werden. Diese bringen aber – wie dieser Beitrag gezeigt haben soll – ein verändertes Verständnis von Wissensräumen mit sich.

Über den Autor / die Autorin

Johannes Pointner

Johannes Pointner

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Online erschienen: 2023-08-05
Erschienen im Druck: 2023-08-24

© 2023 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

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