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Eine Frage der Perspektive? Ein Abgleich der Erwartungen von Studierenden, Disziplin und Profession an bibliotheks- und informationswissenschaftliche Studiengänge

  • Ulla Wimmer

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    and Maria Gäde

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Published/Copyright: December 2, 2022

Zusammenfassung

„Welche Kompetenzen und Qualifikationen sollen Absolvent*innen der LIS-Studiengänge mitbringen?“ Diese oder ähnliche Fragen werde in der Regel aus zwei Perspektiven betrachtet, nämlich der bibliothekarischen Profession und der Fachdisziplin. In diesem Beitrag möchten wir eine dritte Perspektive ergänzen, die aus unserer Sicht für die Ausrichtung und Weiterentwicklung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Studiengänge von besonderer Relevanz ist: die Perspektive der Bewerber*innen, Studierenden und Absolvent*innen.

Abstract

“What competencies and qualifications should a graduate of LIS programs have?” These or similar questions are usually considered from two perspectives, namely the library profession and the discipline. In this article, we would like to add a third perspective, which we believe is particularly relevant for the orientation and further development of library and information science programs: the perspective of applicants, students, and graduates.

1 Einleitung

Der Diskurs über Berufsbild, Ausbildung und Kompetenzprofile von Absolvent*innen der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Studiengänge wird kontinuierlich geführt und in der Regel aus zwei Perspektiven gespeist: aus der Perspektive der bibliothekarischen Profession, d. h. der Menschen, die in Bibliotheken arbeiten und sie ggf. auch leiten, und zum anderen aus der Perspektive der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Fachdisziplin, d. h. der Hochschulinstitute und ihrer Mitarbeiter*innen, die sich dabei auf ihren Austausch mit den Gedächtniseinrichtungen, auf die Library and Information Science (LIS)-Forschungscommunity und auf die eigenen fachlichen Schwerpunkte beziehen. Auch das Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin hat mehrfach die Ausrichtung und Entwicklung seiner Studiengänge beschrieben.[1]

Den vorliegenden Beitrag möchten wir um eine dritte Perspektive ergänzen: die Perspektive der Bewerber*innen, Studierenden und Absolvent*innen. Welche Motivation bewegt sie zum Studium? Was erwarten sie, welche berufsstrategischen Überlegungen treiben sie an, was hält sie bei der Stange? Wonach entscheiden sie im Laufe des Studiums, welche berufliche Richtung sie einschlagen möchten. Was schätzen sie als besonders relevant ein, was vermissen sie (rückblickend)?[2]

Aus unserer Sicht bietet diese dritte Perspektive wichtige Hinweise und Impulse für die Weiterentwicklung der Studiengänge sowie den Abgleich von Erwartungen von Absolvent*innen und Institutionen beim Übergang vom Studium in die berufliche Tätigkeit. Die Basis für unsere Einschätzungen bilden unsere Tätigkeit als Studienberaterinnen der Direkt- und Weiterbildungsstudiengänge sowie Studierendenbefragungen und Verbleibstudien. Dadurch soll ein möglichst ausgewogenes Bild der aktuellen Situation gezeichnet werden.

2 Die Perspektive der Studierenden

Selbstverständlich gibt es, wie so oft, nicht die eine Perspektive der Studierenden, die für alle Personen und Situationen zutrifft. Dennoch konnten wir in der Vergangenheit bestimmte Trends und Auffälligkeiten beobachten, die im Folgenden auf ihre Relevanz für den theoretischen und praktischen Teil des Studiums untersucht werden sollen.

2.1 Bachelor „Bibliotheks- und Informationswissenschaft“

Bachelorbewerber*innen ohne vorherige Berufserfahrung haben häufig ein romantisiertes Bild des Studienfaches, welches stark von der eigenen Bibliothekserfahrung zumeist in Öffentlichen Bibliotheken geprägt ist. Sie bringen eine positive Grundhaltung gegenüber Bibliotheken mit, welche naturgemäß überwiegend von ihrer Nutzungsperspektive geprägt ist, also von intensiver, selbstbestimmter Mediennutzung an einem angenehmen Aufenthaltsort. Hier geht es in den ersten Semestern zunächst darum, die ganze (bisher nicht wahrgenommene) Breite des Themen- und Tätigkeitsspektrums aufzufächern, dabei aber auch Vorstellungen und fachliche Inhalte behutsam anzugleichen. Nicht wenige sind von den technischen Elementen und Forschungsfragen des Studiums zunächst überrascht, nehmen aber dann die Vielfalt und Offenheit des Studiums gerne auf, das Grundlagen und Problemlösungskompetenz für vielerlei Aufgaben und Tätigkeitsbereiche vermittelt. Eine ähnliche Überraschung und Öffnung ist im Übrigen auch bei Bachelor-Studierenden mit einer vorangegangenen FaMI-Ausbildung zu beobachten, die häufig zunächst eher eine Fortsetzung/Vertiefung der Inhalte aus ihrer Ausbildung erwarten.

Die Studierenden, die den ersten „Realitätsabgleich“ akkommodiert haben, sind dann zumeist dankbar und interessiert an den vielfältigen Kompetenzen und Möglichkeiten, die das Fach vermittelt. Die Fokussierung auf ein konkretes Arbeitsumfeld geschieht dann in der Regel wieder, wenn sie das Gelernte zum ersten Mal in einer Praxis[3] umsetzen können und eine konkrete Arbeitsumgebung nicht als Nutzer*innen sondern als Mitarbeiter*innen erleben. Das ist für die meisten im Praktikum, im Rahmen einer studentischen Tätigkeit oder in einem Projekt- oder Wahlpflichtmodul der Fall. Ganz überwiegend finden diese Erfahrungen im Kontext von Bibliotheken oder anderen Gedächtniseinrichtungen statt. Das heißt, dieser initiale Kontakt mit der Arbeitswelt, die Gestaltung von Praktika, ist damit ein entscheidender Faktor bei der Orientierung auf die zukünftige Stellenwahl.

An der Notwendigkeit des Masterstudiums für die spätere praktische Tätigkeit äußern BA-Studierende der Bibliotheks- und Informationswissenschaft an diesem Punkt häufig Zweifel. Wenige können sich bereits zu diesem Zeitpunkt eine berufliche oder wissenschaftliche Karriere vorstellen, die einen Masterabschluss voraussetzt. Viele äußern den ausdrücklichen Wunsch, praktische Erfahrung zu sammeln und die erworbenen Fähigkeiten einsetzen zu können.

2.2 Master „Information Science“

Hier handelt es sich um einen konsekutiven Masterstudiengang im Direktstudium, d. h. Voraussetzung für die Bewerbung ist ein einschlägiger Bachelorabschluss im Fach LIS oder verwandten Fächern. Die Bewerber*innen auf diesen Studiengang rekrutieren sich aus den Bachelor-Absolvent*innen verschiedener LIS-Institute sowie aus benachbarten Studiengängen wie zum Beispiel Archivwissenschaften, Museumskunde oder Informationsmanagement. Etliche von ihnen kehren nach einigen Jahren der Berufstätigkeit speziell zur Erlangung des Mastergrades an die Hochschule zurück.

Eine große Anzahl der Interessent*innen für diesen Masterstudiengang sind jedoch fachfremd, haben also nicht das erforderliche fachliche Bachelorstudium absolviert, sondern einen Bachelor in einem anderen Fach. Sie werden ebenfalls durch positive Nutzungserfahrungen zur Bewerbung geleitet, hier jedoch mit wissenschaftlichen Bibliotheken oder durch die Arbeit mit großen Datenmengen während des vorherigen Bachelorstudiums. Ihnen bleibt bisher das Studium des konsekutiven Masters verwehrt.

Diese Konstellation führt somit zu einer Schwierigkeit, Master-Studierende aus dem eigenen Fach zu rekrutieren, während gleichzeitig ein beträchtliches Interesse aus anderen Fächern am Master Information Science zu beobachten ist. Die hohe Motivation dieser potenziellen Einsteiger*innen und die mögliche Verknüpfung der Inhalte unseres Faches mit ihrem vorherigen Studienfach bieten jedoch für die Informationswissenschaft ein beträchtliches Potential. Die Bandbreite der Aufgaben im Kontext der digitalen Transformation wird inzwischen durch speziell ausgerichtete Fachgebiete und darauf aufbauende Studiengänge wie den Digital Humanities,[4] Digital History,[5] Computerlinguistik, Science and Technology Studies, Public Health usw. aufgegriffen. Studierende dieser Fachrichtungen bringen häufig bereits relevante Kenntnisse mit. Die Fragen „Welche Studierenden wollen wir ausbilden?“ und „Was müssen Studierende für den Master Information Science mitbringen“ stehen immer häufiger im Raum. Angesichts des beträchtlichen Interesses der Quereinsteiger*innen stellt sich die Frage, ob der Masterstudiengang zwingend konsekutiv sein muss, oder ob es Möglichkeiten gibt, ihn auch für diese Gruppe anschlussfähig zu machen.

2.3 Weiterbildender Masterstudiengang Bibliotheks- und Informationswissenschaft im Fernstudium

Dieser Studiengang ist neben einer bestehenden Berufstätigkeit studierbar. Er setzt kein bibliothekswissenschaftliches Vorwissen voraus, jedoch einen ersten Hochschulabschluss und Berufserfahrung von mindestens einem Jahr. Der deutlich kleinere Teil der Studierenden in diesem Studiengang sind interessanterweise Beschäftigte aus Bibliotheken mit einem ersten LIS-Abschluss, die eine Höherqualifizierung anstreben. Den weitaus größeren Teil bilden auch hier Quereinsteiger*innen aus anderen Fächern mit wenig oder sehr enger, spezifischer Bibliothekserfahrung, z. B. in einem Editionsprojekt. Die Bewerber*innen auf diesen Studiengang sind motiviert durch positive Erfahrungen mit (überwiegend wissenschaftlichen) Bibliotheken, manchmal auch durch den Wunsch nach einem (im Vergleich zur vorher ausgeübten Tätigkeit) „gemeinwohlorientierten“ Beruf, durch die Nähe zur Wissenschaft und gleichzeitig die Aussicht auf einen klar umrissenen Arbeitsmarkt mit langfristiger Beschäftigungsperspektive. Angestrebt werden in der Regel (aber durchaus nicht immer) Stellen im höheren Dienst. D. h. diese Studierenden müssen – im Gegensatz zu vielen Erststudierenden – nicht vom Arbeitsfeld „Bibliothek“ überzeugt werden, sie brauchen nur einen gut moderierten Einstieg in Theorie und Praxis der Bibliotheksarbeit und die Chance, ihren „interdisziplinären“ Blick in Bibliotheken einzusetzen.

Unabhängig vom Studiengang äußern alle Studierenden heute den Wunsch nach ganzheitlichem, projektorientiertem Lernen sowohl in der Lehre als auch in den Praxisanteilen ihrer Ausbildung. Sie möchten mit ihren mitgebrachten Fähigkeiten und Kompetenzen frühzeitig an anspruchsvollen Aufgaben wachsen können, die auch bereits sinnhaft mit den Zielen und Aufgaben der Einrichtungen verbunden sind.[6] Dies sollte als Maßgabe sowohl für das Lernen an der Hochschule als auch für die Gestaltung von Praktika in den Bibliotheken dienen.

Eine Möglichkeit, die Perspektive der Studierenden stärker zu berücksichtigen, stellen regelmäßige Verbleibstudien dar, die sowohl eine Studiengangsbeurteilung als auch den Einfluss des Studiums auf die berufliche Praxis abdecken. Die Ergebnisse dieser Befragungen können dazu beitragen, ein Verständnis für konkrete Bedarfe und die entsprechende Weiterentwicklung und Profilierung von Studiengängen zu begleiten. In der zuletzt am IBI durchgeführten Verbleibstudie zum Direktstudium[7] wurden als wichtigste Fähigkeiten für die Praxis so genannte Soft Skills wie Selbstständiges Arbeiten, Informationskompetenz und Soziale Kompetenzen angegeben. Gleichzeitig wurden Module mit Bezug zu Informationssystemen als hoch relevant für die Arbeit eingeschätzt. Die letzte Verbleibstudie zum Weiterbildenden Masterstudiengang im Fernstudium[8] zeigt, dass Absolvent*innen (hier überwiegend Quereinsteiger*innen) an einer langfristigen Perspektive interessiert sind und für Management-Positionen offener sind als die (deutlich jüngeren) Bachelor-Absolvent*innen.

3 Die Perspektive der Profession

Seitens der Profession steht derzeit häufig der Fachkräftemangel im Fokus. Gesucht werden laut Stellenausschreibungen Bachelor-Absolvent*innen, die möglichst direkt nach dem Abschluss für konkrete Tätigkeiten einsatzfähig sind. Da sich das Bibliotheksfeld aber mittlerweile stark ausdifferenziert hat, gibt es dafür Grenzen: Kein Studium kann heute noch die Vielfalt der Praktiken im Bibliotheksfeld (Systeme, Prozesse, Tätigkeiten, Sparten) auch nur annähernd umfänglich thematisieren oder trainieren. Auffallend ist, dass sich in den letzten Jahren bereits die Auseinandersetzung mit Anforderungen und Kompetenzen an Stellenbewerber*innen diversifiziert hat: Oft ist nicht mehr die „allgemeine“ Bibliotheksstelle der Ausgangspunkt für eine Kompetenzuntersuchung, sondern einzelne Arbeitsfelder wie die Arbeit an Forschungsinformationssystemen[9], Forschungs­datenmanagement oder Informationskompetenz[10]. Auswertungen von allgemeinen und spezifischen Stellenausschreibungen zeigen, dass neben traditionellen Fachkenntnissen vor allem IT-Kenntnisse und Sozialkompetenzen erwartet und gewünscht werden.[11] Dies deckt sich mit den Ergebnissen unserer Verbleibstudie.

Gelegentlich werden zwar auch noch allgemein-fachliche Kompetenzanforderungen formuliert,[12] immer häufiger wird jedoch auch in diesen Diskussionen „die grundsätzliche Frage [gestellt], welche Rolle bei Einstellungen die spezifisch bibliothekarische Qualifikation prinzipiell noch spielt und ob die mittlerweile auf dem bibliothekarischen Arbeitsmarkt erforderlichen ‚neuen‘ Qualifikationen in der gewünschten Passgenauigkeit überhaupt über die gängigen Ausbildungswege vermittelt werden können“.[13] Dies führt tendenziell zur Öffnung des Arbeitsmarkts für Bewerber*innen mit nicht-bibliothekarischen Qualifikationen.[14]

Verbunden damit setzt sich in der Profession die Erkenntnis durch, dass vor dem Hintergrund der sich schnell verändernden technologischen Entwicklungen zu fachspezifisch-konkretes Wissen schnell veraltet und die Bereitschaft und Fähigkeit sich auf neue Systeme und Aufgaben einzustellen im Kontext des lebenslangen Lernens an Bedeutung gewinnt. Dies verweist auf die Bedeutung von Schlüssel- und Selbstkompetenzen sowie der Fähigkeit zur Problemlösung[15] und zur selbständigen Wissensaneignung.[16]

Es zeigt sich also ein breites Spektrum der Stellen und erweiterte Anforderungen an Absolvent*innen. Die Vielfalt der geforderten Fähigkeiten und Kompetenzen erfordern eine Priorisierung von Ausbildungsinhalten. Hier setzen die bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Institute Schwerpunkte auf der Basis ihrer eigenen Kernkompetenzen und Profile.

4 Die Perspektive der Disziplin: Das Profil und die Strategie des IBI

Das IBI steht wie alle bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Institute vor der Herausforderung, mit dem Studienangebot dieses sehr breite Spektrum der Anforderungen aus Berufspraxis und Forschung abzudecken. Das Studienangebot wird regelmäßig überprüft und bei Bedarf angepasst. Dabei lassen sich klare Schwerpunkte am Leitbild des Instituts, der Ausrichtungen der Lehrstühle und Forschungsschwerpunkte ablesen.[17] Das IBI sieht sich als Mitglied der iSchools[18] dabei als Teil der internationalen LIS-Community; deshalb werden die Lehrstühle mit englischen Denominationen bezeichnet. Alle Forschungsschwerpunkte lassen sich einordnen in das Spannungsfeld „Mensch – Information – Technik“: Information Behavior und Information Science (Schwerpunkt Informationskompetenz) fokussieren stärker auf den Faktor Mensch (in seiner Interaktion mit Information und Technik). Für Bibliotheken relevante Kompetenzen sind hier die Vermittlung von Informations- und Datenkompetenz, Methoden der Benutzerforschung und der Nutzerintegration, oder die Arbeit mit vielfältigen Nutzer*innengruppen wie Kindern oder Senior*innen. Aber auch soziologische und ethische Themen bereiten die Studierenden auf die gesellschaftliche Rolle von Bibliotheken und auf die damit verbundenen Herausforderungen vor, denen sie in Ihrer Berufspraxis begegnen werden. Hier wären z. B. die Themen Bias von Algorithmen und Daten, Demokratieförderung, Diversität oder Nachhaltigkeit zu nennen.

Die Forschungsbereiche Information Retrieval und Information Processing and Analytics stellen den technischen Aspekt (und seine Nutzung für die Wissensorganisation) in den Mittelpunkt. Hier geht es einerseits um die von Bibliotheken geforderten Kompetenzen im Bereich der Wissensorganisation, also der Sach- und Facherschließung in ihren klassischen (Thesaurus) und modernen (Ontologien) Erscheinungsformen, um das Suchen und Finden von Information und um das selbständige Sammeln, Verarbeiten und Auswerten großer Datenmengen, d. h. auch von Metadaten.

Der Forschungsbereich Information Management und der 2021 neu hinzugekommene Bereich Wissenschaftsforschung (Science Studies mit dem interdisziplinären Robert-Merton-Zentrum) setzen den klassischen Schwerpunkt fort, den das IBI zeit seines Bestehens auf das Wissenschaftssystem, seinen Publikationskreislauf und seine Infrastruktur gelegt hat. Hier spielen die Themen Open Access und Transformation, Repositorien und (Langzeit-)Archivierung, Forschungsdatenmanagement und Data Curation eine wichtige Rolle. Dazu kommen Fragen der Wissenschaftsevaluation (Bibliometrie, Kerndatensatz Forschung, Indikatorik) und unterschiedlicher Wissenschaftskulturen und z. B. ihrer Haltung z. B. zu Open Access. Diese Fragen sind für die Transformationsprozesse unmittelbar bibliotheksrelevant.

Bibliotheken als konkrete Anwendungsfelder stehen dabei in unterschiedlichem Maß im Mittelpunkt: Im Bachelor-Studiengang sind sie ein wichtiges Anwendungsfeld unter mehreren möglichen Einsatzgebieten der Informationswirtschaft. Im Weiterbildungs-Master Bibliotheks- und Informationswissenschaft bilden sie dagegen den zentralen Bezugspunkt. In diesem Studiengang spielt auch der Management-Aspekt eine zentrale Rolle, während er in den beiden Direktstudiengängen eher „mitläuft“ – bei ihnen legt das IBI den Schwerpunkt auf die informationswissenschaftlich-fachlichen Inhalte. Eine dezidierte Ausrichtung auf die Forschung schlägt sich besonders im Masterstudiengang Information Science nieder, in dem die Studierenden zu eigenständiger Forschung und zu einer wissenschaftlichen Laufbahn befähigt werden sollen. Dadurch unterscheidet sich dieser Studiengang von vielen anderen im LIS-Bereich. Bibliotheken spielen in diesem Studiengang weniger eine Rolle als zu leitende (Service-) Institutionen, sondern als Orte, an dem spezifische Informationsprozesse zwischen Menschen, Technologie und Information stattfinden, die es zu erforschen gilt. Die dabei erworbenen Analyse-, Forschungs-, und Abstraktionsfähigkeiten sind jedoch für jede konzeptionelle Tätigkeit im Informationsbereich relevant, und damit auch für Bibliotheken.

Die Strategie des IBI zur Adressierung der erforderlichen Schlüsselkompetenzen besteht darin, grundlegende Kenntnisse zu vermitteln, die helfen, Strukturen und Funktionsweisen zu erkennen, die in vielen unterschiedlichen Praxissituationen in einer spezifischen Ausprägung vorliegen. Grundlegende Programmierkenntnisse im Pflichtbereich helfen, Problemlagen bei der Arbeit mit (Meta-)Daten und Datenbanken einzuschätzen und IT-Projekte besser begleiten zu können. Vor allem stärken sie aber das Selbstvertrauen und die Handlungsfähigkeit der Absolvent*innen in Bezug auf IT-Probleme und zukünftige Entwicklungen. Sie unterstützen daher das, was seitens der Profession einmal so formuliert wurde: „Wir wünschen uns Mitarbeiter*innen, die keine Angst vor neuer Software haben“, d. h. auch: Strategien entwickelt haben, mit laufenden Entwicklungen selbständig Schritt zu halten. Soziale Kompetenzen und Selbstorganisation entwickeln sich in den ein bis zwei Pflicht-Projekten, die jede/r Studierende aktiv mitgestaltet. Methodische Kompetenzen wie Logfile-Analyse, Handling großer Datenmengen oder Fragebogenerstellung sind in die Studienordnung als integraler Teil der Module eingebettet. Nicht zuletzt entwickeln die Studierenden durch das Zweitfach, das zum Bachelor-Studiengang gehört, auch von Anfang an die Fähigkeit, in unterschiedlichen Regel- und Bezugssystemen zu arbeiten.

Inwieweit dieses kompetenzorientierte, praxisoffene Studium sich auf den beruflich-fachlichen Fokus der Studierenden auswirkt, zeigt eine Analyse von 484 Abschlussarbeiten der IBI-Studierenden aus den Jahren 2010 bis 2019.[19] Sie ergab, dass sich gut zwei Drittel aller Abschlussarbeiten (67 %) mit konkreten Institutionen beschäftigten, davon waren etwas über die Hälfte (56 %) Wissenschaftliche Bibliotheken, 16 % Öffentliche Bibliotheken und 22 % waren spartenunabhängig auf Bibliotheken allgemein bezogen. 7 % hatten andere Institutionen (Gedächtniseinrichtungen, Unternehmen) als Untersuchungsgegenstand. Es zeigt sich also, dass Bibliotheken trotz der praxisoffenen Lehre einen beträchtlichen Raum in der Ausrichtung der Studierenden einnehmen. Die populärsten Themen sind dabei Open Access und Elektronisches Publizieren (11 %), Erschließungs- und Retrievalfragen (9 %), Nutzer*innenforschung und Informationsverhalten (8 %), Bibliotheksnutzung und -dienstleistungen (8 %) und Managementfragen (6 %). Hier zeigt sich also eine Korrespondenz zu den fachlichen Schwerpunkten des Instituts.

5 Ausblick

Es ist unsere Überzeugung, dass die Ausrichtung und Weiterentwicklung der bibliotheks- und informationswissenschaftlichen Studiengänge nur gelingen kann, wenn alle drei der aufgezeigten Perspektiven berücksichtigt und aufeinander abgestimmt werden. Der offene Dialog zwischen Profession, Disziplin und Studierenden und der damit verbundene eigene Perspektivwechsel zeigen gemeinsame Ziele und Anforderungen auf, ohne dabei die Bedürfnisse einer Seite zu vernachlässigen.

Die Frage, was Schulabgänger*innen, Studieninteressierte und Studienanfänger*innen vom Fach Bibliotheks- und Informationswissenschaft und vom Arbeitsfeld Bibliothek erwarten, wäre lohnender Gegenstand einer hochschulübergreifenden Studieneingangsbefragung, die es seit längerem nicht mehr gegeben hat.

Der Diskurs zur zentralen Frage: „Welche Kompetenzen und Qualifikationen sollen Absolvent*innen der LIS-Studiengänge haben?“ wird auch weiterhin die Arena bleiben, in der Profession und Disziplin ihre Anforderungen, Profile und Erwartungen aneinander abgleichen und ausrichten. In modifizierter Form – „In welchem Maße müssen Absolvent*innen welche Fähigkeiten erlangen, um eine langfristige Perspektive in unterschiedlichen Kontexten zu erhalten?“ spiegelt diese Frage dabei eine Öffnung des Curriculums wider, die der Öffnung des bibliothekarischen Arbeitsmarkts entspricht.

Über die Autoren

Ulla Wimmer

Maria Gäde

Literaturverzeichnis

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Online erschienen: 2022-12-02
Erschienen im Druck: 2022-11-27

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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  36. Der Fachkräftemangel als Ausdruck der Krise des Bibliothekswesens
  37. Rezensionen
  38. Thomas, Barbro; Gram, Magdalena; Olsson, Tommy (Redaktörer) (2022): Framstegens Halvsekel. 50 år av folkebiblioteksutveckling [= Ein halbes Jahrhundert Fortschritt. 50 Jahre Entwicklung der Volksbibliotheken]. Borås: Biblioteksmusee. Broschur, Abb., 216 S. ISBN 978-91-527-1228-3
  39. Hoffmann, Claus-Wilhelm (Hrsg.): Wilhelm Hoffmann. Leben und Wirken. Ostfildern: Thorbecke Verlag, 2021. 584 S., s/w-Abb., fest gebunden. ISBN 978-3-7995-1512-2, 29,– €
  40. Buckland, Michael K.: Ideology and Libraries. California, Diplomacy, and Occupied Japan, 1945–1952. With the Assistance of Masaya Takayama. Lanham Md.: Rowman & Littlefield, 2021. ISBN: 978-1-5381-4314-8, 112 S., 70 Euro (Taschenbuch: Juni 2022 (1538171201): 36,50 €; E-Book (9781538143155): 33,99 €)
  41. Jahresinhaltsverzeichnis 2022
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