Rezensierte Publikation:
Stefan Dreßke, Empfindliche Körper: Kopfschmerzpraktiken zwischen Alltag und Medizin. Bielefeld: transcript Verlag 2021, 330 S., kt., 35,00 €
Es gibt wenig soziologische Bücher über Kopfschmerzen, es sind vermutlich nicht mehr als eine Handvoll. Stefan Dreßke bereichert diesen Forschungsstand nun mit einer Monografie, die sich akribisch dem Phänomen Kopfschmerz widmet und insbesondere auf unterschiedliche Äußerungsformen und Bewältigungspraktiken in unterschiedlichen sozialen Milieus abzielt. Kopfschmerzen zeigen sich der soziologischen Analyse dabei „zwischen beiden Extremen: dem Verschwinden im Alltag und der Skandalisierung“ (S. 7). Dass Kopfschmerz nicht gleich Kopfschmerz ist, wissen die meisten von uns aus eigener Erfahrung. Wie sich Kopfschmerzen im biografischen Verlauf, in Beziehungskonstellationen, im familiären Umfeld oder Arbeitskontext und im gesellschaftlichen Diskurs verändern, weiß Dreßke auf Basis von 172 qualitativen Interviews mit Betroffenen, Angehörigen und Expert:innen zu berichten, die er nach dem Vorbild der Grounded Theory zu konzeptorientierten Falldarstellungen verdichtet.
Die Analyse der sozialen Konstruktion von Kopfschmerzen setzt an den Beziehungs- und Deutungsgeflechten an, in denen diese ihre Deutungsformen und gesellschaftliche Wirkung entfalten. Die sozialen Konstruktionen greifen dabei weit über biomedizinische Kosmologien hinaus, werden aber in den Interviews nicht komplett davon losgelöst. Jenseits des spezifischen Erlebens und Bewältigens von Kopfschmerzen, arbeitet Dreßke an ihrem Beispiel die „Bedeutung von Empfindlichkeitserkrankungen als eigenständiger und dominierender Pathologie des frühen 21. Jahrhunderts“ (S. 11) heraus. Die titelgebenden „empfindlichen Körper“ lassen sich somit in einem vielschichtigen Verweisungszusammenhang zwischen unterschiedlichen Milieus und gesellschaftlichen Deutungsmustern positionieren, wodurch sie ihr gesellschaftsdiagnostisches Potential erlangen.
Dreßke beginnt seine Studie mit der Aufarbeitung des soziologischen Diskurses um Schmerzerkrankungen, die er in ein weiteres Feld soziologischer Forschung einbettet. Im Rahmen eines auf Berger und Luckmann rekurrierenden, wissenssoziologischen Zugangs schließt er an körper- und gefühlssoziologische Ansätze an, um zu zeigen, wie „psychophysische Dispositionen sozialen Lagerungen, Zuweisungen und Praktiken unterliegen“ (S. 15). Die Uneindeutigkeit und Nichkommunizierbarkeit von Schmerzen sowie ihre interpretative Flexibilität öffnen den Horizont für die Analyse des historischen Wandels von Schmerzdiskursen und -praktiken. Mit Verweisen auf Elias, Goffman, Hochschild, Mead, Plessner, Simmel und Strauss wird Schmerz als interaktives und gesellschaftliches Deutungsprojekt verstanden, das gegenwärtig von leistungsfähigen Köpern im Sinne Bourdieus und Boltanskis bewältigt werden muss, die wiederum unter Rekurs auf Douglas in „Belastungskollektive“ (S. 26) eingebettet sind. Mit der Entwicklung der Schmerzmedizin werden augenscheinlich alltägliche Schmerzen, wie der Kopfschmerz, darüber hinaus in Medikalisierungsprozesse eingebunden, die lebensweltliche Schmerzkonzepte enger mit biomedizinischen Diskursen verbinden.
Den Hauptteil bildet das dritte Kapitel „Der alltägliche Schmerz“ (S. 51-196). Zwei deutlich unterschiedene Umgangsweisen mit Kopfschmerz sind einerseits die „robusten Körperverständnisse“, in denen der Schmerz meist stoisch und schweigsam ertragen wird, andererseits Konstellationen, in denen der Schmerz demonstrativ zur Schau gestellt und öffentlich verhandelt wird. Während die erstere eher dem traditionellen Verständnis von Kopfschmerzen entspricht, geht das „empfindliche Körperverständnis“ mit neueren biomedizinischen Erkenntnissen von Kopfschmerz als pathologischer Erscheinung einher.
Dreßke thematisiert zuerst die schwierigen Verhandlungen von Kopfschmerzen in Paarbeziehungen, wenn die Angehörigen das Leid der Betroffenen nicht nachvollziehen können oder missverständlich auffassen, etwa: „In den Interviews zeigt sich, dass Männer ihre Kopfschmerzen herunterspielen. Ihre Partnerinnen dagegen versuchen, sich ihnen stärker emotional zuzuwenden – was die Männer nicht honorieren, eventuell sogar ablehnen, und was zu niederschwelligen, auch dauerhaften Konflikten führt“ (S. 66). Auf Seite der Frauen hilft eine medizinische Eskalation dagegen den Männern, die Ernsthaftigkeit der Kopfschmerzen überhaupt bzw. besser nachvollziehen zu können. Migränekopfschmerzen erzeugen auf diese Weise in den Partnerschaften eine „gegenseitige Verpflichtungsstruktur“ (S. 81), die Rücksichtnahme und Unterstützungspraktiken mit der Erkrankung dauerhaft austarieren.
Im Anschluss erfolgt die Darstellung der unterschiedlichen sozialen Milieus. Im „alten Mittelstand“ herrscht traditionell eine robuste Einstellung gegenüber Kopfschmerzen. Die Migräne soll bekämpft und beherrscht werden, sodass ihre Auswirkungen im Alltag nicht weiter auffallen. Sie gilt als geringfügiges Leiden, dem ein leistungsfähiger Körper entgegengesetzt wird. In ähnlicher Weise sprechen auch die Interviewten aus der Gruppe der sportlichen Studierenden über Kopfschmerzen. Dort gelten Kopfschmerzen als Übel, das es auszuhalten und auszukurieren gilt, um den Körper durch die Schmerzerfahrung kontinuierlich abzuhärten (S. 101). Die rational-pragmatische Bearbeitung der Schmerzen wird gegen das Jammern über sie gesetzt. Beiden Milieus ist gemeinsam, dass sie körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ins Zentrum der Betrachtung stellen. Wehleidigkeit wird als mangende Selbstbeherrschung verstanden, die einen unangemessenen Umgang mit dem Körper und den Schmerzen signalisiert. Die Interviews zeigen aber auch, dass die robusten Einstellungen dieser Milieus brüchig werden können, wenn schwierige Lebenslagen Einzug halten (S. 114).
Eine andere Bearbeitungsstrategie verfolgen diejenigen Befragten, die empfindlichere Einstellungen über ihren Körper äußern. Dreßke nennt hier die Gruppe der Angestellten, die ihr Leiden demonstrativ zur Schau stellen und öffentlich verhandeln. Obwohl die Angestellten aus dem alten Mittelstand hervorgehen, weichen Sie deutlich von dessen Robustheitsnormen ab. Kopfschmerzen werden meist unter dem Label Migräne zu einer Ressource, um verminderte Leistungsansprüche im Berufsleben durchzusetzen. Die Biografien der Interviewten dieser Gruppe weisen dabei mehrheitlich Brüche auf, die aus problematischen Familienverhältnissen hervorgehen. Die Kopfschmerzen werden demnach im Gefüge von biografischem Verlauf und leistungsorientierter Arbeit thematisiert. Einerseits kann man sich der Leistungsnorm entziehen, zugleich kann man um Verständnis und Solidarität (S. 130) für die eigene Position werben. Die daraus resultierenden Kopfschmerzarrangements sind auf Zeit stabilisiert, müssen aber im Verhältnis mit Vorgesetzten und Kolleg:innen kontinuierlich nachjustiert werden. Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Sozialberufen als viertem untersuchen Milieu. Auch dort wird eine solidarische Schmerzgemeinschaft geformt, die jedoch noch stärker auf sozialen Beziehungen als auf biologischen Pathologisierungen beruht. Die Arbeitszusammenhänge werden weniger nach funktionalen Leistungsprinzipien kategorisiert, sondern nach affektiven Kollektivbearbeitungen von Kopfschmerzepisoden. Das Verständnis für die Kopfschmerzen weist auf ein für die Sozialberufe typisches „Gespür für die anderen“ (S. 152) hin. Die Auflösung der Kopfschmerzen von einer eigenständigen, subjektiven Empfindung in ein breiteres Netz der Deutungsmuster verstärkt sich bei einer Gruppe, in der die persönliche Selbstverwirklichung eine primäre Stellung einnimmt. Das „Leiden am Selbst“ (S. 159) bettet die Kopfschmerzen noch stärker in ein biografisches Narrativ ein, in dem ein aktiver Ausstieg aus traditionellen Mustern präsentiert wird.
Als letzte Gruppe nennt Deßke Personen, die aus den alten Mittelschichten kommen, jedoch einen sozialen und ökonomischen Abstieg erfahren haben. Sich anhäufende Lebensprobleme verdichten sich dort zu einer dauerhaften Krankheitskarriere. Die Privilegien des Krankenstandes können jedoch in eine ungewollte Psychiatrisierung der Patient:innen münden, die sie nach Kräften zu vermeiden suchen.
Im vierten Kapitel wendet sich Dreßke der psychosomatischen und neurologischen Schmerzmedizin zu. Die medizinischen Deutungsangebote werden von den Interviewten wiederum mit biografischen und gesellschaftlichen Narrativen verknüpft, um neue Konstellationen der Empfindlichkeit zu erzeugen. Insbesondere psychosomatische Deutungen erlangen an der Schnittstelle zwischen Körper und Geist eine zentrale Position und weisen zugleich auf Bewältigungsstrategien hin. Unter Rekurs auf die biomedizinischen Erkenntnisse versuchen die Betroffenen, ihre Situation durch mehr Selbstsorge zu verbessern und neue Lebenswege zu beschreiten. Ein Lebensentwurf kann dabei der der „Invalidität“ sein, durch den ein fester Status unter Anerkennung der Kopfschmerzen herbeigeführt wird. In einer anderen Deutung gilt das Gehirn von Migränepatient:innen als schnell überlastet, jedoch auch als empfänglich für feine Reize, weshalb der Umgang mit Kopfschmerzen durch ein gut justiertes Anforderungsmanagement erfolgt.
Im fünften Kapitel werden die bisherigen Analysen zu einem gegenwartsdiagnostischen Konzept von „Empfindlichkeitsregimes“ verdichtet: „Die Überblendung szientistisch-objektiver Krankheitsverständnisse durch psychologisch-subjektive Pathologisierungserfahrungen ist eine Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel, durch den nun Stimmungen, Empfindungen und kollektiv geteilte Emotionen zu sozialen Kategorien werden, mit denen sich Individuen verorten“ (S. 270). Aus soziologischer Perspektive folgen die Empfindungen „den Logiken sozialer Stratifikation und der Verteilung knapper Güter“ (S. 279). Die Empfindlichkeitsregimes bilden sich demnach entlang sozialer Ordnungsmuster heraus und gruppieren sich in der Auseinandersetzung mit den Schmerzen: „robust“ oder „empfindlich“ und sind zugleich eingebettet in gesellschaftliche Diskurse über Leistungsfähigkeit und Selbstmanagement. Kopfschmerzen erhalten damit neue soziale Formen, die sich deutlich von den traditionellen Verständnissen unterscheiden und die sich schrittweise im Alltag etablieren.
Im sechsten und letzten Kapitel widmet sich Dreßke den „Chancen und Risiken der Pathologisierung“, wobei er die Krankenkollektive der Kopfschmerzpatient:innen hervorhebt. In ihnen bilden sich neue Identitäten heraus, die zugleich die unterschiedlichen Ansprüche an den kranken Körper balancieren müssen.
Das vorgestellte Buch ist ohne Zweifel ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der Komplexität von Kopfschmerzkonstellationen. Es bietet ein breites Spektrum an soziologischen Zugängen und bleibt dabei immer nahe am Material. Leser:innen mit Interesse and Medizin- und Gesundheitssoziologie werden es mit Gewinn lesen. Aber auch Interessierte aus anderen Bereichen, etwa in Bezug auf Fragen von Arbeit oder Familie, finden aufschlussreiche Gedanken und treffende Analysen. Was das Buch zudem lesenswert macht, ist der ausgereifte Schreibstil, durch den die Interviewpassagen systematisch mit der Erzählung des Buches verknüpft werden. Sich gut 300 Seiten über Kopfschmerzen zu Gemüte zu führen, sollte daher auf keinen Fall abschrecken, sondern eher zum Lesen animieren.
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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