Abstract:
The article assumes that truth can only be understood as an individual construction. The pedagogic importance of truth is firstly developed using the German concept of „Bildung“. In this sense, truth presents itself as the ability of the reflection of one's own conditions for understanding. The author discusses the difference between Orthodoxy and Orthopraxy and reveals the different levels of truth in the discussion of this term in the context of education. Besides the question how truth can be understood as the content and the goal of education, the dimension of truth in a specific form of educational action is shown. The line of thought of the article concludes with the idea that education as education has to legitimize itself.
„Die Wahrheit der Erziehung ist die Erziehung selbst“ – dieser Gedanke, der dem ehemaligen Polizeikommissar Gerhard Mühlfellner, Protagonist der Aschberg-Krimis und ein intellektuelles Spiegelbild der Gegenwart, zugeschrieben werden könnte, umreißt die fundamentale Ebene, auf der heute der Zusammenhang von Wahrheit[1] und Erziehung[2] zu diskutieren ist. Im Hintergrund dieser Alltagsphänomenologie des Pädagogischen steht die Absicht, bei der Thematisierung pädagogischer Wahrheit jene Motivlage wieder aufzugreifen, die in den 1970er Jahren unter dem Label der Antipädagogik und der Kinderrechte für öffentliche Beachtung gesorgt hatte. Die Frage ist danach, wie Erziehung als Erziehung legitimiert werden und in diesem Sinne „wahr“ sein bzw. werden kann. Vorausgesetzt wird bei einer solchen Frage, dass Erziehung als steuernder Eingriff in die Freiheit eines vollwertigen Menschen, sei er auf der Stufe des Säuglings, der Kindheit oder des Jugendalters, keineswegs selbstverständlich ist und daher einer Legitimation bedarf. Die Frage, mit der das Motiv der „Wahrheit“ mit „Erziehung“ verbunden wird, ist also die, ob Erziehung als solche zu rechtfertigen ist und wie dies geschehen kann. Solch eine Frage bietet in Zeiten vermeintlicher empirischer Gewissheiten, mit denen Politik legitimiert und Herrschaft begründet wird, eine Irritation, die der Unverborgenheit die Kugel im Kopf erspart, um Wahrheit besprechen zu können. In diesem Sinn soll hier Mühlfellners[3] Gedanke von Erziehung als der Wahrheit von Erziehung in vier Schritten entfaltet werden. In einer ersten Erinnerung wird an eine Grundfigur der Weltzuwendung angeknüpft, nach der „Hermeneutik“ vor allem eine Form des Umgangs mit sich selbst ist. Durch diesen Umgang hindurch erhält erst die Rede von Wahrheit ihre „empirische“, weil anthropologische Erdung. In einem zweiten Zugang wird mit Hilfe von Johann Amos Comenius und Erich Fromm an die Differenz von Orthodoxie und Orthopraxie erinnert. Im dritten Schritt wird grob die Logik von zwei Ebenen pädagogischer Wahrheit mit Blick auf Erziehung entfaltet: der Zielebene und der Handlungsebene. Im vierten Schritt wird schließlich – in Entfaltung des Diktums von Mühlfellner – auf die Fundamental- oder Elementarebene als das eigentliche Problem pädagogischer Wahrheit verwiesen.
1. Bildung oder Wahrheit als Selbstreflexion
„Pilatus sagte zu ihm: Also bist du doch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Pilatus sagte zu ihm: Was ist Wahrheit? Nachdem er das gesagt hatte, ging er wieder zu den Juden hinaus und sagte zu ihnen: Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen.“ (Joh 18,37 f.)
Was würde Mühlfellner dazu sagen? Er wäre ratlos. Was ist das für ein Typ? Pilatus weiß es offensichtlich nicht. Was stellt er sich so an? Wahrheit ist Wahrheit – meine Wahrheit, vielleicht unsere Wahrheit. Was sonst? Wo können wir Wahrheit finden? Vielleicht im Himmel, gewiss nicht auf Erden und eigentlich doch nur im eigenen Kopf selbst. Wenn da bloß nicht diese Lücken der Erinnerung, die schwarzen Löcher des Ichs den Wahrheitsblick vernebeln würden.
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hatte in den Pädagogischen Vorlesungen aus dem Jahr 1826 den Ankerpunkt der Suche nach wissenschaftlicher Wahrheit im Ausgleich von „Himmel“ und „Selbst“ zu orten versucht. Dies geschah vor dem Hintergrund einer klaren Zurückweisung: „Bloße Empirie kann nicht wissenschaftlich sein, wenngleich eine Menge von geistreichen und scharfsichtigen Beobachtungen aufgestellt werden können. Es muss im Gegenteil der Pädagogik das Spekulative zum Grunde liegen.“[4] Wenn Schleiermacher von dem Spekulativen spricht, das der Pädagogik zugrunde liegen müsse, besteht das Folgeproblem darin, den Entstehungskontext des „Spekulativen“ zu identifizieren und aufzusuchen. Schleiermacher selbst verweist auf die Idee des Guten. Wo finden wir diesen Entstehungskontext? Finden wir ihn im gestirnten Himmel über uns oder über die Erinnerungsspuren der erlebten und erlittenen Erziehung in mir? Wohl beides – nur eben nicht in der bloßen Empirie. Der Bestimmung und Analyse von Wahrheitsmomenten in der Pädagogik muss offensichtlich ein Balanceakt vorausgehen, in dem das Ich sich mit seiner Wahrnehmung ins Einvernehmen setzt und so den spekulativen Entwurf der Weltdeutung mit sich selbst und der Erfahrung zu versöhnen sucht. Auf diesem Weg gelangt das Spekulative zu jenem Nadelöhr, ohne dessen Durchdringung der Zugang zu Wahrheit versperrt bleiben muss: die Bedingung der Möglichkeit des Verstehens.
Diese Grundfigur findet sich mit einer entscheidenden Abwandlung auch in Hans-Georg Gadamers Begründung einer universalen philosophischen Hermeneutik.[5] Gadamer hatte auf der Suche nach dem dem Menschen gemäßen Wahrheitsverständnis gegen die Illusion einer absoluten, kontextunabhängigen, a-historischen Erkenntnis den weitreichenden Einwand in Stellung gebracht, dass ohne Erinnerung an sich selbst (und sei sie im Moment des Eingeständnisses, sich nicht erinnern zu können) keine Suche nach Wahrheit möglich ist. Dabei kommt der Auseinandersetzung mit sich selbst in Form einer Auseinandersetzung mit den eigenen Vormeinungen bzw. Vor-Urteilen eine entscheidende Bedeutung zu. Vor-Urteile im hermeneutischen Sinne sind zunächst einmal nichts negativ zu Wertendes. Vor-Urteile sind vielmehr ein elementarer Baustein aller Weltzuwendung des Menschen im Prozess des Verstehens. Jeder Mensch bringt in jedem Moment seiner Weltzuwendung seine Vorurteile in die Konstruktion dessen ein, was er meint vorzufinden. Und das ist nicht nur nicht ausschaltbar, sondern überdies auch nicht schlimm. Es gehört zum Verstehen dazu. Verstehen basiert auf Vor-Urteilen, arbeitet mit ihnen und prüft sie ständig. Schlimm ist es jedoch, wenn einem genau dieser entscheidende Punkt nicht klar wäre: das Ausgehen von und letztlich Gefangen-Sein in der eigenen Perspektivität, weil nur durch sie hindurch „Wahrheit“ erlangt werden kann. Der bewusste Umgang mit eigenen Vorurteilen ist der Modus, mit dem ein Mensch sich über sich selbst und damit die Bedingungen seiner zwischenmenschlichen Kommunikation aufzuklären hat.[6] Der Umgang besteht in der kritischen (Selbst)Reflexion der individuellen und kollektiven Erinnerungsspuren, die sich im Kopf festgesetzt haben. Dies setzt die Anerkennung der eigenen Perspektivität und die Rehabilitierung des Vorurteils als tragende Brücke des Verstehens voraus. In diesem Sinne kritisiert Gadamer die blinden, unaufgeklärten Flecken im Denken weiter Teile der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Das „grundlegende Vorurteil der Aufklärung ist das Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt und damit die Entmachtung der Überlieferung.“[7] Gadamers Hinweis auf die Problematik des „Vorurteil(s) gegen die Vorurteile“[8] führt uns damit unmittelbar an die Ebene des Grundes pädagogischer Wahrheit heran. Was wird darunter verstanden? ‚Vorurteil‘ heißt eben bei Gadamer keineswegs „falsches Urteil, sondern in seinem Begriff liegt, dass es positiv und negativ gewertet werden kann.“[9] Vorurteile sind immer Vorentwürfe, die in den Prozess des Verstehens mitgebracht werden. Vorurteile sind dann im formalen Sinne gute Vorurteile, wenn ein Mensch sich ihrer bewusst ist. Gegen die Vision bzw. Illusion, es komme auf die weitgehende oder gar vollständige Auslöschung des Eigenen im Kopf zugunsten eines vorurteilsfreien, „objektiven“ Erkennens an, setzt Gadamer sein bekanntes Verständnis vom hermeneutischem Zirkel, in dem eine permanente Revision der Inhalte des Vorentwurfs, keineswegs aber die Ausschaltung des Vorurteils als Kern menschlichen Verstehens identifiziert wird. Wir brauchen Vorurteile, wir brauchen das Bewusstsein unserer Vorurteile, weil wir nur in unseren und durch unsere Vorurteile existieren können. Wir sind nur durch Verstehen empirisch und wahrheitsfähig. Empirie ist dem Menschen nur durch Verstehen zugänglich. Empirie an sich gibt es ebenso wenig wie Wahrheit. Das ist wohl – leider – eine (religions)pädagogische Wahrheit, die Zweifel an sich nähert und die Verzweiflung über alles Zweifelsfreie zum Wahrheitsgrund der möglichen Existenz macht. All dies führt zu der Konsequenz, dass es „Wahrheit“ nur als eine individuelle „Wahrheit“ gibt. Sich dies ins Bewusstsein zu rufen, ist die eigentliche pädagogische Herausforderung sowohl in der externen (Erziehung) als auch in der internen (Bildung) Steuerung von Lernen. Insbesondere mit Blick auf die selbstreflexive Vergewisserung der eigenen Vorurteile geht es darum, zunächst sich selbst gegenüber an „Rationalitätskriterien“ wie Explizitheit, praktische Relevanz, Wahrhaftigkeit, vor allem aber der kulturellen Beschränkung zu orientieren, um Wahrheit zum „Zwecke gelingender Kommunikation und Kooperation“ sich selbst und anderen verständlich zu machen.[10]
Verstehen, auch wissenschaftliches Verstehen kann nie auf Erfahrung eines Gegen-Ständlichen allein gegründet werde. Das Empirische bleibt sprachlos, wenn es nicht vom Spekulativen des eigenen Weltdeutens in Sprache gesetzt wird. Das aber trifft beim Einzelnen nicht auf Nichts, sondern immer schon auf Etwas. Dieses Etwas ist das individuell und kulturell gewordene Selbst mit seinen Erinnerungsspuren, in denen das Vor-Urteilen allgegenwärtig ist. In der Reflexion des eigenen Vorverständnisses wird die Suche nach Wahrheit geerdet und an die Bedingungen der Möglichkeiten des Verstehens rückgebunden. Ohne solche Rückbindung bleibt alle Wahrheit empirische Gaukelei – vor sich selbst und vor anderen. Perspektivenwechsel.
2. Pädagogik oder Wahrheit als Orthopraxie
Wenn von „Wahrheit“ – zumal in (religions)pädagogischen Zusammenhängen – die Rede sein soll, kommen wir – von außen betrachtet – um eine banale, thematisch jedoch einschlägige Unterscheidung nicht herum. Sie bildet gleichsam den Leitfaden, das Bindeglied jeglicher Thematisierung von „Wahrheit“ in sozialer Hinsicht. Ist es der Umgang mit Vorurteilen in individualanthropologischer Hinsicht, der das Thema „Wahrheit“ in einem operativen Sinne zu fundieren mag, so ist es in sozialanthropologischer Hinsicht die Unterscheidung von „Ortho“-Doxie und „Ortho“-Praxie, die Unterscheidung also von „wahrer“ Lehre und „wahrem“ Leben bzw. Handeln.
Es ist für die Erziehung seit alters her die Frage, worauf sich die Steuerung von Lernprozessen richten und woran sich ein Erfolg eben jener Impulse messen lassen soll. Geht es darum, dass Menschen „Wahrheit“ im Sinne objektivierbarer Aussagen „wissen“ und diese dementsprechend verbal bekunden? Oder liegt das Bekenntnis der „Wahrheit“ primär oder gar ausschließlich darin, sich in der Welt zu orientieren, sich so oder so zu verhalten und diesen oder jenen Normen durch das eigene Handeln praktische Gestalt zu verleihen? Nun ist es natürlich theoretischer und praktischer Unfug, Lehre und Handeln völlig voneinander zu trennen. Für die Frage, worauf sich Pädagogik bei der Thematisierung von Wahrheit richten soll, ist diese Unterscheidung jedoch elementar. In gut kulturprotestantischer Tradition mit ethischem Einschlag wird hier der Gedanke zu begründen versucht, dass sich – pädagogisch gesprochen – die Orthodoxie nur in gelebter Orthopraxie äußern, darstellen und bewähren kann. Das Orthopraktische ist dann das eigentlich Orthodoxe. Im Zentrum dieses Verständnisses von Orthopraxie steht die Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit eigenen Verstehens, das dem Weltdeuten und Welthandeln zu Grunde liegt. „Wahrheit“ ist – pädagogisch betrachtet – immer nur orthopraktisch denkbar. Erziehung basiert auf Orthopraxie – sowohl als Ziel der Erziehung der Vergegenwärtigung des je eigenen Verstehens, aber auch – auf einer anderen Ebene – mit Blick auf die Legitimation ihrer selbst (vgl. Abschnitt 4).
Damit wird ein Verständnis von Orthopraxie präferiert, das gleich in der Erinnerung an Johann Amos Comenius und Erich Fromm veranschaulicht werden soll. Zuvor sei jedoch eingefügt, dass Orthodoxie im Sinne eines Für-Wahr-Haltens von Dingen im vorliegenden Kontext als ein sinnvolles, wenn auch unverzichtbares Korrektiv für Orthopraxie gesehen wird. Die Debatten um die Weiterentwicklung der Gedenkstättenpädagogik sind ein einschlägiges Beispiel dafür, dass „wahres“ Handeln auf ein „wahres“ Wissen angewiesen ist, sich darin jedoch gerade nicht erschöpft. Der Erfahrungsbezug ist dabei wahrscheinlich der plausiblere Weg, die Brücke vom Kenntnisnehmen zur Transformation in Handlungsmuster zu gründen.[11] Gerade angesichts der über Medien vermittelten Vielfalt an Deutungsmustern bekommt die Vergewisserung darüber, worauf Orthopraxie bauen kann und soll, eine entscheidende Scharnierfunktion, die immer nur proklamatorisch mögliche Behauptung von „Wahrheit“ als Gegen-Stand und „Wahrheit“ als Alltagspraxis miteinander zu verbinden.
An diesem Punkt birgt das Gespräch mit Johann Amos Comenius aufklärende Impulse. In seiner Schrift über „Das einzig Notwendige“ hatte Comenius eine Grundlegung von Wahrheit als Lebenspraxis formuliert, in deren Mitte der Modus der Kontemplation, der Meditation als einer den Menschen über sich selbst aufklärenden Weltzuwendung steht. Es geht prinzipiell darum, sich inmitten einer Welt vielfältiger Sinneseindrücke und ‚Sinnangebote‘ auf die einzig mögliche Grundlage menschlicher Existenz zu besinnen. Wo aber finden wir diese Grundlage? Im Alltag wird der Mensch von der glitzernden Vielfalt der Eindrücke, die auf ihn eindrängen, vom Wesentlichen abgelenkt. Die Zeitdiagnose von Comenius aus dem 17. Jahrhundert klingt seltsam gegenwärtig:
„Wohin du dich wendest, du stehst vor tausend Wegen, tausendfach kannst du sehen, wie man gedacht, geredet und gehandelt, sich entschieden, geschwankt und geirrt hat. Darum braucht der Mensch nichts anderes so nötig, als dass er weiß, was für ihn not ist.“[12]
Inmitten der Vielfalt überlieferter und gegenwärtiger Sinnangebote das tragende Fundament finden – das ist die Herausforderung auf der Suche nach „Wahrheit“ für die Gestaltung des eigenen Lebens. Das Unterfangen scheint auf den ersten Blick aussichtslos. Es gebe – so Comenius – dennoch Hoffnung, dass dieses Unternehmen gelingen könne. Die Hoffnung beruht zunächst darauf, dass man an den vorliegenden Irrtümern erkennen kann, welche Wege man nicht beschreiten sollte. So sehr die Erinnerung im Kopf auch schmerzt, so sinnvoll erscheint sie, um nicht dieselben Fehler wieder und immer wieder zu machen. Neben der Bedeutung einer kritischen Erinnerung verweist Comenius auf den kontemplativen Ansatz der biblischen Figur des Salomo, der die Vielgeschäftigkeit als Grund des menschlichen Verderbens und das Lob der Einfachheit als Mittel der Befreiung daraus aufgedeckt habe. Kontemplation und Reduktion der Konsumangewohnheiten auf Wesentliches bedingen einander wechselseitig: „Sei mit wenigem zufrieden in Kleidung, Wohnung, Nahrung, Bedienung, Hausrat, Einkünften, Geld. Habe von allem nur soviel, als du brauchst und nichts zum Überfluss als Luxus.“[13] Über ein solches Achten auf die eigene Alltagspraxis gewinnt der Mensch über die Außenwelt einen neuen Bezug zu sich selbst. Comenius beschreibt die Not des Menschen dabei nicht nur als praktisches Defizit in seinem Weltumgang. Vielmehr verankert er dieses Defizit auch in einer ungeklärten Beziehung des Einzelnen zu sich selbst. Es ist ein Mangel in der Anschauung des eigenen Lebens, die ihn in die Labyrinthe der Welt verstrickt.
„Was braucht der Mensch zuerst und vor allem am nötigsten? Antwort: Sich selbst. Er muss lernen, sich selbst zu erkennen, sich selbst zu beherrschen, sich selbst zu brauchen und zu genießen.“[14]
Die Anklänge an den Gedanken des Vorurteils im Sinne Gadamers sind offensichtlich. Der Weg zur Wahrheit, zum „wahren“ Leben als Orthopraxie führt durch das Nadelöhr einer selbstkritischen Betrachtung der Bedingung der Möglichkeit eigenen Verstehens. Dementsprechend kommt es zuerst auf die Gewinnung der richtigen Maximen für das eigene Leben an. Dahinter steht die anthropologische Prämisse, dass das Vernunftvermögen des Menschen zwar durch den Sündenfall getrübt, nicht jedoch gänzlich zerstört ist. Die Herausforderung besteht in der Auseinandersetzung mit der Frage, was im Leben wichtig und was unwichtig ist. Orthopraxie setzt – bei aller Unzulänglichkeit der Umsetzung im Alltag – genau diese Einsicht und die Unterscheidung von Wesentlichem und Unwesentlichem voraus, weil damit sowohl eine Reduktion von Komplexität als auch die Bewältigung von Kontingenz in die alltäglichen Entscheidungsprozesse eingebaut werden können. Für die pädagogische Praxis geht es dabei vor allem darum, dass „nur das Wissenswerte […] den Sinnen nahegebracht werden [soll], anderes muss man vor ihnen verbergen.“[15] In diesem Leitsatz stecken sowohl ein Programm zur Selbsterziehung als auch der Aufruf zur verantwortlichen Auswahl dessen, was anderen gelehrt wird. Eine Orientierung für diese Auswahl bietet dabei jene Elementarisierung von „Wahrheit“ im biblischen Kontext, die für Comenius als Bischof der böhmischen Brüdergemeine mit seiner reformierten Prägung einer Einheit des Bundes unverminderte Gültigkeit hat:
„Eins ist not! Und was ist das Eine? Die zehn Gebote, auf die Gott alle seine Vorschriften beschränkt hat. Wenn nur die Rechtsgelehrten den Dekalog praktisch lehren, und das Christenvolk ihn praktisch lernen wollte!“[16]
Der Dekalog eröffnet die entscheidende sozialethische Perspektive eines menschlichen Miteinanders. Die Verknüpfung des Motivs der Selbstbesinnung mit dieser Bezugnahme auf ein solches theologisch-ethisches Arrangement wie die Zehn Gebote eröffnet den Blick auf die Grundstruktur der Orthopraxie im Unterschied zur Orthodoxie. Während es in der wahren Lehre um das Einvernehmen mit einem in objektiver Rede zu fassenden Sachverhalt, mit einem Reden „über“ geht, ist die Grundstruktur der Orthopraxie nicht primär auf verbale Bekenntnisstrukturen, sondern vielmehr auf alltägliche Lebensvollzüge gerichtet. Der damit verknüpfte Unterschied von Geschlossenheit und Offenheit ist unmittelbar auch pädagogisch relevant. Während die Wahrheit der Lehre zu einem Abschluss durch ein Einstimmen in etwas Vorgegebenes, das „Bekenntnis“, kommen kann, ist dies von der Grundstruktur her in der Orthopraxie nicht möglich. Im Spannungsfeld des doppelten Referenzrahmens von Selbstreflexion und vorgegebenen Orientierungsmaßgaben muss sich ein solch ethisches Arrangement wie die Zehn Gebote mit Blick auf das menschliche Handeln immer neu bewähren und an einer vorfindlichen Gegenwart aktualisieren.
Dieser Sachverhalt ist vielfach als Wesensmerkmal zentraler Strömungen des Judentums und des reformierten Christentums herausgestellt worden, für die dann auch das verbale Bekennen aufgrund der Unabschließbarkeit immer neu aktualisiert werden muss. Exemplarisch für diese Denkfigur und die Betonung der Orthopraxie kann auf die Untersuchung von Erich Fromm zum jüdischen Gesetz verwiesen werden, der die Frage der Orthodoxie im Sinne des Bekennens zu bestimmten „religiösen“ Inhalten als für das Judentum sekundär herausgearbeitet hat. Bei „Wahrung der religiösen Individualität des Einzelnen“ sei es das Normensystem des Gesetzes gewesen[17], das mit Blick auf eine bestimmte Prägung des Verhaltens und Handelns die gemeinsame Identität fundiert habe. Auch der zentrale Gedanke aus Dtn 6,4 “ Höre, Israel! Der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig“ sei kein Dogma in Sinne einer Aussage „über Gott, die geglaubt werden“[18] soll, sondern bringe die Orientierung innerhalb einer „religiösen Grundhaltung des Volkes und zugleich die Voraussetzung für alles andere Gebotene, bei dem es auch nicht um Glauben, sondern um das Handeln geht“[19], zum Ausdruck. Die Orthopraxie wird gespeist aus dem gelebten Umgang mit erlernter Erinnerung. Und zugleich ist Orthopraxie als ein umrahmter und doch offener Weg ausgerichtet auf einen permanenten Lern- und Orientierungsprozess, in dem „Wahrheit“ durch die „Bezogenheit auf das Göttliche“[20] immer neu zu reaktualisieren ist. Der geleitete Prozess, nicht der Inhalt ist das Absolute. Dies ist konstitutiv für ein orthopraktisches Wahrheitsverständnis, dem das pädagogische Motiv des permanenten, selbstreflexiven Lernens innewohnt.
3. Erziehung oder Das Doppelgesicht der Wahrheit in der Pädagogik
„Die Wahrheit der Erziehung ist die Erziehung selbst“ – Was würde Mühlfellner zu der Unterscheidung von Orthopraxie und Orthodoxie sagen? Wie würde er mit der Vorliebe für Wahrheit im Handlungsgeschehen umgehen, wie würde er diesen Akzent bewerten? Die Antwort lässt sich – bei allen vorhandenen Erinnerungslücken – erahnen. „Ist doch klar. Die Wahrheit liegt auf dem Platz.“ Solchermaßen durch die ahnende Gewissheit gestärkt, auf Mühlfellners Spuren der Unverborgenheit zu wandeln, liegt es nahe, die Unterscheidung von Orthodoxie und Orthopraxie noch einmal neu auf das Verständnis von Pädagogik zu beziehen.
Dafür soll die Unterscheidung von Orthodoxie und Orthopraxie zunächst übersetzt werden in zwei Fragerichtungen:
Was soll durch erzieherische Handlungen erreicht werden?
Was ist in erzieherischen Handlungen erlaubt bzw. geboten?
Unterschieden werden können somit Zielprobleme und Handlungsprobleme der Pädagogik als Kontexte, in denen „Wahrheit“ thematisiert wird. Auf der Ebene der Zielprobleme wird danach gefragt, was durch erzieherische Handlungen erreicht werden soll bzw. kann. Die Bestimmung eines solchen Ziels kann formal unterschiedlich begründet und inhaltlich höchst unterschiedlich konkretisiert werden. Gelegentlich erscheint es so, dass Pädagogik extern durch eine Art Gefälle determiniert ist: Von außen wird vorgegeben, welche Ziele ein Mensch, eine Gruppe von Menschen, eine Gesellschaft erreichen soll. In historischer Perspektive zeigt sich, dass und wie oft sich solche Zielvorgaben gewandelt haben. Diesem Weg der Bestimmung pädagogischer Wahrheit haftet die Vergänglichkeit des Zeitgebundenen an. Gleichwohl wird in einer jeweiligen Zeit ein solches Ziel wie Tapferkeit, sozialistische oder demokratische Persönlichkeit usw. nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Reproduktionserfordernisse ein absoluter Ernstcharakter beigemessen. Dem korrespondiert oftmals ein vermeintlich empirisch gewonnenes Verständnis von Erziehung und Unterricht, nach dem Pädagogik über psychologisch fundierte Vermittlungsstrategien vor allem ein Technologieproblem bzw. Technologiedefizit zu bewältigen hat. Pädagogik hat danach für eine Umsetzung, für eine Realisierung dieser Ziele zu sorgen. Pädagogik dient als Chiffre für die Maßnahmen, die notwendig erscheinen, um ein entsprechendes Ziel zu erreichen oder zumindest eine Annäherung an dieses Ziel vorzubereiten. Lernen wird verstanden als die Folgeerscheinung eines in der Regel extern vorgegebenen Ziels. Die „Wahrheit“ im Sinne von zu vermittelnden Kenntnissen, Haltungen oder „Kompetenzen“ wird von außen vorgegeben. Pädagogische Wahrheit mutiert zum Realisierungsmechanismus extern vorgegebener Ziele.
Dies ist jedoch nicht die einzige Möglichkeit, Wahrheit in der Pädagogik von der Zielthematik her zu denken. So besteht eine alternative Variante in der Frage danach, welche Ziele der Pädagogik von sich aus eigen sind. Vorausgesetzt wird dabei, dass es sich bei Erziehung als externe Steuerung von Lernprozessen um ein universalanthropologisches Phänomen handelt, dessen Strukturbedingungen einen eigenen Wahrheitsappell enthalten. So kann danach gefragt werden, welche Ziele sich aus dem Lebenslauf des Menschen im Hinblick auf den zu erreichenden Status des Erwachsenseins ergeben. Auch hier lauten die Fragen dann: Welche Kompetenzen müssen über Erziehung vermittelt werden? Welche Kompetenzen können über Erziehung erreicht werden? Im Prinzip ändert dies somit nichts an dem Fundament einer Antwort auf die Frage, was „Wahrheit“ in der Pädagogik bedeuten soll. Es handelt sich in den genannten Varianten immer um eine Antwort auf die Frage, welches Ziel durch erzieherische Handlungen erreicht werden soll bzw. kann.
Andere Akzente gewinnt die Frage nach der Wahrheit mit Blick auf Pädagogik als Handlung. Auf dieser Ebene ist eine andere Fragestellung erkenntnisleitend. Diese Fragestellung lautet: Was ist im erzieherischen Handeln selbst erlaubt bzw. geboten? In dieser Perspektive wird nicht das Ziel, sondern der Prozess problematisiert. Die Frage ist dann nicht, was über Erziehung erreicht werden kann bzw. soll, sondern was in der Praxis des erzieherischen Handelns selbst geboten, „wahr“ ist oder nicht. Darf man ein Kind anlügen, darf man es schlagen, darf man die Gegenwart des Kindes für eine zukünftig notwendige Kompetenz aufopfern usw.? Die Frage nach der Wahrheit kommt hier – so könnte man es formelhaft zuspitzen – als Diskussion der Handlungsnormen in den Handlungsformen in den Blick. Es waren die Fragen nach den angemessenen, „wahren“ Verhaltensformen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kontext der sogenannten Reformpädagogik in den Vordergrund rückten. Mit dem Mythos des leidenden Kindes wurde das Handeln von Erwachsenen gegenüber Kindern (und Jugendlichen) zweifelsohne dramatisch überinszeniert, zugleich jedoch überhaupt erst als ein zentrales Problem der „Wahrheit“ in der Pädagogik ins öffentliche Bewusstsein gehoben. Wie ist denn pädagogisches Handeln sowohl zu denken als auch praktisch zu realisieren, wenn Kindern ein bereits vollständiges Menschsein mit entsprechenden Rechten zugeschrieben wird? Die von der UNESCO vorangetriebene weltweite Etablierung von Kinderrechten als Teil universal verstandener Menschenrechte ist eine Konsequenz dieser Fragerichtung. Diese Perspektive hat Klaus Prange in seiner Bestimmung pädagogischer Ethik auf operativer Grundlage stark gemacht, indem er eine „Moral des Zeigens“[21] entfaltet.
Wahrheit – so ein Zwischenergebnis – kann im Bereich der Pädagogik auf der Ebene der Ziele und auf der Ebene der Prozesse bzw. Handlungen thematisiert werden. Auch wenn dies nicht in Deckung gebracht werden kann, so liegt es nahe, die Debatten um Ziele eher mit Aspekten der Orthodoxie und die um Handlungen eher mit der Ebene der Orthopraxie in Verbindung zu bringen. Dies gilt zumindest für die Bestimmung des Punktes, an dem „Wahrheit“ im Kontext von Pädagogik thematisiert werden kann. Bei genauerem Hinsehen wird nun jedoch deutlich, dass beide Zugänge, der über die Ziele und der über Handlungen, einen verborgenen Wahrheitsanspruch mitführen und diesen voraussetzen. Den Ebenen der Handlungsprobleme und der Zielprobleme liegt als Vorurteil die Ansicht zugrunde, dass Erziehung an sich bereits legitimiert und geboten ist. Das aber ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr stellt sich gerade angesichts der Praxis der Pädagogik auf dieser fundamentalen Ebene die Frage nach der Wahrheit der Pädagogik noch einmal neu und ganz anders. Warum ist eigentlich Erziehung und nicht Nicht-Erziehung? Oder konstruktiver formuliert: Aus welchen Gründen, aus welcher „Wahrheit“ heraus ist erzieherisches Handeln an sich überhaupt zu rechtfertigen?
4. Wege einer Negation der Nicht-Erziehung
„Die Wahrheit der Erziehung ist die Erziehung selbst“ – Mühlfellner, jetzt bist Du an Deinem Platz. Der Ball liegt auf dem Elfmeterpunkt und mit der gebotenen, von den schwarzen Löchern des Nicht-Erinnerns getragenen Naivität kommt jetzt das Problem der pädagogischen Wahrheit erst richtig ins Spiel. Die mit dieser Ebene der Wahrheit verbundene Frage mutet zunächst einmal banal an. Gibt es Erziehung, warum gibt es sie und warum soll es sie geben? Wer sich über Wahrheit in Handlungen und Zielen der Erziehung verständigen will, setzt immer schon voraus, dass Erziehung als solches bereits gerechtfertigt ist. Dass dies keineswegs so banal und selbstverständlich ist, wie es erscheinen mag – daran haben mit einer publizistischen Penetranz die so genannten Anti-Pädagogen erinnert. Beispielhaft steht hierfür der Satz von Hubertus von Schoenebeck: „Es gilt: Der (junge) Mensch ist kein zu erziehendes Wesen (kein homo educandus).“[22] Was bedeutet eine solche Infragestellung für die Frage nach der Wahrheit (in) der Pädagogik? Systematisch ist zunächst daran zu erinnern, dass auch eine solche grundsätzliche Infragestellung der Erziehung ein bestimmtes inhaltliches Verständnis von Erziehung voraussetzt. Aber das ist hier nicht der entscheidende Anstoß. Wesentlich ist, dass vor allem Nachdenken über Kriterien für Handlungen oder Ziele der Erziehung keineswegs davon ausgegangen werden kann, dass Erziehung selbstverständlich ist und es nur darauf ankommt, über deren Ausführung nachzudenken. Das Nachdenken über Erziehung im Rahmen der Pädagogik führt eben zu der Frage: Aus welchen Gründen ist erzieherisches Handeln überhaupt zu rechtfertigen? Dies ist das Ausgangsproblem, an dem sich die Wahrheit der Erziehung als die Erziehung selbst zu erweisen hat.
Aus welchen Gründen ist erzieherisches Handeln überhaupt zu rechtfertigen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage besteht in der Anerkenntnis, dass Erziehung zunächst einmal ein potentieller Schuldzusammenhang ist, ein Schuldzusammenhang deswegen, weil es sich bei Erziehung um ein steuerndes Eingreifen in die kognitive und emotionale Entwicklung eines Heranwachsenden handelt.[23] Deswegen bedarf Erziehung als solches einer grundsätzlichen Rechtfertigung, bei der der Rechtsanspruch der Individuen auf Subjekthaftigkeit von vorneherein berücksichtigt wird. Veranschaulicht werden kann dies an jener Begründungsform, die Johann Friedrich Herbart in seiner Allgemeinen Pädagogik aus dem Jahre 1806 entwickelt hat. Erziehung muss aus der Sicht der Erziehenden verstanden werden als Übernahme einer Verantwortung, für die sich der Erziehende vor dem Zögling zu rechtfertigen hat.
Das entsprechende hermeneutische Vorurteil lautet: Erziehung ist „die Kunst ein kindliches Gemüth in seinem Frieden zu stören – es an Zutrauen und Liebe zu binden, um es nach Gefallen zu drücken und zu reizen.“[24] Wie ist eine solche Kunst, eine solche Praxis angesichts des Postulats menschlicher Freiheit zu rechtfertigen? Ein solches Eingreifen ist gar nicht zu rechtfertigen, wenn es „nicht einen Zweck zu erreichen hätte, der solchen Mitteln eben in diesen Augen zur Entschuldigung dienen könnte, von welchem der Vorwurf zu befürchten stünde.“[25] Die Denkfigur ist deutlich: Erziehung ist potentiell immer ein Schuldzusammenhang, über den der Erzieher einst Rechenschaft abzulegen hat. Dem Zögling schreibt Herbart das Recht zu, seinen Erzieher zu fragen: Was hast Du Dir bei meiner Erziehung gedacht?
Erziehende müssen handeln. Wie können sie dies aber angesichts der Unsicherheit, ob der Zögling sie einst aus dem Schuldzusammenhang freisprechen wird? Sie können es nur, wenn sie das Beste aus dem Zögling zu machen versuchen, was möglich ist. Dafür ist es aber nach Herbart notwendig, zwischen den bloß möglichen und den notwendigen Zwecken der Erziehung streng zu unterscheiden.[26] Auf die bloß möglichen Zwecke, also diejenigen Zwecke, die beispielsweise die konkrete Berufswahl betreffen, kann der Erzieher nicht die Sicherheit bauen, später von seinem Zögling entschuldet zu werden. Möglich wäre es – bildlich gesprochen – den Zögling auf eine Tätigkeit im Bäckerhandwerk hinzulenken, obwohl er doch selbst viel lieber in der Metzgerei gelandet wäre. Nur die Ausrichtung auf die notwendigen Zwecke erfüllt das Kriterium, Erziehung rechtfertigen zu können. Diese notwendigen Zwecke sind durch drei Eigenheiten gekennzeichnet:
sie sind formal,
sie sind in ihrem formalen Charakter auf die lernenden Subjekte bezogen und
sie sind aus dem Wesen der Erziehung selbst zu gewinnen, d. h. diese Zwecke müssen nicht nur sinnvoll, sondern auch möglich, d. h. realisierbar sein.
Deswegen gelangt Herbart aus pädagogischen Erwägungen heraus zu seiner doppelten Zweckformulierung der Vielseitigkeit des Interesses einerseits, der Charakterstärke der Sittlichkeit andererseits, zusammengefasst in dem umfassenden Gedanken der Moralität. Die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit lautet demnach: Erziehung ist zu rechtfertigen nur durch diese subjektive Hinwendung zum Zögling, ist zu rechtfertigen nur dadurch, dass Moralität als allumfassender Zweck jeglicher Erziehung angestrebt wird. Sonst ist Erziehung ein schwer bzw. nicht zu rechtfertigender Eingriff in die Freiheit der Heranwachsenden.
Der Zweck der Erziehung steht fest – es geht um die Förderung der Anlagen der Kinder und Jugendlichen unter den beiden Teilperspektiven der Vielseitigkeit des Interesses und der Charakterstärke der Sittlichkeit. Eine Konsequenz dieser Variante einer Pädagogik vom Kinde[27] aus ist naheliegend: Die Diskussion von Zielen der Erziehung rückt deswegen in den Hintergrund, weil der subjektorientierte Zweck der Erziehung feststeht. Dem entgegen ist alle Aufmerksamkeit auf die Frage zu richten, auf welchem Wege denn die Vielseitigkeit des Interesses aufgebaut und so die Charakterstärke der Sittlichkeit vorbereitet werden kann. Konkrete Ziele der Erziehung werden nicht zwangsläufig sinnlos, aber doch für das Geschäft der Erziehenden weitgehend uninteressant. Worauf es ankommt ist primär die Entwicklung bestimmter Handlungsformen und die Diskussion dazugehöriger Handlungsnormen.
Zurückgeblickt: „Wahrheit“ wurde im vorliegenden Gedankengang verstanden als ein individuell zu leistendes und zu verantwortendes Konstrukt, über das Kommunikation hergestellt wird. „Wahrheit“ als Teil des Kommunikationsprozesses ist unabschließbar und offen. Pädagogisch kann dies unterschiedlich ausbuchstabiert werden. Unter dem Gesichtspunkt „Bildung“ als selbstreferentielle Steuerung von Lernprozessen erweist sich „Wahrheit“ in dem Bewusstmachen von Vorurteilen. Von außen betrachtet zeigt sich, dass mit Blick auf das Lernen „Wahrheit“ ein verbales Bekennen und eine verantwortende Praxis hin unterschieden werden können. „Erziehung“ kann wiederum auf verschiedenen Ebenen mit der Thematisierung von „Wahrheit“ verbunden werden. Am Ende dieses Blicks auf den Menschen als eines Lernenden bleibt die wohltuende Gewissheit, dass es „Wahrheit“ jenseits der individuellen Konstruktion nicht gibt. Da ist es geradezu beruhigend, dass es auch den Menschen nicht gibt. Nicht wahr, Mühlfellner?
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
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- Vorwort der Herausgebenden
- Editorial
- Unterscheiden, was zusammengehört
- Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
- Gott sei Dank, die Wahrheit
- Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
- Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
- Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
- Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
- „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
- Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
- Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
- Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
- Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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- Gott sei Dank, die Wahrheit
- Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
- Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
- Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
- Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
- „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
- Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
- Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
- Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
- Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.