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Von den NS-Tätern sprechen, der Opfer gedenken. Perspektiven einer deutsch-italienischen Erinnerung zwischen Forschung und Vermittlung

  • Annika Duin EMAIL logo und Victoria Witt EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 7. November 2025
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Die Frage nach einer angemessenen und gemeinsamen Erinnerung an die NS-Verbrechen in Italien zwischen 1943 und 1945 bleibt nach wie vor eine zentrale historische, gesellschaftliche und politische Herausforderung. In Italien stand lange Zeit das Gedenken an die Opfer im Mittelpunkt, während in Deutschland über Jahre hinweg die Verbrechen der Wehrmacht und der Waffen-SS während der nationalsozialistischen Besatzung weitgehend verschwiegen wurden. Erst in den letzten Jahrzehnten haben neue Forschungsansätze und öffentliche Debatten das komplexe Zusammenspiel von Erinnerung, Verantwortung und Aufarbeitung differenzierter beleuchtet.

Vor diesem Hintergrund fand am 9.–10. Dezember 2024 der internationale Workshop „Von den NS-Tätern sprechen, der Opfer gedenken. Perspektiven einer deutsch-italienischen Erinnerung zwischen Forschung und Vermittlung / Ricordare le vittime, riflettere sui perpetratori nazisti. Culture della memoria italo-tedesche e prospettive di ricerca e disseminazione“ in Kooperation zwischen dem Deutschen Historischen Institut in Rom und der Universität zu Köln statt und wurde vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland gefördert. Eine Simultanübersetzung ermöglichte es, italienische, deutsche und französische Beiträge in einen transnationalen Dialog zu bringen. Ziel des Workshops war es, eine Balance zwischen der kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle der NS-Täter und dem Gedenken an die Opfer zu finden. Dabei wurde auch untersucht, warum es bisher nur in begrenztem Umfang gelungen ist, eine integrierte, grenzübergreifende Erinnerungskultur zu etablieren. Neben der geschichtswissenschaftlichen Analyse der NS-Verbrechen wurden mediale, theatrale und digitale Beiträge zur Weiterentwicklung und Differenzierung der Erinnerungskultur im Kontext der Public History erörtert. Ein zentraler Bezugspunkt der Tagung war das von Dr. Carlo Gentile und Udo Gümpel geleitete Forschungsprojekt „NS-Täter in Italien 1943–45“ sowie die dazugehörige Webseite, die nicht nur die deutschen Gewaltverbrechen dokumentiert, sondern auch gezielt die Täter und ihre Perspektiven auf die Taten in den Blick nimmt. Inhaltlich befasste sich die Tagung mit der Identifikation zentraler Problemfelder der Vergangenheit und Zukunft der Erinnerung sowie mit der Diskussion möglicher Ansätze zur Vertiefung des historischen Bewusstseins in vier Bereichen: Täterforschung und Öffentlichkeit, Erinnerungs- und Darstellungsformen der Täter, die Herausforderungen einer deutsch-italienischen Erinnerungskultur sowie die Medialisierung in der NS-Historiographie.

Einführend in das erste Panel „Täterforschung und Öffentlichkeit“ thematisierte Carlo Gentile (Köln) die fragmentierte und oft polarisierte Erinnerung an die NS-Verbrechen in Italien sowie die anhaltenden selektiven Erinnerungsnormen in Deutschland. Während in Italien die Wahrnehmung der deutschen Verantwortung häufig unscharf und distanziert blieb, prägte in Deutschland ein „kommunikatives Beschweigen“ (Hermann Lübbe) die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Zwar seien diese Erinnerungsmuster durch die Arbeit von Historiker*innen, Journalist*innen und Jurist*innen allmählich aufgebrochen worden, doch bestehe weiterhin ein erheblicher Unterschied zwischen der gewaltvollen Besatzungserfahrung und ihrer heutigen Erinnerung – oft ohne eine klare Verortung der Verantwortlichen. In seinem Vortrag „Von den Tätern sprechen, der Opfer gedenken“ betonte Gentile, dass diese Asymmetrien eine multidirektionale und transnationale Aufklärung weiterhin erforderlich machen. Die Täterforschung, insbesondere durch Projekte wie die Webseite „NS-Täter in Italien 1943–45“, leiste einen wichtigen Beitrag zur Etablierung einer differenzierteren Erinnerungskultur in beiden Ländern. Eine vollständige Aufarbeitung erfordere laut Gentile nicht nur die alleinige Fokussierung auf Opferperspektiven oder politische Strukturen; vielmehr sei es entscheidend, diese mit einer Analyse der Rollen und Motive der Täter zu verknüpfen, um die Mechanismen der Gewalt gewöhnlicher Menschen besser zu verstehen.

Die Webseite „NS-Täter in Italien 1943–45“ zielt darauf ab, die Perspektive auf die Täter zu präzisieren, indem sie deren Biographien sowie die Gewaltverbrechen unter deutscher Besatzung systematisch rekonstruiert. In der Präsentation durch Milan Spindler (Köln) wurde die Dreisprachigkeit des Angebots – Deutsch, Englisch, Italienisch – als ein zentraler Faktor hervorgehoben. Sie fördert nicht nur die Inklusivität, sondern ermöglicht auch eine transnationale und nuancierte Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in Italien. Durch die verknüpfte Darstellung von Täterbiographien, Massakern und übergreifenden, kontextualisierenden Rubriken, die bislang meist isoliert betrachtet wurden, entsteht ein umfassenderes Verständnis der Verbrechen. Diese innovative Zusammenführung verschiedener Perspektiven eröffnet eine interaktive, multimediale Annäherung an die Täterforschung in Italien und Deutschland. Damit trägt die Plattform maßgeblich dazu bei, das Bewusstsein für die realen Verantwortlichen zu schärfen und zugleich entlastende Narrative zu entkräften, die die Täterschaft relativieren oder leugnen. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der Darstellung der Nachkriegszeit, die exemplarisch die fortbestehenden Defizite in der Aufklärung und Strafverfolgung der Massaker aufzeigt.

Wie Täter ihre eigenen Taten erinnern und darstellen, bewegt sich im Spannungsfeld von Schuld, Leugnung und kognitiver Dissonanz – ein Thema, dem sich die Beiträge des zweiten Panels widmeten, das von Lutz Klinkhammer (Rom) moderiert wurde. Teresa Malice (Bielefeld) erweiterte die Diskussion um die Perspektive der „Bystander“ und zeigte, dass die Grenzen zwischen aktivem Täterhandeln und passivem Zuschauen oft fließend sind. Sie untersuchte, welche analytischen Potenziale diese dritte Kategorie für die Erforschung der italienischen Zivilbevölkerung im Kontext von Shoah, Faschismus und Besatzungsgeschichte bietet. Das Bystander-Konzept ermögliche es, starre Kategorisierungen aufzubrechen und das Verhalten der Mehrheitsgesellschaft differenzierter zu erfassen. Täter deuten, rechtfertigen oder verschweigen ihr Handeln auf unterschiedliche Weise – von Verdrängung über Umdeutung bis zur Schuldabwehr durch Relativierung oder Täter-Opfer-Umkehr. Persönliche Rechtfertigungen greifen dabei häufig auf gesellschaftlich etablierte Narrative zurück, wie den Mythos der „brava gente“, der über Jahrzehnte die Wahrnehmung von Verantwortung prägte. Während einige Täter sich auf äußeren Zwang beriefen, wurden andere in heroische Erzählungen eingebunden, die ihre Beteiligung an Gewalt überlagerten. Schuld manifestiere sich jedoch nicht nur in expliziten Aussagen, sondern auch in Leerstellen, in denen Verschweigen oder fehlendes Erinnern eine zentrale Rolle spielen. Die Bystander bewegten sich Malice zufolge in einer Grauzone: Ihre Verantwortung wurde lange als bloßes Nichts-Tun interpretiert, ohne die strukturellen und situativen Dimensionen zu berücksichtigen. Zur Analyse dieser Zwischenebene seien insbesondere Tagebücher und Stimmen der Zivilbevölkerung aus den Jahren 1943 bis 1945 von Bedeutung, da sie individuelle Positionierungen und subjektive Deutungen der Verantwortung adäquater erfassen.

Während passive Täterschaft oft erst durch spätere Deutungen erkennbar wird, verdeutlichen Massaker wie das von San Polo (14. Juli 1944) die Dynamik des aktiven Täterhandelns im Moment des Geschehens. In seinem Beitrag hob Aiko Hillen (Köln) hervor, dass Gewalt nicht nur durch Befehlsstrukturen, sondern auch durch situative Dynamiken, emotionale Zustände der Täter und gruppenspezifische Radikalisierungen geprägt war. Beim Massaker in San Polo tötete das Grenadier-Regiment 274 unter der Führung von Oberst Wolf Ewert 69 Menschen, überwiegend Zivilpersonen. Hillen betrachtete es als ein Beispiel für die zunehmende Radikalisierung der Gewalt in der Endphase des Krieges während der deutschen Besatzung. Nach einer detaillierten phänomenologischen Darstellung auf Basis späterer Ermittlungsakten stellte Hillen heraus, dass die Tötungen nicht nur aus der Logik eines Partisaneneinsatzes erfolgten, sondern als eine exzessive Brutalisierung verstanden werden müssen. Diese Brutalisierung ging oft über militärische Notwendigkeiten hinaus, was sich in der Heranziehung extraletaler Gewalt zeigte. Hillen argumentierte, dass entgrenzte Gewalt aus situativen Faktoren wie der Dynamik innerhalb des Pionierzuges des Regiments, aber auch der affektgeladenen Befehlsgewalt durch den Kommandeur Ewert resultierte. Er erklärte die mitunter sprunghaften Handlungsentscheidungen anhand des Konzepts der „Vorwärtspanik“. Während die etablierte Täterforschung bereits wertvolle Ansätze bietet, um die sozialen und psychologischen Dimensionen der Gewaltakteure zu analysieren, bleibt offen, inwieweit individuelle Entscheidungsspielräume genutzt oder ignoriert wurden. Um die Dynamik solcher Gewaltverbrechen zu verstehen, ist es laut Hillen notwendig, eine Perspektive einzunehmen, die nicht nur strukturelle und ideologische Erklärungen einbezieht, sondern auch die Bedeutung situativer Eskalationen.

Die unzureichende Auseinandersetzung mit der Täterforschung in Italien, wie von Amedeo Osti Guerrazzi (Padova) dargelegt, führt dazu, dass vor allem die Opfer und die deutschen Täter in den Fokus gerückt werden, wobei die Rolle italienischer Akteur*innen sowie die strukturellen Bedingungen der Gewalt dabei häufig ausgeklammert werden. Osti Guerrazzi wies darauf hin, dass sprachliche Barrieren nur einen Teil des Problems ausmachen. Besonders tief verwurzelte Narrative über die „brava gente“ und die langjährige Fokussierung auf den „bösen Deutschen“ verhinderten eine systematische Auseinandersetzung mit italienischen Verbrechen. Die Täterforschung biete jedoch vielversprechende methodische Ansätze, um die Rolle Italiens im Zweiten Weltkrieg differenzierter zu beleuchten – insbesondere im Hinblick auf die italienische Kriegsführung auf dem Balkan und in den Kolonien sowie die Kollaboration, Partisanenbekämpfung und die Shoah. Dass biographische Untersuchungen zu italienischen Tätern, etwa im Polizeiapparat, bislang nahezu fehlen, veranschauliche die strukturellen Defizite der italienischen Historiographie. Gleichzeitig deuten die wenigen vorhandenen Studien darauf hin, dass die Täterforschung auch in Italien produktiv adaptiert werden könnte. Dies erfordert jedoch eine bewusste methodische Öffnung der nationalen Forschung. Entscheidend wird sein, so Osti Guerrazzi, ob eine neue Generation von Historiker*innen bereit ist, die in diesem Kontext verfestigten akademischen und gesellschaftlichen Widerstände zu überwinden. Die Auseinandersetzung mit der italienischen Täterschaft stelle daher nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische und erinnerungskulturelle Herausforderung dar.

Annika Duin (Köln) trug zur weiteren Differenzierung des kollektiven, funktionalen und emotionslosen NS-Täterprofils bei – nicht, um Tat oder Täter zu relativieren, sondern um ein nuancierteres Bild zu zeichnen, das „situative Handlungsbedingungen und individuelle Dynamiken“ stärker betont als pauschale strukturelle Erklärungen. Auf Basis der Briefe dreier Wehrmachtsoffiziere – Hermann Balck, Hans-Dietrich Michelsen und Edgar Blume – an ihre Ehefrauen untersuchte sie aus einer emotions- und geschlechtergeschichtlichen Perspektive die Verflechtung von Liebe und Krieg. Explizite Kriegserfahrungen spielten in den Briefen aus Italien 1943/1944 aufgrund innerer wie äußerer (Selbst-)Zensur meist eine Nebenrolle. Stattdessen dienten sie der Versicherung von Zuneigung und boten emotionale Stabilität. Feldpostbriefe, so Duin, eröffneten einen textuellen Raum für Gefühle und Erfahrungen, der sowohl die Gefühlskultur der Verfasser als auch ihre Verortung im idealisierten Raum der Heimat sowie ihre Geschlechterkonzepte widerspiegelte. Liebe, Sorge und Sehnsucht standen dabei im Zentrum – modellierte Beziehungsverhältnisse, die der brutalen Kriegsrealität widersprachen. Das emotionale Repertoire sei häufig mit imaginierten Orten verknüpft worden: Die Verfasser schrieben sich aus der Kriegssituation heraus und in familiäre Netzwerke der Heimat hinein. Balck, Michelsen und Blume beriefen sich wiederholt auf das Weiblichkeitsideal ihrer Frauen als Mütter, das einen zentralen Bestandteil des nationalsozialistischen Weltbildes darstellte. Zugleich blieb das Selbstbild des unerschütterlichen Soldaten dominant, während Zweifel oder Schwäche ausgeklammert wurden. Die Briefe untermauern, dass Geschlechterbilder nicht nur reflektiert, sondern durch emotionale Kommunikation auch performativ reproduziert wurden. Nicht die Kriegsabläufe selbst standen Duin zufolge im Fokus der Briefe, sondern eine emotionale Ausdrucksweise, die Normalität suggerierte – und so verschleierte, dass die Verfasser zugleich Teil der nationalsozialistischen Gewaltordnung waren.

Wie aber wurden die Täter und ihre Taten konkret erinnert, und wie fand diese Erinnerung ihren Weg in die öffentliche Wahrnehmung in Deutschland und Italien? Mit der Frage, wie Erinnerungskulturen in unterschiedlichen historischen Kontexten geformt und verändert werden, setzte sich das dritte Panel unter der Moderation von Filippo Focardi (Padova) auseinander. Victoria Witt (Köln) erörterte die Auseinandersetzung mit lokalen Erinnerungsräumen anhand der komplexen Erinnerungslandschaft in Bozen. Die Dokumentationsausstellung zum Siegesdenkmal in Bozen illustriere die Spannungen zwischen italienischer und deutschsprachiger Erinnerungskultur und die Herausforderungen einer gemeinsamen historischen Aufarbeitung. Jahrzehntelang wurde das Denkmal als Symbol der faschistischen Italianisierungspolitik interpretiert und von verschiedenen politischen Lagern instrumentalisiert. Mit der Ausstellung „BZ ’18–’45: Ein Monument, eine Stadt, zwei Diktaturen“ soll der Versuch unternommen werden, eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit zu ermöglichen, ohne die unterschiedlichen historischen Perspektiven zu vernachlässigen. Witt zeigte anhand des Dokumentationszentrums auf, dass Erinnerung nicht statisch ist, sondern kontinuierlich neu verhandelt und gestaltet werden muss. Der Umgang mit dem Siegesdenkmal verdeutlicht, wie durch historisch fundierte Vermittlungsarbeit Räume für Diskussionen entstehen können, die über nationale und ethnische Grenzen hinausreichen.

Im Beitrag von Eloisa Betti (Padova) wurde ebenfalls die Konstruktion eines öffentlichen Gedächtnisses und dessen nationale sowie historiographische Verortung thematisiert. Am Beispiel des Massakers am Monte Sole (29. September bis 5. Oktober 1944) zeigte sie, wie offizielle Gedenkveranstaltungen die Erinnerung prägen und eng mit dem Engagement lokaler und nationaler Institutionen verknüpft sind. Die hohe Opferzahl und die Mobilisierung breiter gesellschaftlicher Bewegungen trugen dazu bei, dass das Massaker von Marzabotto/Monte Sole erheblichen Einfluss auf die italienische Erinnerungspolitik nahm – obwohl bis in die frühen 2020er Jahre wenig wissenschaftliche Forschung zu den vielfältigen Formen der Erinnerung an dieses grausame Verbrechen vorlag. Der politische Wille zur „Versöhnung“ im Kontext des Kalten Krieges sowie die öffentliche Verankerung des Massakers begünstigten eine narrative Trennung zwischen den nationalsozialistischen Tätern und der deutschen Mehrheitsbevölkerung, die auch in Italien Wirksamkeit entfaltete. Weniger die Geschichtswissenschaft als zivilgesellschaftliches Engagement für Gedenkfeiern haben das Massaker in die Dynamiken nationaler Erinnerungspolitik eingebunden. Angesichts der Wechselwirkungen zwischen lokaler und nationaler Erinnerung – wie am Besuch von Johannes Rau 2002 als zentralem Gedenkmoment illustriert – müsse das Massaker laut Betti künftig translokal betrachtet werden, da es einen Schnittpunkt zwischen öffentlicher, familiärer und gemeinschaftlicher Erinnerung bildet.

Aufgrund der tiefen Verwurzelung der nationalsozialistischen Besatzung im Gedächtnis vieler Italiener*innen initiierten Patrizia Piredda und Gianluca Cinelli (Rom) im Jahr 2024 das Projekt „MemoGen. The Legacy of the Second World War in the Memory of the Third Generation“. Während die erste und zweite Generation als direkte Zeitzeug*innen der NS-Herrschaft bereits umfassend in Oral-History-Projekten untersucht worden seien, fehle es an Dokumentationen zu den Auswirkungen der NS-Verbrechen auf spätere Generationen. „MemoGen“ setzt hier an und erforscht, wie sich die Erinnerung an die Besatzungszeit über Jahrzehnte gewandelt hat, welche Rolle die familiäre Weitergabe der Kriegserfahrungen spielt und inwiefern diese bis heute die Alltagskultur prägt. Dazu werden im Rahmen des Projekts Angehörige der dritten Generation (geboren 1965–1985) befragt, um zu analysieren, wie diese die Kriegserfahrungen ihrer Vorfahren verarbeitet haben – insbesondere im Hinblick auf emotionale Prägungen und narrative Nachbearbeitungen. Die bisherigen, von interdisziplinären Expert*innen geführten über 120 Interviews zeigen, dass „die Deutschen“ häufig als diffuse kollektive Besatzungsmacht wahrgenommen werden. Sie stehen stellvertretend für die nationalsozialistischen Verbrechen, jedoch ohne detaillierte Kenntnisse über Täter oder Taten. So bleiben die deutschen Kriegsverbrechen einerseits vage, andererseits aber transgenerational präsent und gesellschaftlich wirksam. Achtzig Jahre nach Kriegsende, so das Resümee von Piredda und Cinelli, seien angesichts von Migration und Pluralisierung transnationale und plurizentrische Erinnerungsmuster erforderlich, um dieses Erbe zu bewahren und weiterzuentwickeln.

Die abendliche Keynote-Lecture, die die Themen des ersten Workshoptages – das Handeln der Täter sowie die Erinnerung und Erforschung ihrer Taten – miteinander verband, hielt Habbo Knoch (Köln). Nur wenige Tage nach dem Workshop, am 11. Dezember 2024, verstarb er. Es war zugleich sein letzter wissenschaftlicher Vortrag, den er mit charakteristischer Brillanz und analytischer Schärfe präsentierte. In seinem Beitrag „Gewaltlust. Affekte und Massenmorde im Nationalsozialismus“ setzte er sich mit der Rolle affektiver Motivationen in der NS-Gewalt auseinander und fragte, warum die Forschung lange zögerte, Lust an der Gewalt als zentrales Element des Täterhandelns zu betrachten. Knoch argumentierte, dass NS-Massengewalt nicht allein als rational organisierter Vernichtungsprozess verstanden werden könne, sondern dass Euphorie, Enthemmung und ein Gefühl der Ermächtigung darin eine zentrale Rolle spielen. Gewalt war für viele Täter nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein Moment der Selbststeigerung, das sie in eine neue soziale Ordnung einband. Dabei stellte Knoch die Frage, ob Täter ihre Taten womöglich als „attraktive Handlungsoption“ (Jörg Baberowski) empfanden und wie sich Gewalt durch positive Rückkopplungsschleifen verstärkte. Zugleich akzentuierte er, dass sich die Forschung lange davor scheute, diese Dynamiken zu analysieren, um nicht in eine individualisierende oder pathologisierende Perspektive zu verfallen. Indem er affektive Gewaltlust als integralen Bestandteil organisierter Massengewalt und als ein verschmelzendes, epiphanisches Phänomen vergesellschafteter Gewalt deutete, plädierte er für eine differenzierte Betrachtung der NS-Verbrechen, die strukturelle und emotionale Faktoren gleichermaßen berücksichtigt. Sein Vortrag zeigte, dass die Erforschung der Täter nicht nur ihre Handlungen rekonstruieren, sondern auch tiefere Einsichten in die Mechanismen kollektiver Gewalt und deren langfristige Folgen für Erinnerung und Aufarbeitung ermöglichen kann. Nicht nur an diesem Abend leistete Knoch einen bedeutenden Beitrag zur Täter- und Gewaltforschung des 20. Jahrhunderts und eröffnete neue Perspektiven für die Untersuchung der Dimensionen der NS-Gewalt.

Anknüpfend an die Chancen und Grenzen einer zukünftigen Erinnerungskultur widmete sich das vierte Panel am Vormittag des zweiten Workshoptages unter der Leitung von Thomas Schlemmer (München) dem Thema „Medialisierung und digitale Innovation in der NS-Historiographie. Herausforderungen und Chancen der Public History“. Zunächst setzte sich Steffi De Jong (Trondheim) mit neuen Ansätzen im Holocaust-Gedenken auseinander, indem sie das Virtual-Reality-Projekt „Witness: Auschwitz“ untersuchte. Dieses wurde 2017 auf der Gamescom in Köln von dem italienischen Studio 101 % in Zusammenarbeit mit der italienisch-israelischen Kommunikationsagentur IsayWeb vorgestellt. Das Projekt, das bis heute nicht abgeschlossen ist, löste eine intensive Debatte über die ethischen Herausforderungen virtueller Darstellungen des Holocausts aus. De Jong betrachtete VR-Simulationen wie „Witness: Auschwitz“ als den Beginn einer neuen Phase in der Holocaust-Erinnerung, die sie als „digitale, körperliche und affektive Phase“ bezeichnete. Diese Phase sei durch den Einsatz „immersiver Technologien“ geprägt, die darauf abzielen, historische Ereignisse emotional zu vergegenwärtigen. Das Ziel der Initiator*innen sei es, durch Präsenzerfahrungen, etwa durch die Simulation von Vernichtungsorten wie Auschwitz, Empathie zu erzeugen. De Jong kritisierte jedoch die vereinfachte Annahme, dass virtuelle Erlebnisse automatisch zu einem tieferen Verständnis der NS-Verbrechen führen. Sie hob hervor, dass Projekte wie „Witness: Auschwitz“ auf Fotorealismus und „ikonische Superzeichen des Holocausts“ (Manuel Köppen) setzen, etwa rote Schuhe, braune Koffer und das Eingangstor von Auschwitz-Birkenau. Diese Bilder sollen eine Brücke zu existierenden Erfahrungen bieten, die Nutzer*innen aus Filmen und Fotografien kennen. De Jong wies jedoch auf die historische Ungenauigkeit solcher Darstellungen hin. Zudem werden die Opfer häufig auf eine abstrakte, kollektive Erfahrung reduziert, wodurch ihre individuelle Entmenschlichung in der digitalen Sphäre reproduziert wird. Abschließend plädierte De Jong für ein differenzierteres Verständnis von Empathie im Kontext der Holocaust-Erinnerung. Es sei entscheidend, die Kluft zwischen den realen Erfahrungen der Opfer und der Wahrnehmung der Nutzer*innen anzuerkennen und diese nicht zu vereinfachen.

Elena Pirazzoli (Bologna) präsentierte ebenfalls innovative Ansätze zur Geschichtsvermittlung und gewährte vertiefte Einblicke in die Arbeit der Theatergruppe „Archiviozeta“, die historische Schauplätze des 20. Jahrhunderts, wie den deutschen Soldatenfriedhof am Futa-Pass, die Ruinen am Monte Sole und die Mahnmale in Marzabotto, als „Erinnerungslandschaften“ nutzt. Diese Orte, die durch ihre dichte historische Bedeutung geprägt sind, beeinflussen die Dramaturgie der Inszenierungen. Pirazzoli akzentuierte, dass die Interaktion des Publikums mit diesen Schauplätzen nicht nur die Aufführung selbst modifiziere, sondern auch die Interpretation der Geschichte verändere. Sie erläuterte zwei performative Konzepte, bei denen historische Stätten mit Archivmaterial in Beziehung gesetzt wurden: Ein zentrales Beispiel bildete das Reenactment des Prozesses gegen Walter Reder von 1951, der durch eine Wanderung vom Militärgericht in Bologna zum symbolträchtigen Ort faschistischer Gewalt, der Villa Aldini, nachgezeichnet wurde – begleitet von der Theatergruppe sowie dem Publikum. Ein weiteres Projekt, initiiert anlässlich des 77. Jahrestages des Massakers von Monte Sole im Oktober 2022, integrierte Klanginstallationen mit Zeug*innenaussagen aus dem Prozess gegen Reder. In diesem Stück wurde das Publikum erneut mit der Aufgabe betraut, wie schon 1967 beim Referendum über die Begnadigung des Waffen-SS-Majors, eine Entscheidung über seine Begnadigung zu treffen. Für Pirazzoli stellen diese Inszenierungen Reflexionsräume über die menschliche Natur zwischen Mythos und Geschichte dar. Sie fungieren gleichzeitig als erinnerungs- und bildungspolitische Projekte, die Ansätze der Public History aufgreifen. So sollen sie sowohl Schüler*innen als auch Erwachsenen in Italien und Deutschland verschiedene Perspektiven auf historische, baugeschichtliche und erinnerungskulturelle Themen näherbringen.

Auch Lydia Elhadad (Paris) beschäftigte sich mit Aspekten der Public History, indem sie Musealisierungsstrategien des Zweiten Weltkriegs vorstellte. Sie unterstrich, dass jede Ausstellung ein Publikum voraussetzt, und analysierte, wie Erinnerungsmechanismen, Massengewalt und Trauma im Museumskontext pädagogisch vermittelt werden können. Dabei hob sie hervor, dass Ausstellungen immer auch emotionale Erlebnisse für die Besucher*innen darstellen und in Wechselwirkung mit ihnen stehen. Diese Interdependenz trage dazu bei, die Vergangenheit nicht nur in die Gegenwart und Zukunft zu überführen, sondern sie auch aktiv durch Wahrnehmung und Reaktion des Publikums mitzugestalten. Wie können komplexe historische Phänomene im Ausstellungskontext zielgruppenorientiert vermittelt werden? Und inwiefern unterscheiden sich diese Darstellungen von denen anderer Medien wie Büchern oder Filmen? Elhadad veranschaulichte diese Fragen anhand zweier Beispiele: einer Ausstellung zum Sammel- und Durchgangslager Drancy sowie einer zur Erinnerung an das Massaker von Oradour am 10. Juni 1944. Sie betonte, wie entscheidend es sei, das Leben der Opfer in seiner gesamten Vielschichtigkeit darzustellen – einschließlich oft vernachlässigter Themen wie olfaktorische Aspekte oder Sexualität. Besucher*innen von Ausstellungen und Gedenkorten sollten so etwa das durch Oradour verkörperte Trauma des Krieges in Frankreich auf mikrohistorischer Ebene erfassen können. Laut Elhadad bieten Tagebücher, Fotografien, 3D-Modelle, Karten, architektonische Rekonstruktionen und weitere Medien die Möglichkeit, Gewaltorte und beteiligte Akteur*innen in ihrer Diversität interdisziplinär und intermateriell darzustellen. Dadurch lassen sich Wahrnehmungsangebote schaffen, die es dem Publikum ermöglichen, sowohl kollektive als auch individuelle Perspektiven von Opfern und Tätern in ihren jeweiligen Kontexten besser nachzuvollziehen.

Jens Jäger (Köln) griff den Aufruf zur Nutzung verschiedener Quellengattungen auf und schloss das Panel über digitale Innovation und Medialisierung mit einer Reflexion zur Ambivalenz von Fotografien als historischen Quellen ab. Er beleuchtete die Herausforderungen und Potenziale, die Fotografien insbesondere für die Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Erinnerung bieten. Fotografien werden oft als „starke Dokumente“ angesehen, da sie als visuelle Zeugnisse gelten, denen eine „scheinbar geringe Subjektivität“ zugeschrieben wird. Diese Wahrnehmung beruhe auf der verbreiteten Assoziation von Fotografien mit unmittelbarer Augenzeug*innenschaft – obwohl ihre Aussagekraft letztlich von der Integrität der jeweiligen Zeug*innen abhänge. Zudem besitzen Fotografien eine hohe emotionale Wirkkraft, die zu vorschnellen Deutungen führen kann. Gleichzeitig wies Jäger auf fünf zentrale Problembereiche hin, die Fotografien zu „schwachen Quellen“ machen könnten: Manipulationsmöglichkeiten, Schwierigkeiten bei der Analyse, unklare Provenienzen, die Begrenzung auf einen isolierten Moment sowie das Fehlen eines eindeutigen Sinns. Diese vermeintlichen Schwächen relativierte er, indem er aufzeigte, dass Fotografien – wie alle Quellen – einer kritischen Analyse unterzogen werden können. Zusätzliche Informationen aus Archiven und fotointerne Hinweise ermöglichen etwa die Rekonstruktion von Kontext und Objektgeschichte. Anhand eines konkreten Beispiels aus der Bildserie „Vom Donez zum Don“ aus dem Jahr 1942 demonstrierte Jäger, wie eine reflektierte Untersuchung von Fotografien neue Fragestellungen eröffnet und zu präziseren historischen Erkenntnissen führen kann. Der Sinn eines Fotos liege nicht nur im Motiv, sondern vor allem in der Bedeutung, die ihm die fotografierende Person beimaß. Fotografien seien daher keineswegs per se „schwache Quellen“, sondern – wie alle historischen Zeugnisse – von spezifischen medialen, ästhetischen und kontextuellen Bedingungen geprägt, die es analytisch zu erschließen gilt.

In der Abschlussdiskussion, moderiert von Michela Ponzani (Rom), wurden die vier thematischen Schwerpunkte des Workshops miteinander verknüpft. Dabei wurde erneut die Bedeutung der Erinnerung für das deutsch-italienische Verhältnis unterstrichen – ein Thema, das auch im aktuellen politischen Diskurs zunehmend an Bedeutung gewinnt und durch den Workshop weiter hervorgehoben wurde. Wie in den Panel-Beiträgen mehrfach betont, birgt eine bilaterale Erinnerungskultur weiterhin Konfliktpotenzial, da sie in beiden Ländern unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Um diesen Differenzen gerecht zu werden, ist eine stärkere Verzahnung der Erinnerungskulturen notwendig, die zugleich Raum für bestehende Unterschiede lässt. Trotz der Verweise auf wertvolle Grundlagenforschung wurden im Verlauf des Workshops bestehende Forschungslücken sichtbar. Die diskutierten Ansätze lieferten wertvolle Impulse – sei es durch translokale und plurizentrische Ansätze aus der Täter- und Emotionsforschung oder durch die Erschließung neuer Quellen, Medienformate und Ausstellungskonzepte. Laut Paolo Fonzi (Neapel) sei es dabei entscheidend, die Gewalttaten und -orte nicht durch ritualisierte und kommerzialisierte Darstellungen zu entleeren, sondern auch junge Menschen für die Auseinandersetzung mit der NS-Täterschaft zu gewinnen. In diesem Zusammenhang leisten, so Thomas Schlemmer, partizipative Elemente der Public History, wie das Verlegen und Suchen von Stolpersteinen oder Projekte wie die Webseite „NS-Täter in Italien 1943–45“ sowie „Le vittime italiane del Nazionalsocialismo: le memorie dei sopravvissuti“ („Die italienischen Opfer des Nationalsozialismus: die Erinnerungen der Überlebenden“), einen wichtigen Beitrag. Die noch immer nicht abgeschlossene Auseinandersetzung mit der NS-Täterschaft in Italien bleibt untrennbar mit dem Gedenken an die Opfer verbunden. Diesem Anliegen werden wir uns, ganz im Sinne von Habbo Knoch, weiterhin mit Entschlossenheit widmen – in tiefer Trauer und aufrichtiger Bewunderung.

Published Online: 2025-11-07
Published in Print: 2025-11-03

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Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Jahresbericht des DHI Rom 2024
  3. Themenschwerpunkt L’Impero e le sue narrazioni nel pieno e tardo medioevo (XIII–XIV sec.), herausgegeben von Caterina Cappuccio
  4. L’Impero e le sue narrazioni nel pieno e tardo medioevo (XIII–XIV sec.)
  5. Electione de eo canonice celebrata
  6. Un Impero vacante? La signoria sovralocale di Oberto Pelavicino in Lombardia tra idealità imperiale e città (1249–1259)
  7. Un regno senza impero?
  8. Narrazione e percezione dell’impero nella cronachistica
  9. Artikel
  10. Building an Aristocratic Identity in Medieval Italy
  11. Memorie della Chiesa di Molfetta
  12. „Per fuoco e per estimo“
  13. Fonti e approcci sulla fiscalità pontificia per la Basilicata del XIV secolo
  14. La comunità tedesca a L’Aquila tra i secoli XV–XVI
  15. Whose Bishop/Who’s the Bishop?
  16. Si in evidentem: Pacht von Kirchengut über die Pönitentiarie
  17. Rhetorical vs. Historical Discourse?
  18. Ottavio Villani – ein Gegner der päpstlichen Politik im Dreißigjährigen Krieg
  19. Italian and German Colonialism beyond Comparison
  20. Geleitwort zum Beitrag „Gewaltlust“ von Habbo Knoch
  21. Gewaltlust
  22. Forum
  23. Der Gastronationalismus und Alberto Grandis Thesen – oder: Zur Prägekraft der italienischen Küche
  24. Tagungen des Instituts
  25. I monasteri di Subiaco e Farfa come crocevia monastico-culturale nei secoli XV e XVI
  26. Von den NS-Tätern sprechen, der Opfer gedenken. Perspektiven einer deutsch-italienischen Erinnerung zwischen Forschung und Vermittlung
  27. Circolo Medievistico Romano
  28. Circolo Medievistico Romano 2024
  29. Nachrufe
  30. Cosimo Damiano Fonseca (1932–2025)
  31. Dieter Girgensohn (1934–2025)
  32. Gerhard Müller 1929–2024
  33. Rezensionen
  34. Verzeichnis der Rezensionen
  35. Leitrezensionen
  36. Tra reti politiche e prassi documentarie
  37. Una rete di persone
  38. Ein weiteres langes „langes Jahrhundert“?
  39. Rezensionen
  40. Verzeichnis der Rezensent*innen
  41. Register der in den Rezensionen genannten Autor*innen
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