Mit Habbo Knoch hat die deutsche Zeitgeschichtsforschung im Dezember 2024 viel zu früh einen ihrer profiliertesten Vertreter verloren. Abgesehen von einem faszinierenden Ausflug in die Gesellschaftsgeschichte um 1900 anhand von Grandhotels in Berlin, London und New York, denen er seine Göttinger Habilitationsschrift gewidmet hat,[1] stand seine gesamte wissenschaftliche Arbeit im Zeichen der Erforschung von Ursachen, Beschaffenheit und Folgen nationalsozialistischer Gewalt. Im Kern trieb ihn dabei die eminent politische Frage um, wie ein angemessener Umgang der Nachgeborenen mit diesen Menschheitsverbrechen aussehen könnte. Wo andere einen Schlussstrich ziehen wollten, machte er ein Ausrufezeichen – so könnte man sein Wirken vielleicht am ehesten zusammenfassen.
Wer am 9. Dezember 2024 seine Keynote Lecture am DHI Rom erleben durfte, wurde entsprechend Zeuge eines für ihn typischen, ebenso engagierten wie theoretisch versierten Vortrags. Es handelte sich um den Höhepunkt eines vom Institut gemeinsam mit seiner Heimatuniversität Köln ausgerichteten Workshops, auf der es unter der Überschrift „Von den Tätern sprechen, der Opfer gedenken“ darum gehen sollte, „Perspektiven einer deutsch-italienischen Erinnerung zwischen Aufarbeitung und Vermittlung“ auszuloten. Habbo Knochs Vortrag ging jedoch noch einmal auf die genuin historische Ebene zurück und stellte die Frage nach den Bedingungsfaktoren für die Eskalation der Gewalt gegenüber denjenigen Menschen, die als ‚gemeinschaftsfremd‘ aus der NS-‚Volksgemeinschaft‘ ausgegrenzt wurden oder nie Zugang zu ihr bekommen hatten. Dass dabei auch ‚positive‘ Affekte wie Lust an der Gewalt und Freude am Quälen von Schwächeren eine nicht unerhebliche Rolle gespielt hatten, war die These, die Habbo Knoch anhand zahlreicher Quellenbeispiele zur Diskussion stellte, in enger Auseinandersetzung mit der ihrerseits kenntnisreich analysierten Forschung.
Nachzulesen sind seine Überlegungen in seinem für die mündliche Präsentation in Rom leicht gekürzten Manuskript, das wir im Folgenden in ganzer Länge abdrucken. Auch die Fußnoten gehen größtenteils noch auf den Verfasser zurück. Rein gar nichts hatte bei seinem Auftritt darauf hingedeutet, dass es sein letzter bleiben würde – im Gegenteil. Er freute sich auf ein Sabbatical am Hamburger Institut für Sozialforschung, das er nutzen wollte, um die Forschungen zu den Dynamiken genozidaler Massengewalt unter Berücksichtigung der Affektdimension auf breiterer Grundlage weiterzuführen. Aber die geplante Monographie zu diesem Thema hat er nicht mehr schreiben können; nur einen Tag nach seiner Rückkehr starb er völlig unerwartet im Alter von nur 55 Jahren. Mit seiner Stimme noch im Ohr war die Nachricht ebenso schwer zu begreifen wie zu verarbeiten. Umso dankbarer sind wir Frauke Wildvang, dass sie den fulminanten letzten Vortragstext ihres Mannes für die QFIAB zur Verfügung gestellt hat. 2003 war sie selbst mit einem Dissertationsprojekt zum Antisemitismus im faschistischen Italien Stipendiatin am DHI.[2]
Habbo Knoch war ein außergewöhnlich produktiver und inspirierender Historiker, der nicht nur bezwingend kluge analytische Texte zu schreiben verstand, sondern sich auch bewundernswert souverän auf akademischem wie auf öffentlichem Parkett bewegte. Jegliche Neigung zu Scheinwerfern, Prestige und Glamour war ihm dennoch fremd. Stattdessen war es typisch für ihn, dass er das schon als Schüler aufgenommene, zeitintensive Engagement für das Dokumentations- und Informationszentrum Emslandlager auch als vielbeschäftigter Professor weiterführte, weil ihm die Sache, die Bewahrung von Gedenkstätten als Orten des Lernens und des Opfergedenkens, so wichtig war. Gleichzeitig war er auch vor 2014, als er den Ruf nach Köln erhielt, in seiner Funktion als Geschäftsführer der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten und Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen immer mit Leib und Seele Wissenschaftler geblieben – ein Wissenschaftler, dessen methodisch innovative und empirisch gesättigte Qualifikationsschriften im Fach ihresgleichen suchten. Auch wenn er unermüdlich weiter publizierte – unter anderem eine kluge Summe seiner Erfahrungen in der Gedenkstättenarbeit –,[3] sein Opus Magnum blieb doch die monumentale Dissertation, in der er anhand des Umgangs mit den visuellen Zeugnissen der Shoah untersuchte, welche Bilder sich die deutsche Gesellschaft insbesondere der 1950er und 1960er Jahre von ihrer Vergangenheit machte, und welche Sag- und Zeigbarkeitsregeln dabei jeweils wirksam wurden.[4] Sein letztes Buch, „Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte“, knüpfte in vieler Hinsicht an diese Überlegungen an und führte sie bis in die Gegenwart fort, diesmal aus einer stärker ideengeschichtlichen Perspektive.[5] Das Buch endete mit einer klaren Warnung vor den neuerlichen Gefahren, die von rechts für die Menschenwürde ausgehen.
Seine Werke – seien es die beeindruckenden Monographien, seien es die zahlreichen wegweisenden Aufsätze, insbesondere zur Visual History[6] – werden bleiben, ebenso wie die Erinnerung an einen wunderbaren Kollegen und vorbildlichen Hochschullehrer. Zum Workshop in Rom hatte er auch fortgeschrittene Kölner Studierende mitgebracht, die – von ihm ermutigt – ihre jeweiligen Projekte zum ersten Mal auf einer wissenschaftlichen Tagung vorstellten. Wie schon in Göttingen, wo er während der Promotion seine ersten Lehrerfahrungen sammelte, hatte er auch unter den Bedingungen der Massenuniversität seine wertschätzende, verständnisvolle, bei allem hohen wissenschaftlichen Anspruch immer konstruktive Kommunikation mit den Studierenden beibehalten.
Auf der akademischen Trauerfeier in Köln war davon die Rede, dass Habbo Knoch an der mobilen italienischen Kaffeebar, die immer vor dem Philosophikum geparkt war, mit Vorliebe nicht nur seine eigene Begleitung, sondern auch so manchen unbekannten Studierenden zum Espresso einlud: Ein „caffé sospeso“ am Rhein. Ein kleiner Grund mehr für die große Dankbarkeit, die wohl alle empfinden, die das Glück hatten, ihn zu kennen.
Petra Terhoeven
© 2025 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.
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