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„Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung

  • Ingrid Schoberth EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Mai 2016
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Abstract:

Christian Faith has its specific claim for truth. This paper asks how Christian education can correspond to the conviction that the truth belongs to God alone and cannot be possessed by human beings. Learning Christian religion means to find one's own way in the light of God's truth. How can this truth shape the competence of the teacher? Is truth a certain qualification to teach Christian religion? According to the specific Christian understanding, faith is not to have the truth but to search for truth. Learning Christian religion therefore means to find ways of discussing the Gospel and its relevance in my own life. Teaching competence means to be sensible for the traces of the word of God in the discourses about life and the religious tradition.

1. Kompetenz versus Wahrheit?

Für die evangelische Religionspädagogik ist die Formulierung Wahrheitsfähigkeit zunächst eine eher befremdliche Kategorie. Ist es überhaupt theologisch angemessen, von Wahrheitsfähigkeit zu sprechen? Kann Wahrheit überhaupt mit einem Können in Bezug gebracht werden und noch dazu zu einem professionellen Können, das in der Ausbildung von zukünftigen Lehrenden religiöser Bildung erworben werden soll? Kompetent sein in Hinsicht der Wahrheitsfrage erweist sich zunächst vor der Wahrheit christlichen Glaubens als ein Widerspruch, denn sie kann gerade nicht als ein Gegenstand des Lernens selbst verstanden werden. Eine Befähigung in Blick auf Wahrheit, die dann auch nachhaltig abgerufen werden kann wie etwa auch die ethische oder ästhetische Kompetenz, scheitert also zunächst an der Wahrheit, die eben nicht einfach zur Verfügung steht und nicht einfach in Anspruch genommen werden kann.

Zweifelsohne haben religiöse Bildungsprozesse im schulischen Religionsunterricht mit Wahrheit zu tun, aber eben nicht so, dass sie unmittelbar als lehr- und lernbarer Gegenstand erscheint. Wie ist also das Verhältnis von Wahrheit und Unterricht zu denken? Wie kann das eigentlich aussehen, befähigt auf Wahrheit hin?[1]

Formuliert man es in Hinsicht der Wahrheit, deren Präsenz in Bildungsprozessen immer erhofft wird, und ist gleichzeitig deutlich, dass religiöse Bildung in dieser Perspektive nicht vom Können der Lehrenden abhängt, sondern letztlich nur ein Geschehen der Wahrheit sein kann, das in religiöser Bildung Raum greift, dann wäre in Konsequenz diese Kompetenz zur Wahrheit eine Befähigung, die gerade in Hinsicht der Wahrheit gar nicht erfasst werden kann. Das ist nun etwas schroff argumentiert und erinnert an das Problem der Operationalisierung von Bildungsprozessen; auch hier hat man ja das Problem, dass Lernwege eröffnet werden sollen, die es so unmittelbar gar nicht geben kann. Wird religiöse Bildung eben nicht nur als kognitive Vermittlung und als ein Erwerben von Wissen über Religion verstanden, dann geht es immer um die Frage nach der Wahrheit, die im Unterricht ihren Ort hat und wenn man so will auch haben muss. Befähigt zur Wahrheit kann dann wiederum nur heißen, befähigt, in unterrichtlichen Prozessen teilgewinnen an der Wahrheit, von der christlicher Glaube zeugt und das durch alle daran Beteiligten.[2]

Dann ist der Lehrende auch nicht Experte, sondern einer neben den Schülern, der sich auf den Weg macht, der Wahrheit in Spuren zu folgen, ohne dabei auf eine Nachhaltigkeit dieser Suche setzen zu können. Dem Evangelischen Theologen und Religionspädagogen ist der Versuch, Wahrheitsfähigkeit als ein professionelles Können zu fassen, zunächst suspekt, weil es im Umgang mit der Wahrheit eben nicht um ein Haben und Besitzen zu tun ist, sondern um Fragen, um Annäherung, um Bewegung darauf zu, um Anbahnung in der Hoffnung auf Neues über die vermeintlichen Tatsachen hinaus, um noch nicht Erahntes etc..

Ich möchte dem aber doch mehr abzugewinnen versuchen, denn in didaktischer Hinsicht dürfen auch Religionspädagogen auch einmal theologischunvorsichtig sein; denn wenn es sich allemal eben nicht um eine Vermittlung von Wahrheit handeln kann, sondern vielmehr allein versuchsweise eine Annäherung an die Wahrheit möglich ist, dann könnte man auch sehr vorläufig von einer Befähigung sprechen, die auch Lehrende evangelischer Religion entwickeln lernen können.

Mit den Aufbrüchen hin zur Kompetenzorientierung, die ja mit der Kompetenz Wahrheitsfähigkeit in den Blick kommt, eröffnen die aktuellen Bildungsdiskurse ein bestimmtes Verstehen religiöser Bildung. Weil es hier gelungen ist, Zielformulierungen in Befähigungen umzuformulieren, konnte der Diskurs- bzw. Prozesscharakter von Unterricht sehr viel genauer und vielschichtiger wahrgenommen werden.[3] Auf diese Weise lässt sich darum auch die Wahrheitsfrage noch einmal ganz neu in den Blick nehmen, die vor allem der religiösen Bildung wie kaum einem anderen Fach im Fächerkanon der Schule zugehört. Durch den Umgang mit den Inhalten des Lernens gelingt es, auch die Wahrheitsfähigkeit als eine Option in den Blick zu nehmen und dabei ihrer Unverfügbarkeit ebenso zu entsprechen, wie aber auch die Lernwege anzuvisieren, die daraufhin möglich sind. Das betonen auch die Überlegungen von Gabriele Obst, wenn sie der Kompetenzorientierung im Blick auf den Religionsunterricht nachgeht und dazu herausstellt, dass die Wahrheitsfähigkeit auch Ausdruck einer Stetigkeit ist, die es dem Lehrenden ermöglicht, „nicht im tobenden Sturm der Meinungen und Interessen hin und her zu schwanken und seiner selbst unsicher zu werden.“[4]

2. Bildungsprozesse auf Wahrheit hin

Mit diesem Votum werden die religiösen Bildungsprozesse in ihrer genuinen Gestalt erkennbar als Prozesse auf Wahrheit hin. Freilich wird dabei auch deutlich, dass, wenn von Wahrheitsfähigkeit die Rede ist, eine Kompetenz im Spiel ist, die nicht nur die Lehrenden betrifft, sondern zugleich auch die Schülerinnen und Schüler. Im Einverständnis dazu, dass Lehrende einer Befähigung zur Wahrheit bedürfen, kann das also wiederum nur heißen, dass das auch für die Lernenden gilt. Mit der Reflexion auf Wahrheit hin steht darum das gesamte unterrichtliche Arrangement auf dem Spiel. Wahrheit erscheint nicht nur in der Haltung des Lehrenden und ist nicht bloß ein Habitus, den man erlangt, sondern gewinnt den Charakter des Ereignisses, wenn unterrichtliche Prozesse sich anschicken, nach der Wahrheit zu fragen. Dabei wird deutlich, dass ohne den Bezug auf Wahrheit das Fach seine Spezifik verlöre, seinen besonderen Gehalt, der auf die Rede von der Wahrheit christlichen Glaubens bezogen bleiben muss.[5]

Insofern liegt in der aktuellen Bildungslandschaft eine Chance auch für religiöse Bildung, sie von ihrer Sache her genauer zu beleuchten. Wahrheitsfähigkeit ist darum im Rahmen der Kompetenzorientierung eine Befähigung, die gerade nicht heißt, Wahrheit schon zu haben, sondern bezogen auf sie hin zu unterrichten. Mit der Neuausrichtung der Bildung im Sinne einer Kompetenzorientierung zeigt sich darum die Wahrheit noch einmal und immer wieder neu. Religiöse Bildung hieße dann, gerade nicht die Sache haben oder besitzen, sondern an und mit ihr christliche Religion perspektivenreich und facettenreich wahrnehmen und vernehmen zu lernen. Es bedeutet auch, fähig zu sein bzw. zu werden, der Logik christlicher Religion immer genauer auf die Spur zu kommen. Damit kann dann das Prozessuale von Unterricht als Ort festgehalten werden, an dem zwar nicht Wahrheit vermittelt, an dem aber auf Wahrheit hin gefragt und gesucht werden kann.[6]

Mit der Rede von Wahrheitsfähigkeit, mit der Frage nach einer, den religiösen Bildungsprozessen spezifisch inhärenten Kompetenz der Lehrenden wie der Lernenden wird es möglich, gerade nicht auf die Festschreibung von Zielen zuzugehen, sondern die Anbahnung stark zu machen, die als didaktischer Weg überzeugt, in den Umgang mit Wahrheit einzutreten. Im Gegenüber zur Wahrheit wäre das die angemessene Beschreibung dieser Fähigkeit, um ganz bei der Sache zu sein: der Wahrheit, auf die der Religionsunterricht verpflichtet ist, die wiederum keiner besitzt und auch keiner als eine Art erreichtes Lernziel für sich hat. Sobald es also um Wahrheit geht, geht es um die Komplexität eines unterrichtlichen Zusammenhangs der sich nicht von selbst versteht. Denn Wahrheit stellt sich quer zu jeder Operationalisierung, sonst wäre sie nicht Wahrheit. In diesem Sinn ist die Theologie wie mit ihr auch die Religionsdidaktik gefordert, diese hermeneutische Aufgabe je neu anzugehen.[7]

3. Wahrheit im religionsdidaktischen Diskurs

Zwei Akzente sind in der aktuellen Diskussion für den Zusammenhang der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit besonders aufschlussreich: Zum einen dient die Rede von elementaren Wahrheiten als ein Moment der Unterrichtsvorbereitung im Sinn der Elementarisierung dazu, Bildungsprozesse in der Vorbereitung professioneller erfassen zu lernen. Aber hier führt die Nachfrage nach dem Ort der Wahrheit in diesen Prozessen eher zu einer Problemanzeige: Denn was für Wahrheiten können das sein, die vor dem eigentlichen Lernprozess wahrgenommen werden können? Wahrheit, die sich immer neu einstellt – kann sie vorweg im Plural in der Gestalt elementarer Wahrheiten Geltung vor dem Unterricht gewinnen? Allenfalls kann das nur als eine Annäherung an die Wirklichkeiten des Unterrichtens in einem zuvor imaginierten Prozess verstanden werden; als Aspekt der Vorbereitung von Unterricht wird sie dabei auf die Frage nach „der Vertrauenswürdigkeit der überlieferten Glaubensweisen“[8] bezogen und allenfalls historisch verhandelt. Für den Vorgang der Elementarisierung ist das zunächst positiv zu vermerken, weil es ihr gelingt, die Dimension von Wahrheit überhaupt zur Sprache zu bringen. Andererseits führt das Aufsuchen elementarer Wahrheiten doch auch dazu, dass die unverfügbaren Ereignisse und Atmosphären, Resonanzen im Unterrichtsprozess etc. in ihrem prozesshaften Charakter zu wenig Raum gewinnen. Demgegenüber wäre es notwendig gerade in Hinsicht der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit, den Ort, an dem konstitutiv das Ereignen von Wahrheit erhofft wird, markanter in den Blick zu nehmen, als das im Vorgang der Elementarisierung möglich ist. Insofern geht es um eine Wahrheitsfähigkeit, die nicht aufgehen kann in der vorbereitenden Wahrnehmung von Wahrheitsstrukturen, die sich in der Wirklichkeit gelebter Glaubensweisen abbilden. Das erweist sich als ein Aspekt, der freilich notwendig auf eine umfassendere Wahrnehmung von Wahrheit in den Prozessen des Unterrichts verweist.

Zum anderen fungiert Wahrheit auch in den Bildungsplänen für den schulischen Religionsunterricht im Rahmen der Beschreibung der religiösen Kompetenz als unverzichtbarer Bezugspunkt. Die Beschreibung religiöser Kompetenz im Bildungsplan für den Evangelischen Religionsunterricht etwa in Baden-Württemberg formuliert mit der religiösen Kompetenz die Befähigung der Schülerinnen und Schüler, die Wahrheitsfrage zu stellen.[9] Daran eröffnet sich die religionsdidaktische Aufgabe, dass die Religionslehrerinnen und Religionslehrer darauf hinarbeiten, dass das Unverfügbare der Wahrheit Raum gewinnen kann, dass Wahrheit freilich nicht als ein Besitz der Lehrenden erscheint und zugleich doch etwas davon spürbar werden kann vom Wort der Wahrheit. Mit dieser Aufgabe zeigt sich vor allem der passive Gestus der Wahrheitsfrage. Hierzu bedarf es einmal der Lehrenden, die mit ihrem eigenen Suchen nach Wahrheit sich zu erkennen geben. Zugleich sind es aber auch die Schülerinnen und Schüler, die fähig werden, in einem facettenreichen Suchen nach der Wahrheit der Wahrheit nachzuspüren, für die christlicher Glaube einsteht.[10] Mit Johannes dem Täufer wird die Wahrheit aufzusuchen möglich; freilich so, dass eben sein Zeigefinger nicht auf sich selbst deutet, sondern auf ein Gegenüber, von sich selbst weg auf Christus hin. Wenn sich, wie Uwe Hauser das darstellt, Religionslehrer und Religionslehrerinnen so „in einen Hinweisenden verwandeln“[11], dann wird auch klar, dass nicht nur die Lehrenden, sondern das gesamte Geschehen Unterricht sich nur so auf die Wahrheitssuche begeben kann. Wahrheit, die sich Christus verdankt, ist darum facettenreich und in Spuren zu erkennen; sie ist nie einsame Wahrheit, die einem gehört, und darum politisch, weil sie gemeinsam auf die Suche führt. Diese Suche beginnt genuin an und mit den biblischen Texten, die diese Suche untermauern und tragen.[12] Dafür steht der Religionsunterricht ein, dass er als ein Raum fungiert, in dem diese Wahrheit als biblische Wahrheit, im Lesen der Heiligen Schrift, entdeckt wird. Ohne Bezug auf die Schrift würde eine Kompetenz zur Wahrheit konturlos bleiben. Im Anbahnen der Wahrheit werden darum Spuren gelegt, die freilich vorbereitet sein, die aber wiederum der Wahrheit selbst in der Verweigerung ihres Habens verpflichtet sein müssen: Darum kommt die Wahrheitsbefähigung nicht ohne die Frage nach der Wahrheit selbst aus. Dem möchte ich im nächsten Schritt nachgehen und dann abschließend Folgerungen für die Bildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer ziehen:

4. Haltung, Meinung und der Zeuge der Wahrheit

Wenn nach Wahrheit gefragt werden soll, die Raum greifen soll auch in religiösen Bildungsprozessen, dann wird die Lern- und Lehraufgabe religiöser Bildung noch einmal in ein besonderes Licht gerückt. Denn dabei geht es nicht einfach nur um eine Haltung oder Meinung[13], die u. a. bei den Lehrenden zum Ausdruck kommen soll, sondern es geht um sehr viel mehr: ein Mehr, das nicht bloß von der eigenen Meinung abhängt. Ein Religionslehrer, der nur von seiner Meinung spricht im Blick auf das, was er unterrichtet, der übergeht den Balanceakt, der notwendig ist, um genauer zu formulieren, woran sich dieses Mehr festmacht. Wenn dieses Mehr als Bekenntnis formuliert wird, von dem der eigene Unterricht abhängt, dann hat das freilich seine Richtigkeit, die aber niemals ohne die Freiheit eines Christenmenschen gedacht und verstanden werden kann, auf die das Bekenntnis und seine auch individuelle Füllung aufruht.[14] Die Rede vom Selbstverständnis des Religionslehrers als Zeugen wurde leider oft mit Wahrheit so in Verbindung gebracht, als ob der Lehrende allein für die Wahrheit einsteht. Das hat eine hohe Belastung dieses Selbstverständnisses mit sich gebracht und das Zeuge-Sein gleichsam zu einer Forderung werden lassen.[15] In diesem Sinne ist es theologisch angemessen, von dem Bekenntnis des Religionslehrers bzw. der Religionslehrerin zu sprechen, wobei aber notwendig deutlich bleiben muss, dass es immer neu aus der Freiheit des Glaubens erwächst und insofern immer neu auch die Grundlage für alles je eigene unterrichtliche Bemühen ist. Die Wahrheit des Zeugen findet ihre Kontur durch die im Evangelium des Christus verkündigte Wahrheit. Sie ist es, auf die die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit als eines professionellen Könnens bezogen ist, aber angesichts jeglicher Verweigerung, die Wahrheit haben zu wollen.

Gerade so wird der Widerspruch zwischen professionellem Können als einer Befähigung, die erlernt wird und der Grundaufgabe religiöser Bildung deutlich. Es macht den Religionsunterricht zu einem Spannungsfeld in der Bewährung einer Freiheit, zu der Christus befreit. In dieser Passivität einer in Christus geschenkten Freiheit liegt die Wahrnehmung der Wahrheit, die auch die Lehrenden und mit ihr die Lernenden befähigt, im Unterricht auf die Wahrheit zuzugehen und ihren Spuren vorläufig und anfänglich zu folgen. Das hat nun erhebliche Konsequenzen für den versuchsweise ausgerichteten Umgang mit der Wahrheit in religiöser Bildung; denn es bedarf auch der religionsdidaktischen Reflexion, zu erfassen, wie solche Lernwege dann theologisch angemessen aussehen können:

Eine dreifache Unterscheidung kann hier weiterführen, indem die Lernprozesse einmal in ihrer Anfänglichkeit, dann als peregrinatorische Lernprozesse und schließlich in ihrem eschatologischen Horizont wahrgenommen und theologisch verstanden werden.[16] Die Anfänglichkeit verweist auf Lernprozesse, die eben ihre Sache nicht haben, sondern auf sie immer neu zugehen. Die peregrinatorische Ausrichtung steht dafür, dass es immer schon Wege im Umgang mit der Wahrheit gibt und die auch die je eigenen Lebensgeschichte der Schüler wie der Lehrenden immer schon in spezifischer Weise prägen – auch hier scheint etwas von der Wahrheit des Glaubens auf und das ist es vielleicht, worauf ich meinen Schülern antworten kann, wenn sie mich fragen: Glauben sie an Gott? Das eschatologische Moment steht wiederum dafür, dass Lernprozesse im Umgang mit der Wahrheit eine eigene Ausrichtung haben, denn sie enden nicht an der Endlichkeit des Menschen, sondern verweisen immer neu auf die Zukunft des Menschen bei Gott.

5. Religionslehrerinnen und Religionslehrer im Spannungsfeld auf Wahrheit hin

Schließlich bleibt noch die Frage zu beantworten, ob diese Kompetenz auch als spirituelle Kompetenz verstanden werden könnte?[17] Axel Mehlmann betont: „Ohne die spirituelle Dimension würde der Berufsqualifizierung und der beruflichen Handlungsfähigkeit etwas Entscheidendes fehlen.“[18] Er beschreibt diese Kompetenz als ein drittes Moment neben der religionspädagogischen und didaktischen Kompetenz. In unserem Zusammenhang der Frage nach der Wahrheitsfähigkeit scheint mir aber mit der spirituellen Dimension noch nicht all das erfasst zu sein, was hier als drei Momente aufgegriffen worden ist und mit Hans-Georg Ziebertz als „Selbstkompetenz“ bestimmt wird.[19] Zunächst ist freilich ganz offensichtlich, dass Wahrheitsfähigkeit die eigene Haltung und das eigene Selbstverständnis der Lehrenden in religiösen Bildungsprozessen bestimmt. Bisweilen wird das auch als ein eigener Stil beschrieben.[20] Weil aber diese Kompetenz eben nicht nur das je eigene Personsein, sondern darüber hinaus den Bildungsprozess insgesamt betrifft, ist sie eine Befähigung, die weitere Überlegungen erfordert: Indem die Wahrheitskompetenz abhängig ist von dem Prozess des Unterrichts, in dem sie eine wesentliche Rolle spielt, kann sie nicht einfach so erworben werden, wie man etwa ethische Kompetenz erwirbt.

Insofern ist diese Kompetenz mehr und anderes als nur eine Kompetenz, die sich der jeweils Lehrende vielleicht auch mit Hilfe von Supervision und einer kritischen Reflexion der eigenen Haltung und Fähigkeiten erwerben kann und muss. Freilich wird es eine der Grundaufgaben guten Unterrichtens in religiösen Bildungsprozessen immer bleiben, dass ich mich selbst als Lehrende in Bezug auf die Wahrheit verstehen lerne. Schweitzer hält das in seinen Überlegungen als geradezu selbstverständlich fest: „Darüber hinaus müssen sie sich immer wieder fragen lassen, ob sie denn selbst glauben, was sie da unterrichten.“[21]

Im Horizont des Unterrichts geht es mit der Wahrheitskompetenz aber noch um mehr: Sie ist es, die auf einer Spannung aufruht, die ich als Offenheit und Bestimmtheit der Bildungsprozesse beschreiben möchte und die man eben nicht wie ein Problem oder eine Herausforderung allein mit sich selbst abmachen, bzw. anvisieren und bearbeiten kann. In der Würdigung all solcher Unternehmungen der Lehrenden, die auch damit keineswegs in Frage gestellt sein sollen, führt die Wahrheitsfähigkeit in eine Kompetenz, die in ihrer Verweigerung zu ihrer eigentlichen Gestalt führt. Man könnte sie auch als wartende bzw. als eine hoffende Kompetenz bestimmen, die sich ihrer Passivität bewusst ist.[22] Unterricht so verstanden hängt freilich davon ab, dass er eben zu tun hat mit nicht Herstellen-Können, mit Warten-Können, als Unterricht im Horizont der vita passiva. Erst in der Wahrnehmung dieser Spannung lässt sich darum Wahrheit erahnen und erspüren, wird ein Raum eröffnet, in dem auf Wahrheit hin gefragt, erläutert, untersucht, gestritten, überlegt, gewartet und auch Stille gehalten/ausgehalten wird.

In dieser Perspektive ist dann die Wahrheitsfähigkeit eine Kompetenz, die die Religionslehrerinnen und Religionslehrer wie aber auch die Schüler entlastet. Denn sie ist eine Kompetenz, die darauf aus sein muss, den Besitz der Wahrheit zu verweigern, die entdecken lernt, wie es anders mit der Wahrheit zu tun ist und die eben nicht durch Anstrengung zu haben ist. Man könnte auch sagen, sie ist das Resultat der Erfahrung der Freiheit, aus der der Glaube lebt: In actu, im Unterrichten selbst, zeigt sie sich. Sie ist wie das Lesen in der Heiligen Schrift unverfügbar und doch auf der Suche nach Annäherung, Verstehen und Entdeckung. Insofern kommt dieser Kompetenz eine pneumatischeQualität zu. Mit gutem Grund theologisch angemessen ist es darum, diese Haltung als Ausdruck eigenen Bekennens zu formulieren. In der Verweigerung, die Wahrheit als „eigene Wahrheit haben zu wollen“, öffnet sich der unterrichtliche Prozess in der Spannung von Offenheit und Bestimmtheit der Entdeckung auf Wahrheit hin. Sich auszustrecken nach der Wahrheit, ihr immer neu inne zu werden in der Vielfalt der Wahrnehmungen, wäre die Grundbewegung, die diese Kompetenz ausmacht.

Sie zeigt sich gerade auch dann, wenn etwa ein Schüler fragt: „Glauben Sie an die Auferstehung?“ Wie ist dem Schüler zu antworten? Wie kommt eine Fähigkeit ins Spiel, in der nicht der Lehrer der Experte in Sachen Religion ist und doch zugleich der Schüler gemeinsam mit dem Lehrenden nach der Wahrheit zu fragen beginnt? Viele Lehrende wie auch Schüler wissen, wie schwer es ist, darauf zu antworten; manchmal geht es nur mit neuem Fragen im Horizont der Suche nach der Wahrheit, die in dieser Frage steckt, weil eine bewiesene Auferstehung keine Auferstehung wäre.[23]

6. Professionelles Können und die Spezifik der Profession religiöser Bildung

Profession im Kontext religiöser Bildungsprozesse hat seine Eigenheiten. Sie ist nicht eine Profession, die man einfach so erwerben könnte wie man etwa eine mathematische Formel erwirbt, sondern sie ist eine Profession, die sich in ihrer Bindung an die Sache des Religionsunterrichts erst eröffnet. Freilich brauchen die Lehrer/innen im Fach Evangelische Religion auch in Hinsicht einer pädagogischen Kontur Fähigkeiten, die erworben werden können. Diese pädagogische Seite religiöser Bildung zeigt, dass es dabei oft um ein Fach wie jedes andere geht. In Hinsicht der Wahrheitsfrage brauchen religiöse Bildungsprozesse eine eigene besondere Aufmerksamkeit und gewinnen dabei ein eigenes spezifisches und unvergleichliches Profil. Dabei wird deutlich, dass es die Sache ist, die hier verhandelt wird bzw. die hier gelernt wird. Mit ihr und an ihr werden diese Prozesse auf die Wahrheit bezogene Prozesse. Wahrheit kann hier wiederum nicht normativ erfasst werden, sondern sie bleibt Wahrheit, die am Evangelium gewonnen ist und insofern narrative Wahrheit, die sich des Wortes Gottes verdankt. In dieser Perspektive ergeben sich einige Aspekte, die ich noch summarisch benennen möchte und die zusammenfassend in ihrer Konsequenz für die (Aus)-Bildung der Religionslehrerinnen und Religionslehrer dargelegt werden sollen:

(1) Religiöse Bildung lebt von dem Bezug zur Wahrheit des Glaubens, die es nicht im Plural gibt. Das schafft zunächst Schwierigkeiten, weil es sich nicht um eine Wahrheit handelt, über die verhandelt werden kann, sondern um eine Wahrheit, die sich nur im Ereignen vernehmen lässt. Insofern sind Bildungsprozesse auf Wahrnehmung der Wahrheit im Singular anzulegen, die sich immer neu, in jeder neuen Bemühung um christliche Religion eröffnet, allein oder gemeinsam im Diskurs. Freilich kann es niemals die Gewähr geben, dass das Ereignen sich einstellt.

(2) Insofern geschieht Unterricht immer in der Hoffnung auf die Entdeckung der Wahrheit hin. Mit der Wahrheitsfähigkeit kann es sich darum nur um ein professionelles Können handeln, das eine Sensibilität im Angesicht der Wahrheit ausbildet. Diese gewinnt ihre Kontur aus dem Verweilen, Hören, Aufmerken auf Wahrheit und nicht aus einem Festzurren von Wahrheiten. Zugleich gewinnt die Wahrheitsfähigkeit ihre Kontur daran, dass sie sich verweigernlernt, Wahrheit haben und besitzen zu wollen. Das wird möglich, indem in der Erfahrung der Freiheit eines Christenmenschen es Menschen immer neu wagen, von der Wahrheit zu sprechen eingedenk der Tatsache, dass es weder die eigene Wahrheit sein kann, die ins Spiel kommt und auch nicht bloß die Wahrheit vergangener Erfahrungen bzw. Glaubensweisen. Es geht dabei immer um ein Mehr, das der eigenen Verfügung entzogen ist.

(3) In Hinsicht der Wahrheitssuche sind darum auch die Bildungsprozesse selbst herausgefordert, Lernformen zu erproben, die der Suche nach Wahrheit besonders zuarbeiten. Sicher wäre es dabei ein Gewinn, die Tendenz zu einer weniger kognitiven Ausrichtung des Unterrichts hin zu einem stärker reflexiv ausgerichteten Unterricht zu unterstützen.[24] In Hinsicht einer systemtheoretisch-konstruktivistischen Didaktik kann auch betont werden, dass man „angesichts der Unmöglichkeit des Durchgriffs auf den einzelnen Lernenden die Bedingungen von ‚Lernumgebungen‘ prüft, die zumindest die Plausibilität von Lernprozessen in einer bestimmten Richtung wahrscheinlich machen.“[25]

(4) Um die Wahrheit wissen, um sie ringen, sich von ihr bewegen lassen und doch verweigern, sie zu besitzen, das könnte die angemessene Beschreibung einer Befähigung zur Wahrheit sein, die ihre Kontur an der Begegnung mit dem Evangelium gewinnt. Als Kompetenz wird ein so ausgestaltetes und gelebtes professionelles Können der Wahrnehmung der Wahrheit zuarbeiten, ohne sie operationalisierend besitzen zu wollen und ihr darin doch auch die Ehre zu geben; ganz im Sinne Johann Sebastian Bachs, der sein Tun nur in der Verwiesenheit auf die Wahrheit verstehen konnte, der er in seinen Kompositionen Ausdruck zu verleihen suchte und auf die er in Demut bezogen lebte: Soli Deo Gloria.

(5) Neben der Würdigung des Unverfügbaren bleibt aber auch die Hoffnung auf die Erfahrung der Wahrheit[26], auf eine Erfahrung, in der sie sich zumindest in Spuren eröffnet und mitteilt. Das macht es möglich, sich auszustrecken nach dem guten Leben, um dem Geheimnis gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern inne zu werden, dass das Leben zu einem guten Leben macht: „Ja, so geht es, ja, so ist es gut“ ist der Ausdruck der Erfahrung der Wahrheit, um die wir immer neu ringen – gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern – und Resultat im Sinne eines authentischen und also guten Lebens, das der Wahrheit sich verdankt.

Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Titelseiten
  3. Artikel
  4. Vorwort der Herausgebenden
  5. Editorial
  6. Unterscheiden, was zusammengehört
  7. Die Rede von der Wahrheit im christlichen Leben. Neutestamentlich-hermeneutische Anmerkungen
  8. Gott sei Dank, die Wahrheit
  9. Pädagogische Wahrheit(en). Über Erziehung
  10. Kann Kindertheologie auch unwahr sein?
  11. Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung
  12. Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
  13. „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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