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Schlusskommentar

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Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2020
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Mit einiger Verzögerung hat sich die Zeitgeschichtsforschung der Globalisierung angenommen, die in der Beschäftigung mit früheren Epochen schon länger zum Untersuchungsrepertoire gehört. In dem Maße, wie sich der zeithistorische Blick auf die Dekaden seit 1970 gerichtet hat, ist die Disziplin gleichsam unweigerlich auf Prozesse der weiträumigen Verflechtung und der grenzübergreifenden Integration gestoßen, die in dieser Phase, ob tatsächlich oder in der Beobachtung, eine vielfach herausragende Bedeutung erlangten. Auf diese Weise schließt sich ein terminologischer Kreis. Denn der Begriff Globalisierung und viele der mit ihm verbundenen Weltauffassungen entstanden erst in dem Zeitraum, auf den ihn die Zeitgeschichte nunmehr analytisch zurücküberträgt. Womöglich gilt es, diesen Kreis zu durchbrechen.

Der Themenschwerpunkt, den die Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte im Jahrgang 2020 mit vier Aufsätzen gesetzt haben, möchte das geschichtswissenschaftliche Nachdenken über diese Frage anstoßen. Dabei fällt zunächst auf, dass sich eine auch nur annähernd einheitliche Auffassung oder wenigstens Verwendung des Terminus Globalisierung in zeithistorischen Studien bislang nicht abzeichnet. Je nach Untersuchungsthema und -perspektive erfüllt er unterschiedliche Funktionen. Manche konzentrieren sich, besonders für die Jahre seit etwa 1990, auf das weltweite Zusammenwachsen der Wirtschaft, das sie durch neue Kommunikations- und Transporttechnologien befördert sehen – ganz im Einklang mit einer verbreiteten zeitgenössischen Diagnose.[1] Stellt Globalisierung in diesem Fall tendenziell das Explanandum dar, wird ihr in anderen Studien ein Erklärungscharakter zugewiesen. Sehr ausgeprägt findet sich dieser Ansatz etwa in neuen Deutungen der Dekolonisierung, die diesen welthistorischen Vorgang aus einer Wechselwirkung mit einem allerdings recht vage umrissenen Globalisierungsprozess zu erhellen versuchen.[2]

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass die zeitgeschichtliche Forschung von einer systematischeren Reflexion über den Terminus profitieren würde. Diese müsste vor allem klären, welcher Status ihm in der historischen Analyse zukommen soll oder kann. Gerade von geschichtswissenschaftlicher Seite sind in den vergangenen Jahren Vorschläge gemacht worden, wie sich der Begriffsgebrauch schärfen ließe. Ein richtungsweisender Gedanke liegt darin, den Begriff – in einer strukturellen Analogie zur Vorstellung der Multiple Modernities – in den Plural zu setzen und von Globalisierungen zu sprechen. Diese laufen nicht Gefahr, als monolithisch zu erscheinen, und ihre Erstreckung und Wirkmacht ließen sich exakter bemessen.[3] Freilich bleibt zu fragen, warum man um einen derart reduzierten Begriff dann überhaupt noch größeren wissenschaftlichen Aufwand betreiben sollte – außer als Reflex auf die Tatsache, dass man ihn zuvor offensichtlich überdehnt und überfrachtet hat. Denn in der fragmentierten Variante löst sich sein ursprüngliches Versprechen auf, eine überwölbende Synthesekategorie zur Verfügung zu stellen, die die Augen dafür öffnet, wie nahezu alles mit allem zusammenhängt. Stattdessen gleicht er sich neutraleren Beschreibungen wie Verflechtung oder Verknüpfung an. Diese haben wiederum den Vorteil, ohne das schwere Gepäck einer inzwischen recht langen Deutungsgeschichte und vielfältigen politischen Aufladung daherzukommen. Und im Einzelfall bliebe zu entscheiden, ob sich die Reichweite vernetzender Entwicklungen nicht genauer fassen lässt, wenn man sie konkreter benennt: als Europäisierung, Regionalisierung, transozeanische Verbindung, Wandlungen im Rahmen der „Triade“ aus USA, (West-)Europa, Japan oder dergleichen mehr.

Sehr viel weniger haben Historikerinnen und Historiker bislang darüber nachgedacht, dass es sich bei der Globalisierungsvorstellung um ein diskursives Konstrukt handelt, das seinerseits in der jüngsten Vergangenheit Konturen angenommen und die Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten als solches auffällig geprägt hat. Hier vor allem setzen die Beiträge des VfZ-Schwerpunkts an. Sie verstehen sich als erste Vorstöße auf dem Terrain einer Historisierung des Globalisierungsdenkens. Die Autoren möchten deutlich machen, dass der Terminus in einem vielschichtigen semantischen Bezugsfeld aufgekommen ist (Olaf Bach); dass sich seine Durchsetzung nicht ohne einen Blick auf die disziplinären Konstellationen in der Soziologie erklären lässt (Wolfgang Knöbl); dass die Vorstellung einer sich dramatisch verflechtenden Welt eine wichtige politische Wirkungsgeschichte hat (Jan Eckel); und dass sich die jüngste Geschichte von Nationalstaat und Staatlichkeit in enger Wechselwirkung sowohl mit grenzübergreifenden Prozessen als auch mit unterschiedlichen Vorstellungen von Globalisierung vollzog (Andreas Wirsching).[4]

Mit alledem sind lediglich erste Schneisen geschlagen. Will man Genese, Dynamik und Folgen der Globalisierungsidee historisch umfassender erschließen, öffnet sich ein nicht unbeträchtliches Untersuchungsfeld. Der Vorstellungskomplex beeinflusste zahlreiche Handlungsräume und gesellschaftliche Funktionsbereiche. Neben denen, die in den Beiträgen des Schwerpunkts betrachtet worden sind, gehören dazu die Wirtschaft, die Medien, die Zeitdiagnostik oder die Kulturanalyse. Sie alle wären daraufhin zu befragen, welche Akteure zur Popularisierung des Begriffs beitrugen, welche Annahmen dabei überwiegend geteilt und welche bestritten wurden, und welche spezifischen Logiken auf einzelnen Feldern zum Tragen kamen. Das schlösse auch eine fach- und historiografiegeschichtliche Reflexion ein. Aus dieser Sicht bliebe zu ermitteln, welche Rolle der Globalisierungswahrnehmung im Zusammenspiel mit anderen Faktoren bei der geradezu staunenswert erfolgreichen Durchsetzung der Globalgeschichte in den letzten gut 15 Jahren zukam.

Darüber hinaus dürften sich die Weltsicht und die Gegenwartswahrnehmung, die sich in der Globalisierungsrede kristallisierten – wie auch die Bedeutung, die ihr zugemessen wurde –, je nach Land und Weltregion auf charakteristische Weise unterschieden haben. Die Aufsätze des VfZ-Schwerpunkts richten ihren Fokus auf westliche Staaten, doch entwickelte sich auch in China, Indien, Lateinamerika und zweifellos noch anderen Regionen spätestens um die Jahrtausendwende eine intensive Auseinandersetzung mit der Globalisierung. Diese dürfte viel über die jeweiligen Weltbezüge der Zeit verraten.[5] Auch endet die Deutungsgeschichte des Verflechtungsdenkens nicht in den frühen 2000er Jahren, die eine gewisse zeitliche Grenze des Themenschwerpunkts bilden, sondern reicht bis in unsere Gegenwart. Auf dem politischen Feld etwa hat sich die Globalisierungsrede von einem Stützargument für neoliberale Wirtschafts- und Sozialreformen inzwischen auch in den Popanz einer ressentimentgeladenen Ablehnung der offenen, pluralen Gesellschaft in rechtspopulistischen Bewegungen verwandelt.

Gleichzeitig führt die Deep History des Globalisierungsdenkens sehr viel weiter zurück als bis in die späten 1980er Jahre, mit denen die Beiträge des Schwerpunkts im Wesentlichen einsetzen. Weitet man den zeitlichen Horizont, so lassen sich spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Diskussionszusammenhänge beobachten, in denen das gesteigerte Bewusstsein einer schrumpfenden Welt plötzlich weithin einflussreich wurde. Für die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert haben Historikerinnen und Historiker vielfach darauf hingewiesen. Die Manifestationen einer großräumigen Verflechtungsperzeption reichten von Jules Vernes früher Romanfiktion der „Reise um die Erde in 80 Tagen“ (1873) über Begriffsprägungen wie Weltpolitik oder Weltwirtschaft bis hin zu den als Massenmagnet wirkenden Welt- und Kolonialausstellungen, in denen sich ein eurozentrisch und chauvinistisch gefärbtes Interesse für ferne Weltgegenden ausdrückte. Auch der Aufschwung globalistischer Zeitdiagnosen in den 1940er Jahren ist bereits zum Gegenstand der historischen Untersuchung geworden.[6] Bedenkt man, wie wichtig die Annahme sich abrupt einander nähernder Weltregionen für den säkularen Entschluss der Roosevelt-Regierung in den USA war, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten und die globale Führerschaft im American Century zu beanspruchen, eröffnen sich auch hier Zusammenhänge, die eine nähere Betrachtung lohnen. Schließlich haben neuere Studien plastisch herausgearbeitet, welche Wirkmacht die Diagnose einer wachsenden Interdependenz im Umgang mit transnationalen Problemen während der 1970er Jahre entfaltete. Dabei ging es um die Ölversorgung, Menschenrechtsfragen oder die Forderung nach einer Neuen Weltwirtschaftsordnung.[7]

In dieser konjunkturellen Wiederkehr über die Jahrzehnte fällt auf, dass die zeitgenössischen Beobachterinnen und Beobachter sehr selten auf frühere Verflechtungsdiagnosen Bezug nahmen. Folglich entdeckten sie subjektiv immer wieder ganz neu, dass der Globus gerade jüngst dramatisch zusammengewachsen war. In der historischen Langzeitperspektive ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild. Sie verweist darauf, dass das, was seit Ende des letzten Jahrhunderts als Globalisierung bezeichnet wird, eine in ihrer Grundform recht dauerhafte Bewusstseinsfigur darstellt, die in unregelmäßigen Abständen besondere zeitdiagnostische Bedeutung gewinnt. So betrachtet, lässt sich die Globalisierungsvorstellung neben Denkfiguren wie Differenzierung, Beschleunigung, Komplexität, vielleicht auch Fortschritt stellen. In ihnen glaubte seit Anbruch der Moderne noch jede Zeit, ihren ganz eigenen Wesenszug zu erkennen, der sie qualitativ von der Vergangenheit unterscheide. Damit gewinnt die Globalisierung einen ideenhistorisch äußerst bezugreichen Ort als eine konstitutive Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft.

Published Online: 2020-10-01
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2020-0043/html
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