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Konservatismus in der Nachkriegszeit

Entwicklungen in den USA und Westdeutschland
  • Michael Hochgeschwender EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2020
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I. Blockierte Kommunikation

Eine detaillierte Beziehungsgeschichte zwischen den diversen Konservatismen in den USA und in Westdeutschland im formativen ersten Nachkriegsjahrzehnt steht noch aus.[1] Weder in der engeren Konservatismusforschung noch in den weitergehenden Analysen der ideell-kulturellen Wandlungsprozesse nach 1945, etwa im Rahmen der Amerikanisierungs-, Westernisierungs-[2] und Modernisierungsparadigmen oder der Untersuchungen zur Transfer- und Beziehungsgeschichte im transatlantischen Raum, stand das Themenfeld Konservatismus auf dieser bilateralen Ebene bislang im Fokus. Womöglich wird dies auch auf Dauer so bleiben, denn es gibt sehr wohl Gründe für eine derartige Lücke. Zum einen hängt sie sicherlich mit Präferenzen zusammen, die sich aus den genannten theoretischen und methodischen Perspektiven selbst dann ergeben, wenn man die Idee einer „Stunde Null“, eines totalen Neuanfangs, von vornherein verwirft. Auch vor dem Hintergrund inzwischen klar herausgearbeiteter Kontinuitätslinien von der Wende zum 20. Jahrhundert bis weit in die 1950er und 1960er Jahre hinein bleibt die Frage nach dem Wandel im Gefolge des Zweiten Weltkriegs hin zu vergleichsweise neuartigen sozialen Konstellationen analytisch schon vor allem dann zentral, wenn es darum geht, zumindest vorläufige Lösungen für perzipierte Krisen der Moderne in der ersten Jahrhunderthälfte aufzuzeigen. In manchen Ansätzen, man denke an die Forschungen zu Modernisierung oder Liberalisierung, ergibt sich bereits aus der zugrundeliegenden Fragestellung eine erkennbare Verengung auf progressive, emanzipatorische und liberale Strömungen beziehungsweise Entwicklungen, die mit einer gewissen Notwendigkeit den Beitrag etwa christdemokratischer und eben konservativer Ordnungskonzepte zur sozioökonomischen und kulturellen Stabilisierung nach den beiden Urkatastrophen des 20. Jahrhunderts ausblenden oder doch wenigstens minimieren.

Zum anderen, und darauf wird sich der vorliegende Beitrag konzentrieren, hängt diese Vernachlässigung mit der internen Struktur und mit den gerade nach 1945 einsetzenden Veränderungen in den höchst divergierenden konservativen Strömungen in den USA und Westdeutschland zusammen. Diese Veränderungen wiederum reagierten auf der Basis jeweils national konstituierter ideengeschichtlicher Pfadabhängigkeiten auf unterschiedliche, aber vergleichbare Herausforderungen, was die Kompatibilität und mithin den Transfer erschwerte. Schon das grundlegende Verständnis von dem, was eigentlich konservativ sei, litt unter dieser nationalen Prägung. In den Vereinigten Staaten stand der Conservatism infolge seines selbstverständlichen Rückbezugs auf die national identitätsstiftende Funktion der Amerikanischen Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts in einem gänzlich anderen Verhältnis zur Epoche der bürgerlichen Revolutionen als der deutsche Konservatismus. Gewiss, amerikanische Konservative hatten sich von Beginn an ein anderes, anti-egalitäres, auf traditionalen Ordnungen aufbauendes Gesellschaftssystem gewünscht als ihre liberalen, fortschrittsfokussierten Gegenspieler, aber spätestens nachdem in den 1830er Jahren die New Line Whigs um William Henry Seward die partizipative Massendemokratie innerlich akzeptiert hatten,[3] war es in den USA weltanschaulich zu konservativ-liberalen Mischideologien gekommen, die im deutschen politischen Raum vor 1945 bestenfalls ansatzweise zu erkennen waren. Insofern hätte der US-amerikanische Conservatism für die Neujustierung konservativen Denkens in Westdeutschland mit Blick auf die innere Akzeptanz einer wenigstens formal bejahten demokratischen Ordnung Bedeutung haben können, die ihm freilich bis in die 1970er Jahre hinein zu keinem Zeitpunkt zukam.

An diesem weithin verpassten Transfer hatten die unter Umständen blockierten transatlantischen Kommunikationsschienen wohl lediglich sekundär Schuld. Die Öffentlichkeitsarbeit der amerikanischen Besatzungsbehörden wurde allerdings zwischen 1945 und 1955 mehrheitlich von Konsensliberalen und Anhängern des New Deal dominiert, was unter anderem dazu führte, dass in einem führenden, von den USA inhaltlich mitverantworteten Periodikum wie dem Monat führende konservative amerikanische Intellektuelle praktisch nicht veröffentlichen konnten. Einzig Peter Viereck wurde mit Beiträgen zum System Metternich berücksichtigt.[4] Dennoch gab es ausführliche Diskussionen zum deutschen Konservatismus[5] oder zur formierten Gesellschaft sowie zur konservativ konnotierten Literatur der Hochmoderne, wie sie beispielsweise T. S. Eliot propagierte. Umgekehrt kannten nur wenige deutsche Intellektuelle, darunter vornehmlich Remigranten wie Golo Mann,[6] Eric Voegelin[7] und der eher randständige William Schlamm[8] die konservative intellektuelle Szene in den USA gut genug, um als Vermittler zu fungieren, was sie wiederholt, aber ohne großen Erfolg taten.

Es muss demnach strukturelle und inhaltliche Ursachen geben, die die deutsch-amerikanische Beziehungslosigkeit auf diesem Feld zu erklären vermögen. Offenbar existierten tiefere Gründe, warum westdeutsche Konservative auf der Suche nach geistigen Anregungen ihr Augenmerk primär auf Großbritannien und Frankreich, nicht aber auf die westliche Hegemonialmacht richteten. Dabei können parteipolitische Transfers gewissermaßen a priori ausgeschlossen werden. So waren CDU und CSU keine durchweg konservativen Parteien, wofür bereits die Stärke des nur bedingt konservativ geprägten katholischen Milieus bürgte.[9] Auch die Republikaner und Demokraten setzten sich aus verschiedenen Flügeln zusammen, von denen der konservative nur einer war. Der Blick wird sich mithin auf konservative Intellektuelle und ihre Ansätze zu richten haben.

II. Neue Herausforderungen nach 1945 in Westdeutschland...

Nach 1945 bestand allerdings unter Konservativen auf beiden Seiten des Atlantiks das dringende Bedürfnis, sich neu zu orientieren oder zumindest adäquat zu justieren. Einzig in den katholischen Milieus schien es bis Ende der 1950er Jahre so, als könne man unverändert weitermachen wie bisher. Der rasche Zusammenbruch etwa der Neuscholastik um 1965 sowie die schockartigen Aufbrüche im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils belegen indes, wie brüchig dieses Festhalten an den Idealen der Vorkriegszeit selbst im transatlantischen Katholizismus war.[10] Hinter den Fassaden brodelte es dort heftig. Umso mehr aber waren die nicht-katholischen, protestantischen wie säkularen Konservativen gezwungen, sich mit den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen.

In Westdeutschland war die Ausgangssituation relativ klar, zumal die Probleme, nicht aber die Lösungsmöglichkeiten, auf der Hand lagen:[11] Mit dem Verlust der deutschen Ostgebiete, traditionellen ländlichen Hochburgen des protestantischen Konservatismus, hatte dieser seine Kerngebiete und seinen soziokulturellen Resonanzraum schlagartig eingebüßt, sieht man von Niedersachsen und Schleswig-Holstein einmal ab. Die Selbstverständlichkeit, mit der die protestantischen Eliten – ob konservativ oder liberal – seit der Gründung des wilhelminischen Kaiserreichs eine gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und politische Führungsrolle eingenommen hatten, war kollabiert, zumindest in der sozialen Perzeption. In Anbetracht der inzwischen nachgewiesenen personalen Kontinuitäten darf diese Wahrnehmung wenigstens in Teilen als Illusion angesehen werden, dennoch entfaltete sie zeitgenössisch einige Wirkung. Für Konservative war die Lage gleichwohl noch einmal erheblich dramatischer als für das liberale Bürgertum, da sie obendrein durch die enge Kooperation mit dem nationalsozialistischen Regime politisch desavouiert waren. Der von konservativen Historikern wie Gerhard Ritter betriebene Kult um den militärischen Widerstand des 20. Juli 1944[12] vermochte hier kaum eine Lösung zu bieten, da viele Konservative im Widerstand weiterhin nichts als Hoch- und Landesverrat in einer verzweifelten Kriegssituation erkannten. Auch das Kaiserreich als vorrangiger politischer Bezugspunkt vieler Konservativer war längst obsolet geworden, obschon sich in ihren Reihen noch bis in die 1960er Jahre bekennende Monarchisten fanden, die, etwa im Rahmen der Deutschen Partei, sogar auf Bundesebene Regierungsverantwortung trugen.[13]

Schließlich war mit der totalen Niederlage und dem Besatzungsregime der Nationalstaat praktisch in Frage gestellt, und zwar auf beiden Sinnebenen. Die sich abzeichnende dauerhafte Spaltung Deutschlands relativierte die Bedeutung der Nation, die Besatzungsherrschaft diejenige des Staats und seiner Souveränität. Dies war aber in Anbetracht der traditionellen Fixierung des deutschen Konservatismus auf den Staat und seine Autorität eine kaum zu unterschätzende Katastrophe. Hier wird zugleich ein wichtiger Unterschied zum US-amerikanischen Conservatism offenkundig: Während der deutsche Konservatismus sich etatistisch definierte, hatte der amerikanische Conservatism aufgrund der Aufnahme wirtschaftsliberaler Ideologeme in seine Programmatik ein ambivalentes Verhältnis zur Problemlösungskompetenz des Staats. Er war eher patriotisch als etatistisch; die Nation wurde sakralisiert, der Staat hingegen konnte, musste aber nicht im Mittelpunkt weltanschaulicher Debatten über Ordnung, Autorität und Tradition stehen. Dieser Weg war den deutschen Konservativen der Nachkriegszeit aufgrund ihrer eigenen Traditionen vollständig verschlossen. Erst mit der zunehmenden Wende hin zum Liberalkonservatismus seit den späten 1950er Jahren öffneten sich Segmente des deutschen Konservatismus einem staatsskeptischen, gelegentlich libertären Denken, das dann ab den 1990er Jahren plötzlich als dominant konservativ firmierte.

Westdeutsche Konservative standen somit vor der Aufgabe, sich neu zu erfinden. Es galt, sich einerseits in einer marktwirtschaftlichen Demokratie mit enger Bindung an den liberal konnotierten Westen zu situieren sowie andererseits den Kontakt mit dem nunmehr politisch wichtigen katholischen Milieu inhaltlich zu vertiefen. Dabei halfen drei bedeutsame ideologische Marker: Das Streben nach stabiler Ordnung auf der Basis einer skeptischen Anthropologie; der antikommunistische Anti-Totalitarismus, der es überdies erlaubte, sich zumindest begrifflich vom Nationalsozialismus zu distanzieren und zugleich die politisch-militärische und ökonomische Hegemonie der führenden antikommunistischen Macht, der Vereinigten Staaten, zu akzeptieren, wenn auch mit Vorbehalten; schließlich die Abendland-Ideologie, mit der die innere Distanz zum Westen demonstriert werden konnte, ohne auf die antitotalitäre Solidarität mit den USA, Frankreich und Großbritannien zu verzichten oder die Relativierung der Nationalstaatlichkeit durch die europäische Integration komplett in Frage zu stellen.[14]

Die Folge war ein ideeller Spagat der nicht-katholischen Konservativen, eine Art postnationaler Ordnungskult, der gleichzeitig supranational und vaterländisch sein sollte. Unter den Auspizien des sowjetischen Außendrucks und des traditionellen Antikommunismus gelang diese politische und ökonomische Anpassung an den Westen überraschend reibungslos, wenngleich es nach wie vor wunde Punkte gab. Die beständigen Diskussionen über eine berufsständische Organisation des Politischen und des Sozioökonomischen, über das Mehrheitswahlrecht mit seinen ordnungspolitischen Folgen im Sinne einer stabilen parteipolitischen Landschaft sowie über die formierte Gesellschaft, die eng mit ständestaatlichen Konzepten verknüpft war, ohne sie eins zu eins umsetzen zu wollen, belegen die inneren Spannungen, denen das neue konservative Konstrukt unterworfen war.

Auch das Verhältnis zu den USA blieb in diesem Zusammenhang nicht frei von Spannungen. Ein erheblicher Teil der katholischen und lutherischen Konservativen blieb den Vorbehalten gegenüber der kapitalistisch-demokratischen Massengesellschaft treu, für welche die USA nachgerade paradigmatisch einstanden. Nachdem der Abendland-Gedanke um 1957 infolge der fortschreitenden Modernisierung in Westdeutschland rasch an Zugkraft einbüßte, wurde er teilweise durch paneuropäisches, teilweise durch gaullistisches, an Frankreich ausgerichtetes Gedankengut ersetzt. Das „Europa der Vaterländer“ wurde um 1960 zur neuen Kompromissformel für den vaterländischen, antikommunistischen Supranationalismus der Konservativen. Parallel dazu traten in den späten 1950er und vor allem in den 1960er Jahren genuin transatlantische Liberalkonservative,[15] insbesondere unter nord- und westdeutschen Protestanten, auf den Plan. Diese waren nun bereit, amerikanisches konservatives Gedankengut zu rezipieren, die Westbindung[16] ebenso wie die ideell-kulturelle Liberalisierung und Westernisierung sowie die liberal dominierte Moderne insgesamt zu akzeptieren und weltanschaulich in ein konservatives Gerüst einzubauen. Dieses Gerüst beschränkte sich indes zum einen auf die traditionelle anthropologische Skepsis der Konservativen, die der liberalen und sozialdemokratischen Reformeuphorie kritisch gegenüberstanden, zum anderen auf die gleichfalls skeptisch-pessimistische Kritik eines unbefangenen partizipatorischen Egalitarismus. Dies verband die westdeutschen Liberalkonservativen mit ihren amerikanischen Gesinnungsgenossen.

III. ...und den USA

Denn nicht nur der westdeutsche Konservatismus stand 1945 vor gravierenden Herausforderungen. Die Conservatives in den USA sahen sich mit einem politischen und weltanschaulichen Scherbenhaufen konfrontiert, der ebenfalls bewältigt sein wollte.[17] Seit 1932 regierte in Washington D.C. die von Franklin D. Roosevelt geformte New Deal Coalition, die ein am Progressivismus orientiertes, für amerikanische Verhältnisse neues Konzept von Liberalismus entwickelt hatte.[18] Dieses hatte sich, so zumindest die öffentliche Wahrnehmung, in der Bewältigung der Großen Depression als einer zentralen sozialen und ökonomischen Modernisierungskrisen des 20. Jahrhunderts ebenso bewährt wie im Kontext der Bekämpfung von Nationalsozialismus, Rassismus und Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Selbst die Präsidentschaft des Republikaners Dwight D. Eisenhower (1953–1961) stand im Zeichen des moderaten Parteiflügels, danach setzten sich auf nationaler Ebene wieder die Liberalen durch. Letztlich kam es erst im Verlauf der 1970er Jahre zu einer massenhaften Abkehr von der liberalen kulturellen Hegemonie in den USA.

Selbst der von rechtskonservativen Republikanern wie Senator Joseph McCarthy und Richard Nixon instrumentalisierte, in der Gesellschaft tief verwurzelte radikale Antikommunismus der 1950er Jahre änderte nur oberflächlich etwas an diesen Verhältnissen, da die Cold War Liberals ebenso antikommunistisch waren wie ihre konservativen Gegenspieler.[19] Wie in Westdeutschland diente der Antikommunismus als gesellschaftlicher Kitt, der einerseits soziales Konfliktpotenzial übertünchte, andererseits aber dann dysfunktional werden konnte, wenn es zu Exzessen kam. Insgesamt aber gelang es den Liberalen, den Lunatic Fringe ‒ die äußerste Rechte – intellektuell und gesamtgesellschaftlich auszugrenzen. Dies betraf den Kernbereich des amerikanischen Conservatism zwar nur mittelbar, da sich auch die konservativen Intellektuellen einhellig von der extremen Rechten distanzierten. Dennoch drifteten spezifisch amerikanische konservative Doktrinen, die etwa die Nashville Agrarians der 1920er Jahre noch mehr oder minder unangefochten hatten vertreten können, ins Abseits. Deren unverblümte Huldigung der Lost Cause der im Bürgerkrieg untergegangenen Konföderation beinhaltete eine ruralistische Absage an die moderne urbane Industriegesellschaft,[20] die ganz in der Traditionslinie Thomas Jeffersons stand.[21] Vor allem aber war sie nicht frei von rassistischem Überlegenheitsdenken, der Idee der White Supremacy, die im Süden nicht selten mit brutaler Gewalt, den ritualisierten Lynchings, durchgesetzt wurde. Die zusätzliche Verherrlichung südstaatlich-evangelikaler und fundamentalistischer Frömmigkeit war wiederum mit anti-judaistischen und anti-katholischen Vorstellungen angereichert.

Im Norden war der ältere Conservatism häufig ebenfalls anti-katholisch, rasseantisemitisch und rassistisch ausgerichtet, was nach dem Einsatz im Zweiten Weltkrieg und angesichts der bipolaren Systemkonfrontation mit der UdSSR in wachsendem Maß als kontraproduktiv galt. Mindestens ebenso problematisch war jedoch für das konservative Denken das Fehlen substanzieller sozioökonomischer Ansätze zur Lösung von Modernisierungskrisen. Der konservative Ruf nach Ordnung und Autorität bezog sich gar zu oft zurück auf eine idealisierte Vergangenheit. Tradition wurde zum Selbstzweck, und es fehlte an überzeugenden ökonomischen Konzepten, obwohl sich in der historiografischen Rückschau die Erfolge des New Deal bei weitem nicht mehr so eindrücklich ausnehmen, wie man um 1950 noch dachte. Interessanterweise dauerte es allerdings bis weit in die 1960er Jahre, ehe die intellektuellen Vordenker des Conservatism beispielsweise praxisorientierte Theorieangebote der Neoliberalen, Libertären[22] und Ordoliberalen aufnahmen, die sich in der Mont Pèlerin Society zusammengeschlossen hatten.[23]

IV. Konservatismus und Katholizismus

Im Gegensatz zu den westdeutschen Konservativen, bei denen zumindest das katholische Segment mit der neuscholastischen, naturrechtlich begründeten katholischen Soziallehre über ein gleichfalls praxisorientiertes, aber theoretisch grundgelegtes analytisches Instrumentarium verfügte, das dem Wirtschaftsliberalismus konkret etwas entgegenzusetzen hatte,[24] fehlte es den Vordenkern des Nachkriegskonservatismus in den USA am Gespür für diese Problematik. Daher wirken ihre Ansätze heute häufig ästhetizistisch. Trotzdem stellte der New Conservatism der späten 1940er und der 1950er Jahre einen echten Aufbruch dar, der als intellektuell satisfaktionsfähig galt. Gleichzeitig wird man freilich nicht umhinkommen festzustellen, dass er den deutschen Konservativen wenig zu bieten hatte, das sie nicht schon kannten oder aus Großbritannien und Frankreich passgenauer entlehnen konnten. Wo es, wie etwa im liberalkonservativen Ritter-Kreis in Münster oder bei katholischen Intellektuellen wie Josef Pieper, Hans Maier oder dem thomistischen Naturrechtsphilosophen Johannes Messner zu erkennbaren Anleihen aus den USA kam, basierten diese oft wie bei Migranten und Remigranten auf einem bereits vorab akzeptierten aristotelischen Referenz- und Perzeptionsrahmen, den sie mit US-amerikanischen Aristotelikern teilten.[25] Bei Pieper oder Messner kam dann aus der in den USA erlebten und positiv bewerteten sozialen Praxis eine gewisse Akzeptanz des politischen Pluralismus und einer sozial eingehegten Marktwirtschaft hinzu.

Wie im westdeutschen Fall waren die intellektuellen Neuaufbrüche amerikanischer New Conservatives durch eine reiche Vielfalt konkurrierender Konzepte gekennzeichnet, die sich zur konservativen Tradition des Lands unterschiedlich verhielten. In ihrer Gesamtheit führten sie gleichwohl dazu, den Conservatism bis weit in die 1960er Jahre zu einer echten Alternative zum dominanten Liberalismus und zum traditionalen Konservatismus werden zu lassen, nicht allein in den Medien, sondern vor allem auch in den Geisteswissenschaften. Anders als in der Gegenwart waren konservative Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker und Soziologen um 1960 zwar eine Minderheit, aber durchaus noch auf Augenhöhe mit den Liberalen. Ihre Magazine, etwa die von William F. Buckley herausgegebene National Review, wurden von Liberalen und den Radikalen der Neuen Linken gelesen und diskutiert, gerade auch wegen ihrer scharfen Kritik an der ultrarechten John Birch Society.[26] Ein Teil dieser gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz lag in einer noch weithin intakten Mainstream-Religiosität von Protestanten und Katholiken, die weder für einen reformistischen Liberalismus noch für die radikalen Versionen des evangelikalen Konservatismus einen breiten Resonanzraum bot.

Innerhalb dieses Gesamtrahmens entfaltete sich die konservative Ideologie jedoch recht unterschiedlich. Ein wesentliches Differenzkriterium bestand etwa im Umgang mit dem Internationalismus, der auf den Demokraten Woodrow Wilson zurückführte, von Franklin D. Roosevelt aktiv propagiert worden war und der nun im Konflikt mit der UdSSR fast schon zur Staatsideologie geworden war. Internationalismus meinte dabei nicht bloß ein System kollektiver Sicherheit, sondern auch die Frage nach einer transatlantischen, gemeinwestlichen Wertebasis. Diesem Anliegen stellten sich die moderaten konservativen Denker, darunter Russell Kirk, ein leicht idiosynkratischer Historiker und Essayist,[27] Peter Viereck, Historiker am Mount Holyoke College,[28] oder auch der Philosoph Mortimer Adler[29] von der generell als konservativ eingeschätzten University of Chicago, der von seinem Universitätspräsidenten Richard Maynard Hutchins aktiv unterstützt wurde. Sie alle pflegten eine bewusst abendländische Tradition, die bei Adler und Hutchins – obwohl beide Protestanten waren – im Kern am Thomismus und damit an der katholisch-mittelalterlichen Tradition in der Lesart des 20. Jahrhunderts ausgerichtet war.[30] Kirk und Viereck dagegen orientierten sich bevorzugt an der anglo-amerikanischen Tradition, allen voran an Edmund Burke, John Randolph, T. S. Eliot, Orestes A. Brownson, Alexis de Tocqueville, Gilbert Keith Chesterton, J. R. R. Tolkien und John Kardinal Newman.[31]

Dies wurde mit universitären Programmen wie den Kursen in Western Civilization[32] oder – in Chicago – einem abendländisch anhauchten Kanon großer Bücher der Zivilisation verbunden.[33] Bildung sollte wertebegründend, Universitäten sollten als Orte der Tugend und Moderation wirken, um auf diese Weise soziale Ordnung und Autorität zu konstituieren.[34] Kirk war dabei elitärer als die anderen, aber zugleich kapitalismusskeptisch und sozial engagiert. 1963 konvertierte er wie seine großen Vorbilder Chesterton, Brownson und Newman zum Katholizismus. Für alle diese Denker war das Christentum mit seinen biblischen wie naturrechtlich motivierten Vorstellungen von Menschenwürde und Gottesebenbildlichkeit konstitutiv für den Westen, der schon zu diesem Zeitpunkt für sie nicht mehr ausschließlich liberal oder gar angelsächsisch konnotiert war.[35] Viereck war insofern der radikalste Vertreter dieser unzusammenhängenden Gruppe, als er – wie später Henry Kissinger – die Rationalität des Systems Metternich als anti-revolutionäres und gesamteuropäisches Ordnungsgefüge verteidigte.[36] Allesamt standen sie in der liberalen Tradition der Heiligkeit und Unverfügbarkeit des Privateigentums, ohne aber notwendig den Marktkapitalismus in seiner Reinform zu propagieren. Die Nähe insbesondere Kirks und Adlers zum westeuropäischen, abendländischen Konservatismus ist unübersehbar, war aber weniger die Folge direkter Kontakte, da beide in Europa kaum rezipiert wurden, als vielmehr das Ergebnis gemeinsamer geistiger Grundlagen, die sich oft aus religiösen, gemeinwestlich-abendländischen Wurzeln speiste. Auffällig ist Kirks Nähe zum Reformkatholizismus des 19. Jahrhunderts. Insofern stand er der Neuscholastik denkbar fern, wusste aber deren Streben nach einer konservativen, auf Ordnung und Tugend zielenden Gesellschaft ebenso zu würdigen wie Adler und Viereck, bei dem allerdings die Religion weniger bedeutsam war, sondern bestenfalls funktional verstanden wurde.

V. Ordnung und Wirtschaft

Dieses funktionale, auf David Hume und Edmund Burke zurückgehende Verständnis von Religion als traditionalem Ordnungsinstrument teilte auch Clinton Rossiter, Historiker und Politikwissenschaftler aus Cornell. Dafür lehnte er den Internationalismus als bekennender Nationalist rundweg ab. Nicht das Abendland oder gar der liberale Westen waren für sein Politikverständnis konstitutiv, sondern die politische Tradition der Whigs in den USA, bevorzugt John Adams, John C. Calhoun und, mit Abstrichen, Alexander Hamilton, mit dessen industriekapitalistischem Materialismus Rossiter nichts anzufangen vermochte. In diesem Zusammenhang vertrat er prominent die These, eigentlich verfügten die USA überhaupt nicht über eine echte konservative Tradition, da sie, wie Louis Hartz schon bemerkt hatte,[37] gewissermaßen von ihrer ganzen genetischen Matrix her liberal seien.[38] Ihm ging es dabei um eine besonders ausgeprägte Art wehrhafter Demokratie, um einen starken Staat, der über Instrumente verfügte, um Ordnung zu etablieren, in Ausnahmefällen sogar in Gestalt einer konstitutionellen Diktatur.[39] Damit rückte er in die Nähe von Carl Schmitts autoritärem Denken, ohne aber den prinzipiellen Primat der gegebenen Verfassungsordnung in den USA aufgeben zu wollen.

Im Kern war Rossiter ein Old Line Whig, der sich für ein von den oligarchischen Eliten kontrolliertes politisches System einsetzte. Dafür kombinierte er kommunitäre Momente mit einem liberal-individualistischen, auf Eigentum gegründeten Freiheitsbegriff. Demgegenüber fehlten bei ihm genuin wirtschaftspolitische Ideale. Weder teilte er die katholisch motivierte Kapitalismusskepsis Kirks, noch folgte er Alexander Hamilton in seinen staatsinterventionistischen Wirtschaftsplanungen. Rossiter ging es weniger um sozioökonomische Strukturfragen als um Persönlichkeit und Charakter, wobei klassische Bildung bei natürlicher Ungleichheit der Anlagen sowie die sinnstiftende Bedeutung der (nationalen) Geschichte im Vordergrund standen. Diese hohe Wertschätzung der Geschichte und des geschichtlich Gewordenen, die im faktisch Bestehenden etwas Normatives, weil Bewährtes erkannte, teilte er wie selbstverständlich mit den internationalistischen Konservativen. Man kann ihn als zivilisatorischen, lokalistisch-kommunitären Tugendrepublikaner mit erkennbar anti-individualistischen und elitären, anti-egalitären Zügen bezeichnen, der bei aller Ablehnung des Wirtschaftsliberalismus bemüht war, altliberale Freiheitsmomente mit konservativem Ordnungs- und Autoritätsdenken zu verbinden. Die geistlose Intoleranz rechter und konservativer Radikaler lehnte er strikt ab. Daher trennten sich später seine Wege von denen der hitzigeren und pessimistischeren Konservativen, darunter Allen Bloom, da Rossiter Verständnis für protestierende Studenten und die schwarze Bürgerrechtsbewegung äußerte. Bei aller Nähe zu autoritären Traditionen im deutschen Konservatismus war Rossiter am Ende doch zu national geprägt, um transatlantisch Bedeutsamkeit zu entfalten. Dies galt noch weitaus mehr für Leo Strauss und seine Schule in Chicago, der es auch gar nicht auf breitere Wirksamkeit im konservativen Segment ankam. Die Anhänger von Strauss bildeten fast eine Art Geheimkult mit einer hochelitären, an Aristoteles ausgerichteten esoterischen Lehre, was ihre Rezeption über den engeren Seminarkreis behinderte.

Ganz anders stand es um William F. Buckley.[40] Er war derjenige unter den Conservatives, der ganz bewusst die Öffentlichkeit suchte. Gemeinsam mit Russell Kirk begründete er Mitte der 1950er Jahre die National Review, die schnell zum publizistischen Flaggschiff des intellektuellen amerikanischen Konservatismus avancierte. Mehr noch: Ihm gelang es, eine zuvor für unmöglich gehaltene Koalition aus katholischen Traditionalisten und jungen, rechtslibertären Kritikern des Interventions- und Regulationsstaats im Gefolge von New Deal und später der Great Society der 1960er Jahre zu bilden. Diese brach zwar aufgrund schwerwiegender Differenzen über ökonomische und ethische Fragen – die Libertären standen Abtreibungen nicht ablehnend gegenüber – früh auseinander, stiftete aber über die Organisation der Young Americans for Freedom dennoch die organisatorischen Grundlagen für das Wiedererstarken des Conservatism nach dem republikanischen Wahldebakel von 1964.[41] Nun fanden sich die evangelikalen Befürworter eines gleichsam libertär-marktwirtschaftlichen ökonomischen Modells, des Christian Free Enterprise,[42] mit säkularen Wirtschaftsliberalen im Stil Ronald Reagans,[43] südstaatlichen Altkonservativen und jugendlich-libertären sowie christlich-fundamentalistischen Aktivisten zu einem Aktionsbündnis zusammen, das sowohl die Republikanische Partei deutlich nach rechts rücken ließ als auch die weltanschauliche Dominanz der New Conservatives beendete. Da überdies die religiösen Mainstreammilieus in Protestantismus und Katholizismus ab circa 1965 erodierten, fehlte den New Conservatives der soziale Resonanzraum für ihren intellektuellen Konservatismus.

Darin erinnern sie an die abendländischen Strömungen im westdeutschen Konservatismus, die fast parallel an Bedeutung einbüßten. Da in Westdeutschland jedoch die Evangelikalen und Fundamentalisten ebenso bedeutungslos waren wie die Libertären, begannen sich die verschiedenen nationalen Pfadabhängigkeiten folgenden und voneinander weitgehend unabhängigen Konservatismen geistig noch weiter als zuvor voneinander zu entfernen. Die bisherige Basis wechselseitiger Anerkennung als genuine Konservative, die nicht mit gegenseitiger Beeinflussung zu verwechseln ist, zerbrach mit großer Geschwindigkeit. Die skeptische Anthropologie, die jeden utopischen Reformismus ablehnte, die hohe Bedeutung des Historischen als argumentatives Referenzsystem sowie der historischen Bildung als Persönlichkeits- und Charakterbildung, die zentrale Rolle einer zur Not funktional gedachten abendländischen Religion, die Tugendethik des Aristoteles, Kritik an den empirisch nicht einzulösenden liberalen Glaubenssätzen von Egalität und kontraktualistischem Staatsdenken, Kritik eines Begriffs von Freiheit, der diese und nicht Ordnung, Autorität und Tradition sowie Wahrheit als Höchst- und Letztwert dogmatisch setzte, kurz: Die Kritik am widervernünftigen dezisionistischen Voluntarismus der Moderne, der Aufklärung und des Liberalismus, die allesamt für den transatlantischen Konservatismus der Nachkriegszeit maßgeblich und grundlegend gewesen waren, büßte im Zuge der sozialen und kulturellen Wandlungen der 1960er Jahre an Überzeugungskraft ein.

Was blieb, waren ein westdeutscher Liberalkonservatismus, in dem das liberale Element deutlich ausgeprägter war als das konservative, und ein amerikanischer Konservatismus, der sich seiner radikalsten Traditionen aus der Zeit vor dem New Conservatism versicherte. Damit zerbrach der oft unbewusste konservative Wertekonsens der 1950er Jahre, der sich – trotz der liberalen Konnotationen des Konzepts – im Begriff des Westens niedergeschlagen hatte. Zwar verteidigten Liberalkonservative und Conservatives auf beiden Seiten des Atlantiks ab den 1970er Jahren die Ideen und Ideale des Westens gegen postmoderne und postkoloniale Kritik, aber das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie unter dem Westen gänzlich unterschiedliche Dinge verstanden.

Published Online: 2020-10-01
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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