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Jenseits von Donald Trump

Zeithistorische Annäherungen an die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 1945
  • Thomas Schlemmer EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2020
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Abstract

Das Podium Zeitgeschichte wirft ein kritisches Schlaglicht auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei werden Faktoren der Stabilität und des Wandels herausgearbeitet, Kontinuitäten und Zäsuren untersucht, das spezifische Gewicht organisatorischer Strukturen der internationalen Politik bestimmt, der Einfluss personeller Konstellationen problematisiert und die Grenzen des transatlantischen Verständnisses ausgelotet. Dazu präsentiert das Podium Zeitgeschichte fünf sektorale Analysen auf Feldern von besonderer Bedeutung: erstens die bilateralen politischen Beziehungen im Kontext der internationalen Politik (Philipp Gassert); zweitens Partnerschaft und Kontroversen unter besonderer Berücksichtigung der Sicherheits- und Bündnispolitik (Andreas Etges); drittens Wirtschaft, Handel und Finanzen als ebenso stabilisierende wie konfliktbehaftete Säule des transatlantischen Austauschs (Stormy-Annika Mildner); viertens Konjunkturen des Konservatismus als Gradmesser für Kommunikationskanäle und -blockaden zwischen der Bundesrepublik und den USA (Michael Hochgeschwender); fünftens gegenseitige Wahrnehmungen, Bilder und Stereotype, deren Dekonstruktion eine bessere Bestimmung des Grads von Nähe oder Fremdheit zulässt (Reinhild Kreis und Jan Logemann).

Abstract

The “Contemporary History Podium” takes a critical look at German-American relations since the end of the Second World War. In this process, it identifies factors of stability and change, investigates continuities and caesuras, measures the specific weight of organisational structures in international politics, critically examines the influence of the compatibility of personalities and fathoms the limits of transatlantic understanding. The “Contemporary History Podium” thus presents five sectoral analyses of fields with special importance: One, the bilateral political relations in the context of international politics (Philipp Gassert); two, partnership and controversies with special emphasis on security and alliance policy (Andreas Etges); three, economy, trade and finance as both stabilising and conflict-laden pillars of transatlantic exchange (Stormy-Annika Mildner); four, boom and bust of conservatism as a measure for communication channels and blockages between Germany and the USA (Michael Hochgeschwender); five, mutual perceptions, images and stereotypes, whose deconstruction allows for a better understanding of the degree of proximity or unfamiliarity (Reinhild Kreis and Jan Logemann).

Seit der Wahl Donald Trumps zum 45. Präsidenten der USA im November 2016 ist im deutsch-amerikanischen Verhältnis kaum mehr etwas, wie es war.[1] Die bilateralen Beziehungen haben unter der Hemdsärmeligkeit des amerikanischen Staats- und Regierungschefs ebenso gelitten wie unter deutschen Empfindlichkeiten; auf internationalem Parkett steht der von Berlin präferierte Multilateralismus als Grundprinzip der Außenpolitik Trumps Strategie der Alleingänge und des kompromisslosen maximalen Drucks gegenüber; wirtschaftspolitisch leidet insbesondere der Austausch von Waren und Dienstleistungen unter der von der Trump-Administration vollzogenen Abkehr vom Freihandel, die in der Bundesrepublik vielfach als Kriegserklärung wahrgenommen wird; auf der Ebene von Kultur und Gesellschaft wachsen diesseits und jenseits des Atlantik Unverständnis und Überheblichkeit. Selbst auf dem Feld der Sicherheitspolitik – eine zentrale Konstante deutsch-amerikanischer Beziehungen seit 1949 – scheint der Konsens zerbrochen: Die Trump-Administration fordert von der Bundesrepublik offensiv eine Erhöhung ihrer Militärausgaben ein und rührt damit an ein in Deutschland alles andere als populäres Thema. Nicht umsonst hat Bundeskanzlerin Angela Merkel im Mai 2019 erklärt: „Gewissheiten gelten nicht mehr.“[2] Die Corona-Krise tut ein Übriges, um nationale Egoismen zu stärken und die grenzüberschreitende Kommunikation als zentrales Element der transatlantischen Partnerschaft zu erschweren.

Das Interesse der zeithistorischen Forschung in der Bundesrepublik ist im Verhältnis zu der Intensität, mit der die Diskussion über die deutsch-amerikanischen Beziehungen in Politik und Öffentlichkeit geführt wird, vergleichsweise gering. Für dieses Defizit dürften vor allem fünf Faktoren verantwortlich sein: Erstens ist die Geschichte der Außenpolitik und der bilateralen Beziehungen im Zeichen des Cultural Turn in Forschung und Lehre bei weitem nicht mehr so prominent vertreten, wie das noch bis in die 1990er Jahre der Fall gewesen ist. Dazu kommen, zweitens, die zunehmende Spezialisierung und Differenzierung, die in Geschichts- und Sozialwissenschaften zur Entstehung weitgehend voneinander abgeschotteter Diskursräume geführt haben. Drittens blieben das Ende des Kalten Kriegs und der Übergang von der „Bonner“ zur „Berliner Republik“ nicht ohne Folgen, da die transatlantischen Zusammenhänge im Zeichen einer neuen Welt(un)ordnung an Bedeutung zu verlieren schienen. Viertens kamen auch Impulse aus den USA nach und nach zum Erliegen, und das gemeinsame Interesse, das etwa die Erforschung der Besatzungszeit oder der Ära Adenauer getragen hatte, begann zu erlahmen.[3] Und fünftens band eine neue Aufmerksamkeit für die nationalsozialistische Vergangenheit und den Umgang damit beträchtliche Ressourcen an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen.

Ein Schlaglicht auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu werfen, kritisch Bilanz zu ziehen und nach Desideraten der Forschung zu fragen, ist also über das gegenwärtige Interesse im Vorfeld der US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen hinaus durchaus am Platz. Das vierte Podium Zeitgeschichte erfüllt so eine doppelte Funktion: als Stimulans für die wissenschaftliche Erforschung der deutsch-amerikanischen Beziehungen, die in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte schon geraume Zeit kaum mehr Niederschlag gefunden hat, und als Orientierungsrahmen für die aktuelle Debatte.

Das Podium Zeitgeschichte umfasst fünf Längsschnitte, die gleichsam fünf Schneisen in das Dickicht der deutsch-amerikanischen Beziehungen seit 1945 schlagen sollen. Dabei gilt es, Faktoren der Stabilität und des Wandels im gegenseitigen Verhältnis herauszuarbeiten, Kontinuitäten und Zäsuren zu untersuchen – wobei dem Ende des Kalten Kriegs um 1990 eine besondere Bedeutung zukommt –, das spezifische Gewicht organisatorischer Strukturen wie der North Atlantic Treaty Organization zu bestimmen, den kontingenten Einfluss biografischer Konstellationen auf die Politik herauszuarbeiten – man denke nur an das schwierige Verhältnis von Konrad Adenauer und John F. Kennedy oder von Helmut Schmidt und Jimmy Carter – sowie nach den Grenzen des transatlantischen Verständnisses und damit auch nach den Grenzen der Amerikanisierung in Deutschland zu fragen.

Dazu präsentiert das Podium Zeitgeschichte sektorale Analysen auf fünf Feldern von besonderer Bedeutung: erstens die bilateralen politischen Beziehungen im Kontext der internationalen Politik und Entwicklung des liberalen amerikanischen Imperiums; zweitens Partnerschaft und Kontroversen unter besonderer Berücksichtigung der Sicherheits- und Bündnispolitik zwischen doppelter Eindämmung, Kaltem Krieg und „Zivilmacht“[4]; drittens Wirtschaft, Handel und Finanzen als ebenso stabilisierende wie konfliktbehaftete Säule des transatlantischen Austauschs; viertens Konjunkturen des Konservatismus, um exemplarisch Kommunikationskanäle und -blockaden zu untersuchen; fünftens gegenseitige Wahrnehmungen, Bilder und Stereotype, deren Dekonstruktion eine bessere Bestimmung des Grads von Nähe oder Fremdheit zulässt.

Den Anfang macht Philipp Gassert mit einem problemorientierten Überblick über die deutsch-amerikanischen Beziehungen im multilateralistischen Kontext. Er skizziert das variable Koordinatensystem des American Century, in dem er (West-)Deutschland verortet. Von besonderer Bedeutung ist dabei die unipolare Versuchung nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre, die mit Überlegungen und Initiativen zur Schaffung einer Neuen Weltordnung einherging. Diesen globalen Gestaltungsanspruch scheinen die USA Donald Trumps Zug um Zug aufzugeben – mit entsprechenden Folgen für die internationale Politik und für das dichte Netz multilateraler Verträge oder Organisationen, das nach 1945 eine der Grundlagen amerikanischer Hegemonie bildete.

Daran anknüpfend beschreibt Andreas Etges unter den Schlagworten Partnerschaft, Kontroversen und Misstrauen gleichsam Szenen der deutsch-amerikanischen Ehe mit ihren häufig nostalgisch überzuckerten Höhen und den ebenso oft übersehenen, gleichwohl bitteren Tiefen. Aus dieser Beziehungsgeschichte sticht wiederum die Zäsur von 1989/90 heraus, welche die Voraussetzungen für die im Kalten Krieg wurzelnde transatlantische Partnerschaft nachhaltig veränderte. Damit einher ging ein Prozess der Entfremdung – oder vielleicht auch Normalisierung –, der nicht zuletzt auf die neuen innen- und außenpolitischen Herausforderungen zurückzuführen war, vor denen beide Seiten standen. Wohin dieser Prozess führt, ist noch nicht abzusehen – zurück zu alten Gewissheiten sicher nicht.

Stormy-Annika Mildner blendet dann um auf das weite Feld der Ökonomie. Die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den USA und Europa im Allgemeinen sowie zwischen den USA und (West-)Deutschland im Besonderen, wie sie sich nach 1945 herausgebildet hatte, ist bis heute zentraler Bestandteil des Fundaments, auf dem auch die politischen Beziehungen ruhen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass dieses Fundament nicht erst in jüngster Zeit Risse bekam, sondern dass sich bereits seit den 1970er Jahren ein langsamer Wandel der amerikanischen Handelspolitik vom freien zum fairen Handel vollzog. Die Abkehr vom Pfad der multilateralen Liberalisierung setzte also früher ein als oft angenommen; auch andere aktuelle handelspolitische Streitpunkte zwischen den USA und der Europäischen Union haben tiefe historische Wurzeln.

Einem unterbelichteten Kapitel der deutsch-amerikanischen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg widmet sich Michael Hochgeschwender in seinem Beitrag über die Metamorphosen des Konservatismus diesseits und jenseits des Atlantiks. Dabei geht es weniger um Elemente transnationalen Transfers als um Analogien, Konvergenzen und Divergenzen im Spannungsfeld nationalgeschichtlich bedingter Pfadabhängigkeiten, die mehr Blockaden erzeugten, als sie Berührungspunkte schufen. Unter Druck kamen seit den 1960er Jahren insbesondere die Ideen und Ideale des Westens, die zwar verteidigt wurden, obwohl sich nicht übersehen ließ, dass man in der Bundesrepublik darunter zunehmend etwas anderes verstand als in den USA.

Reinhild Kreis und Jan Logemann schließlich gehen der Frage nach, wie sich deutsch-amerikanische Wahrnehmungen seit dem Zweiten Weltkrieg veränderten und über welche Kanäle diese Wahrnehmungen vermittelt wurden. Sie arbeiten anhand der Untersuchungsfelder mediale Berichterstattung, Kulturdiplomatie und Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Unterhaltung sowie Alltagserfahrungen heraus, wie heterogen amerikanische Deutschlandbilder respektive (west-)deutsche Amerikabilder stets gewesen sind und wie groß die Prägekraft war, die dem Bezugsrahmen des Kalten Kriegs zugeschrieben werden muss. Veränderte transatlantische Aufmerksamkeitsökonomien waren nach dem Ende der Konfrontation zwischen Ost und West zu erwarten und mithin folgerichtig.

*

Diese und weiterführende Themen werden die Autorinnen und Autoren voraussichtlich im November 2020 – nach der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten – im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung erörtern und mit einem breiteren Publikum diskutieren. Die Richtungsentscheidung zwischen Donald Trump und seinem Konkurrenten Joe Biden mit ihren potenziellen Auswirkungen auf die transatlantischen Beziehungen verleiht dieser Veranstaltung einen besonderen Reiz. Die Diskussion wird aufgezeichnet und in Form von Filmsequenzen und einem vollständigen Transkript auf der VfZ-Homepage dokumentiert. Das online zugängliche VfZ-Forum (www.ifz-muenchen.de/vierteljahrshefte/forum/) bietet allen Interessierten Gelegenheit, die Debatte über die Zukunft der deutsch-amerikanischen Beziehungen und die historische Dimension gegenwärtiger Probleme fortzusetzen.

Published Online: 2020-10-01
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2020-0036/html
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