I. Szenen einer Ehe
Im Mai 2019 sorgte ein Interview mit Angela Merkel für Schlagzeilen. „Europa“, so die Bundeskanzlerin, müsse sich „in einer veränderten Welt neu positionieren“. Und auch wenn sie im nächsten Satz die USA nicht erwähnte, so verstand doch jeder den Bezug zu den Vereinigten Staaten und Präsident Donald Trump: „Manche Gewissheiten, die in der Nachkriegsordnung gewachsen sind, gelten nicht mehr.“[1]
Tatsächlich war nach 1945 eine besondere, von nationalen und geopolitischen Interessen beeinflusste deutsch-amerikanische Beziehung gewachsen. Es war aber zunächst keine Hochzeit aus Liebe, sondern eher eine den schwächeren Deutschen auferlegte Zwangsheirat. Dennoch gab es in der langjährigen Ehe auch Phasen großer Verliebtheit – allen Streitigkeiten zum Trotz. Das gilt auch für die angeblich goldenen Zeiten der deutsch-amerikanischen Partnerschaft im Kalten Krieg, wo es hinter den Kulissen oftmals heftig krachte, wo von Gleichberechtigung kaum die Rede sein konnte, wo die ungleiche Lastenverteilung regelmäßig für Unmut sorgte und man jede Hinwendung Richtung Osten mit Misstrauen betrachtete. Die deutsche Wiedervereinigung bedeutete keine Scheidung, aber brachte eine deutliche Emanzipierung mit sich.
Detlef Junker hat dieses Verhältnis 2001 für beide Seiten als „eine Erfolgsgeschichte [...] ohne Vorbild in der Geschichte der internationalen Beziehungen“ beschrieben.[2] Im Rückblick scheint manches vielleicht positiver, als es eigentlich war. Wenn es heute knirscht, sieht mancher schon vorschnell das Ende nahen. Kurz: Es ist Zeit für einen kritischen Blick zurück und eine nüchterne Bestandsaufnahme der sich wandelnden deutsch-amerikanischen Beziehungen. Dabei ist es zunächst notwendig, den grundlegenden Wandel in der US-Außenpolitik und im amerikanischen Selbstverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg hervorzuheben, wobei der Fokus für die Zeit des Kalten Kriegs fast ausschließlich auf der Bundesrepublik liegt.
II. „Die Isolation der Vereinigten Staaten ist vorbei“
Seit ihrer Gründungszeit hatten die USA einen oft zu Unrecht auch als Isolationismus bezeichneten außenpolitischen Kurs eingeschlagen: Die Prämisse war, keine militärischen Bündnisse mit europäischen Mächten einzugehen, um so nicht in Kriege verwickelt zu werden.[3] Auch aufgrund der Nichteinmischungspolitik in europäische Angelegenheiten, eines der Grundprinzipien der Monroe-Doktrin von 1824, zögerten die USA lange, in den Ersten Weltkrieg einzutreten. Wenige Monate nach Kriegsende verkündete Präsident Woodrow Wilson: „Die Isolation der Vereinigten Staaten ist vorbei“; das Land sei zu einem bestimmenden Faktor des Weltgeschehens geworden.[4] Doch die Realität in der Zwischenkriegszeit sah anders aus: Die USA traten nicht dem besonders auch von Wilson propagierten Völkerbund bei, Neutralitätsgesetze wurden verabschiedet, und America First-Gruppen warben massiv dafür, sich künftig wieder aus europäischen Angelegenheiten herauszuhalten. Hier zeigte sich noch einmal die Stärke des Isolationismus.
Dessen letzte Stunde schlug am 6. Dezember 1941. Der japanische Angriff auf die amerikanische Marinebasis in Pearl Harbor führte zu einer unvergleichlichen Mobilisierung. Die USA waren nach 1945 entschlossen, ein Faktor des Weltgeschehens zu bleiben. Henry R. Luce, Verleger der Magazine Time und Life, hatte seine Landsleute bereits im Februar 1941 aufgefordert, die Rolle als mächtigste Nation und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu akzeptieren. Jetzt sei die Möglichkeit, die Welt im eigenen Sinne zu prägen und so das 20. Jahrhundert zu einem „American Century“ zu machen.[5] Dafür gab es in den Folgejahren einen breiten Konsens im Land. Die Vereinigten Staaten prägten in gewisser Weise tatsächlich ein amerikanisches Jahrhundert – und das mit exzeptioneller Bedeutung für Deutschland. Laut Detlef Junker „hat kein Land der Welt das Schicksal der Deutschen im 20. Jahrhundert so geprägt wie die Vereinigten Staaten von Amerika“.[6]
III. „Die Deutschen unten halten“
1945 war die Ausgangssituation für die beiden Staaten diametral unterschiedlich. Die USA gingen als Sieger, ohne Zerstörungen in der Heimat, als wirtschaftliche, politische und ökonomische Führungs- und Ordnungsmacht aus dem Zweiten Weltkrieg hervor und hatten zudem für einige Jahre das Atomwaffenmonopol. Sie waren in den Worten von Thomas J. McCormick „globale Werkstatt, Bankier, Schiedsrichter und Polizist, Prediger und Lehrer der Welt“ sowie deren „Bäckerei“.[7] Nationale Sicherheit begann nicht mehr erst an den eigenen Landesgrenzen, sondern wurde nun global definiert. Das war gekoppelt an die wohl wichtigste Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg: kein weiteres „München“, keine Appeasement-Politik mehr gegenüber Aggressoren. Spätestens 1947 zielte die Eindämmungspolitik auf die als „roter Faschismus“ identifizierte Gefahr durch die Sowjetunion.[8] Auch deshalb waren die USA nun bereit, kollektive Bündnisse mit zu gründen und mit der North Atlantic Treaty Organization (NATO) erstmals einer Entangling Alliance beizutreten. Und anders als die Sowjets im östlichen Teil Europas, wurden die Amerikaner in Westeuropa eher begrüßt. Hier entstand, so Geir Lundestad, ein „Imperium auf Einladung“.[9]
All dies bestimmte auch die US-Politik gegenüber einem besiegten, zerstörten, besetzten und bald schon geteilten Deutschland. Zudem wurde die sogenannte deutsche Frage, der ungeklärte Status Deutschlands, zur zentralen Frage des Kalten Kriegs.[10] Die ursprüngliche Besatzungsorder, Deutschland sei als „besiegter Feindstaat“ zu behandeln, wurde schon bald modifiziert,[11] und die amerikanische Deutschlandpolitik war bis 1990 von zwei Prämissen getragen: Erstens galten die Ankurbelung der westdeutschen Exportwirtschaft, die Einbindung der Bundesrepublik in westliche, wirtschaftliche und militärische Allianzen sowie nach dem Koreakrieg deren Wiederbewaffnung als unabdingbar für ein westeuropäisches ökonomisches und militärisches Bollwerk gegen den Kommunismus. Auch der im April 1948 vom US-Kongress verabschiedete Marshallplan diente diesem Zweck.
Zweitens blieb – und das galt auch für Deutschlands west- und osteuropäische Nachbarn – bis in die Zeit der Wiedervereinigung ein Grundmisstrauen gegenüber den Deutschen. Wolfram F. Hanrieder hat in diesem Zusammenhang die sogenannte doppelte Eindämmung besonders prägnant beschrieben: Es sei „die Eindämmung der Sowjetunion aus der Distanz sowie der Bundesrepublik in der Umarmung“.[12] Beiden Zwecken diente auch die Stationierung amerikanischer Truppen in Deutschland. Noch drastischer hat der spätere NATO-Generalsekretär Lord Hastings Lionel Ismay den Zweck des westlichen Verteidigungsbündnisses beschrieben: Man brauche die NATO, „um die Russen draußen, die Amerikaner drin und die Deutschen unten zu halten“.[13]
Die von den USA gemeinsam mit Großbritannien organisierte Luftbrücke zur Versorgung der West-Berliner während der mehr als 300 Tage andauernden Blockade 1948/49 galt als erster wichtiger Erfolg der Eindämmungspolitik. Und sie war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Gleichzeitig wurde besonders die Verteidigung der Freiheit West-Berlins zu einem Kern der globalen amerikanischen Credibility im Kalten Krieg, die immer in einem doppelten Sinne zu verstehen war: in der glaubwürdigen Abschreckung der Gegenseite, aber auch in dem festen Vertrauen der eigenen Verbündeten, dass die Vereinigten Staaten im Kriegsfall ihre volle militärische Macht zu deren Verteidigung einsetzen würden.
Konrad Adenauer setzte schon früh auf die Vereinigten Staaten. Gleich in seiner ersten Regierungserklärung dankte der Kanzler explizit den USA: „Ich glaube nicht, dass jemals in der Geschichte ein siegreiches Land es versucht hat, dem besiegten Land in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun.“[14] Besonders in der Amtszeit von Dwight D. Eisenhower hatte der Bundeskanzler auch ein persönlich enges Verhältnis zu führenden amerikanischen Regierungsmitgliedern, das sogar in Wahlkampfhilfe mündete. In einer Pressekonferenz erklärte Außenminister John Foster Dulles wenige Tage vor der Bundestagswahl im September 1953, eine Niederlage der von Adenauer geführten Bundesregierung wäre für Deutschland katastrophal.[15] Vor allem vonseiten der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), deren 1952 verstorbener Vorsitzender Kurt Schumacher ihn bereits Ende 1949 als „Bundeskanzler der Alliierten“ kritisiert hatte,[16] hagelte es angesichts dieser Einmischung in den Wahlkampf Proteste.
Adenauers entschiedene Politik der politischen, wirtschaftlichen und schließlich auch militärischen Westbindung war unter anderem in Teilen der Opposition umstritten. Zwar verfolgte der Kanzler das im Grundgesetz geforderte Ziel der Wiedervereinigung, doch die Anbindung an den Westen auch im Rahmen der Eindämmungspolitik ließ die Chancen auf eine deutsche Einigung schwinden. Aber die unter den gegebenen Umständen quasi alternativlose Politik der Westbindung war erfolgreich, wiederum vor allem auch dank der amerikanischen Unterstützung. Mit dem Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 fielen die noch bestehenden Produktionslimits in der deutschen Schwerindustrie, und gegen innerdeutsche und europäische Widerstände wurde die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik durchgesetzt. Mit der Aufhebung des Besatzungsstatuts und der NATO-Mitgliedschaft erhielt das Land 1955 weitgehend seine Souveränität zurück. Stolz konnte der Kanzler am 5. Mai dieses Jahrs verkünden: „Wir stehen als Freie unter Freien, den bisherigen Besatzungsmächten in echter Partnerschaft verbunden.“[17]
Dass die Bundesrepublik damals – und auch 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag – den Verzicht auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen erklären musste, ist ein Zeichen dafür, dass das Misstrauen gegenüber den Deutschen weiter existierte. Gleichzeitig blieb die sicherheitspolitische Bedeutung Westdeutschlands für die USA bestehen. Das Land sei, so hieß es in einem deutschlandpolitischen Dokument des Nationalen Sicherheitsrats vom Dezember 1957, „von existenzieller Bedeutung für die Vereinigten Staaten“.[18]
IV. „Ish bin ein Bearleener“ oder den Deutschen „in die Eier treten“
Die besondere Romanze der Westdeutschen mit John F. Kennedy gilt oft als die goldene Zeit der transatlantischen Beziehungen. Das suggerierte im Juni 2013 auch Der Spiegel auf seiner Titelseite. Aufgrund von Enthüllungen im Rahmen der Spionage- und Abhöraffäre um die National Security Agency (NSA) sprach das Nachrichtenmagazin „50 Jahre nach Kennedy“ von einem „verlorene[n] Freund“. Hinter Präsident Barack Obama schwebte auf dem Titelbild der große Geist seines Vorgängers.[19] Doch tatsächlich gab es in den frühen 1960er Jahren nicht nur hinter den Kulissen massive Konflikte, die sowohl politischer als auch persönlicher Natur waren. Dass Berlins Regierender Bürgermeister und SPD-Hoffnungsträger Willy Brandt im März 1961 noch vor dem deutschen Kanzler im Weißen Haus zu Gast war, hatte sicherlich nicht nur mit der drohenden Berlinkrise zu tun. Kennedy und Adenauer trennte ein Altersunterschied von gut 40 Jahren. Zudem hatte der damalige Senator und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des US-Senats bereits im Oktober 1957 in der einflussreichen Zeitschrift Foreign Affairs erklärt, das Ende der Adenauer-Zeit sei gekommen – sehr zum Missfallen des „Alten“.[20] Kennedy und Adenauer vertraten in wichtigen außenpolitischen Fragen zum Teil konträre nationale Interessen.
Das zeigte sich deutlich in der Kontroverse über den Élysée-Vertrag vom 22. Januar 1963. Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag, der einen Meilenstein in der Annäherung der beiden so lange verfeindeten Staaten darstellt, zielte auch darauf, den amerikanischen Einfluss in Westeuropa zurückzudrängen. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle umgarnte die Deutschen bei seinem Staatsbesuch im September 1962 nicht zuletzt mit einer bedeutenden Rede. Auf dem Balkon des Bonner Rathauses pries der ehemalige Résistance-Führer in deutscher Sprache „die deutsch-französische Freundschaft“ und „das große deutsche Volk“.[21] Die US-Regierung sah die Gefahr einer deutsch-französischen Achse. Auch auf amerikanischen Druck hin wurde der Text des Abkommens schließlich um eine vom Bundestag verabschiedete Präambel erweitert, in der die Bedeutung „einer engen Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika“ hervorgehoben wurde.[22] Die Atlantiker hatten sich gegen die Gaullisten durchgesetzt, auch weil die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA noch zu groß war.
Das hatte sich auch in der zweiten Berlinkrise gezeigt. Bereits 1958 hatte Nikita Chruschtschow einen Abzug der Westalliierten aus West-Berlin gefordert und von einem separaten Friedensvertrag mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) gesprochen. Bei dem einzigen Gipfeltreffen mit Kennedy im Juni 1961 wiederholte der sowjetische Staatschef seine Forderungen. Und auch wenn hier die beiden Großmächte verhandelten, so zeigte sich in der Berlinkrise auch die direkte und indirekte Macht der beiden in vielfacher Weise abhängigen deutschen Staaten.
Chruschtschow stand zunehmend unter dem Druck der Regierung der DDR, einer Abriegelung der noch durchlässigen Grenze zwischen Ost- und West-Berlin zuzustimmen, um so die massenhafte Abwanderung von Bürgern nach Westdeutschland zu stoppen und die DDR zu stabilisieren. Kennedys Glaubwürdigkeit stand im Sommer 1961 gleich doppelt auf dem Spiel: gegenüber den westdeutschen Verbündeten ebenso wie gegenüber der sowjetischen Führung, und das nicht nur bezüglich Berlins. Es gehe um alles, so der ehemalige US-Außenminister Dean Acheson in einem geheimen Memorandum.[23] Entsprechend zeigten militärische Krisenszenarien der US-Seite die Eskalation von einem Grenzkonflikt in Berlin hin zu einem „allgemeinen Atomkrieg“.[24] In einer längeren Fernsehansprache bezeichnete Kennedy am 25. Juli 1961 die Verteidigung der Freiheit West-Berlins als „großen Prüfstein für den Mut und die Willensstärke des Westens“.[25] Doch Kennedy unterschätzte im August 1961 die psychologische Wirkung des Mauerbaus. Willy Brandt warnte den US-Präsidenten vor einer schweren Glaubwürdigkeitskrise, und die Bild titelte in großen Buchstaben: „Der Westen tut NICHTS! Präsident Kennedy schweigt“.[26] Mit symbolischer Politik, darunter einem Besuch von Vizepräsident Lyndon B. Johnson und dem Luftbrücken-Helden Lucius D. Clay in West-Berlin, gelang es dann, das verlorene Vertrauen weitgehend wiederherzustellen. Die gefährliche Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie Ende Oktober 1961 zeigte zwar noch einmal, wie brenzlig die Lage in Berlin werden konnte, aber insgesamt bewirkte der Mauerbau eine relative Stabilisierung der DDR. Gleichzeitig beendete er die letzten Hoffnungen auf die Möglichkeit einer Wiedervereinigung, die für die Kennedy-Administration allerdings auch weit geringere Priorität hatte als eine beginnende Entspannungspolitik mit der Sowjetunion.
Kennedys Besuch in der Bundesrepublik im Juni 1963 war die vielleicht größte öffentliche Feier der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Auch Kanzler Adenauer sonnte sich im Glanz des populären US-Präsidenten. Vor allem Kennedys berühmter Satz „Ich bin ein Berliner“, mit dem er die Stadt erneut als weltweites Symbol der Freiheit heraushob und alle freiheitsliebenden Menschen zu Berlinern erklärte, ist in Erinnerung geblieben. Sein Besuch war auch eine persönliche Wiedergutmachung für die unmittelbare Enttäuschung nach dem Mauerbau zwei Jahre zuvor. Aber dass er sein Bekenntnis in einer weitgehend improvisierten Rede mit Hilfe der handschriftlich auf einer Karteikarte notierten Aussprachehilfe „Ish bin ein Bearleener“ gleich zweimal auf Deutsch machte, hatte wohl auch mit der Charmeoffensive de Gaulles zu tun.[27] Kennedy gewann: Ihn wollten weit mehr Deutsche sehen als den französischen Präsidenten, und sein Satz schaffte es sogar in die Popkultur.
In seiner eigentlich als Hauptrede geplanten Ansprache in der Frankfurter Paulskirche pries Kennedy am 25. Juni 1963 die „Atlantische Partnerschaft“, eine „Gesamtheit interdependenter Teile, die an Lasten und Entscheidungen gleichermaßen beteiligt und sowohl durch die Aufgaben der Verteidigung als auch durch die Werke des Friedens miteinander verknüpft sind“.[28] Amerikas nuklearer Schutzschirm werde weiterhin der ganzen westlichen Allianz dienen, versprach er. Doch auch wenn der US-Präsident mehr als ein Dutzendmal von Partnern oder Partnerschaft sprach: Weder waren die Amerikaner zu einem echten Power Sharing bereit, noch die deutschen und anderen Verbündeten zu einem echten Burden Sharing.
Ein Streit mit Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson über ein ganz spezielles Burden Sharing sollte dann ausgerechnet einem der führenden deutschen Atlantiker zum Verhängnis werden. Dabei ging es um die Beteiligung an den Kosten für die auf deutschem Boden stationierten US-Truppen, vor allem auch in Form von Rüstungskäufen in entsprechender Höhe in den USA. Wiederholt war die Bundesrepublik bei diesem Devisenausgleichsabkommen im Verzug. Die US-Seite drohte sogar damit, die Truppenstärke zu reduzieren. Bei einem Besuch im Weißen Haus Ende September 1966 warf Johnson Adenauers Nachfolger Wortbruch vor. Trotz massiver innenpolitischer Kritik setzte Ludwig Erhard schließlich einen Nachtragshaushalt durch. Der massive Vertrauensverlust in den eigenen Reihen und beim Koalitionspartner, der Freien Demokratischen Partei (FDP), führte schließlich am 30. November 1966 zu Erhards Rücktritt.[29] Im Sommer 1964 hatte Johnson gegenüber engen Beratern den Umgang mit den Deutschen beschrieben: „Man muss ihnen immer wieder den Kopf tätscheln und ihnen ab und zu in die Eier treten.“[30] Erhard hatte in seiner kurzen Amtszeit beides erlebt.
Bei der deutschen Variante der Entspannungspolitik sah es zunächst besser aus. Kennedy, der in einer bedeutenden Grundsatzrede am 10. Juni 1963 die Logik des Kalten Kriegs in Frage gestellt hatte, gab Brandt und seinem engsten Berater Egon Bahr in Berlin persönlich grünes Licht für ihre geplante Initiative. Wenige Wochen später, am 15. Juli 1963, stellte Bahr in der Evangelischen Akademie in Tutzing das Konzept „Wandel durch Annäherung“ zur Diskussion.[31]
Mit dem Harmel-Bericht bewegte sich auch die NATO ab Ende 1967 in diese Richtung. Entspannungspolitik wurde neben der Abschreckungs- und Eindämmungspolitik zum zweiten Pfeiler der Allianz und bedurfte keiner kollektiven Genehmigung.[32] Das bedeutete jedoch nicht, dass der Bundesrepublik nun Alleingänge erlaubt wurden, wie US-Verteidigungsminister Robert McNamara im September 1966 besonders bezüglich eines möglichen Abkommens mit der Sowjetunion betonte.[33]
Letzteres befürchtete Johnsons Nachfolger Richard Nixon zusammen mit seinem nationalen Sicherheitsberater und späteren Außenminister Henry Kissinger. Willy Brandt hatte als Außenminister in der von Kurt Georg Kiesinger geführten Großen Koalition erste Akzente einer künftigen neuen Ostpolitik gesetzt und zielte seit 1969 als Bundeskanzler in einer Koalition mit der von Walter Scheel geführten FDP auf eine Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion, zu Polen und zur DDR. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus Mitte Oktober 1970 wurde offen Misstrauen geäußert. Die sozialliberale Regierungskoalition, so der amerikanische Botschafter in der Bundesrepublik Kenneth Rush in bewusster Verkennung der Fakten, „besteht aus Menschen aus dem Osten, die den Blick nach Osten richten. Es bedarf energischer Anstrengungen auf unserer Seite, um sie im westlichen Lager zu halten.“ Kissinger beschrieb die begrenzten amerikanischen Möglichkeiten: „Wir könnten uns der Politik widersetzen und Brandt stürzen.“ Darauf arbeiteten tatsächlich prominente Unionspolitiker hin, aber das galt als eine zu weitgehende Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Bündnispartners. Die USA standen vor einem Dilemma: „Wir können es uns nicht leisten, gegen Brandt vorzugehen, aber wir können seine Politik auch nicht zu sehr unterstützen.“[34] Die Sorge vor einem eigenständigen dritten Weg war aber nicht nur angesichts der begrenzten Souveränität der Bundesrepublik völlig unbegründet. So etwas wurde in Bonn nicht erwogen, aber man wolle „‚gleicher‘ als zuvor“ agieren, so Brandt.[35]
Erst durch die erfolgreiche Verlinkung von Ostpolitik und Viermächteabkommen über Berlin mit der amerikanischen Entspannungspolitik gegenüber den beiden kommunistischen Großmächten China und der Sowjetunion war man wieder weitgehend im deutsch-amerikanischen Gleichklang und kooperierte in enger, oft geheimer Abstimmung. Die Ostverträge wurden ebenso wie das Viermächteabkommen ratifiziert, und das ermöglichte schließlich auch die gegenseitige Anerkennung der beiden deutschen Staaten und ihre Aufnahme in die Vereinten Nationen im Jahr 1973. Doch nun wuchsen in der alten Welt die Sorgen über die bilaterale amerikanische Entspannungspolitik mit der Sowjetunion.
V. „Sonne statt Reagan“
„Während die Entspannungspolitik für Bonn teilbar erschien, ja aus Gründen der politischen Klugheit teilbar sein musste, hatten die Sicherheitspolitik und die Abschreckung der sowjetischen Militärmacht unteilbar zu sein“, so Gottfried Niedhart.[36] Aber auf beiden Feldern gab es Konflikte mit den USA. Wieder kamen persönliche Spannungen hinzu. Der „Weltpolitiker“ Helmut Schmidt, für den die Bundesrepublik zumindest wirtschaftlich zur „zweiten Weltmacht des Westens“ aufgestiegen war, äußerte sich immer wieder abfällig über den außenpolitisch unerfahrenen US-Präsidenten Jimmy Carter. „Dumm und nervös“ agiere dieser, so der Kanzler im Frühjahr 1980.[37] Besonders besorgt war Schmidt über die politische und militärische Balance in Europa, die er unter anderem durch die Verträge über die Begrenzung strategischer Atomwaffen zwischen den beiden Großmächten gefährdet sah. Er fürchtete, dass die USA für bilaterale Verträge mit den Kremlführern deutsche Sicherheitsinteressen opfern könnten.[38] Durch die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen in Europa, so sein Kalkül, würde sich nicht nur das Gleichgewicht des Schreckens wieder einstellen, sondern so könnten die Vereinigten Staaten auch wieder glaubwürdig in die europäische Sicherheitsarchitektur eingebunden werden. Nur mit Mühe gelang es, die zunächst zögerliche US-Regierung davon zu überzeugen. Der im Dezember 1979 verabschiedete NATO-Doppelbeschluss enthielt ein Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, ihre eigenen Mittelstreckenraketen abzubauen, um so neue Atomwaffen im Westen zu verhindern.[39]
Die geplante Stationierung von neuen US-Atomraketen in Westeuropa löste massive Proteste aus. Und obgleich die Initiative für die sogenannte Nachrüstung von den Europäern ausgegangen war und die Debatte darüber auch Schmidts SPD spaltete, richtete sich die Kritik besonders gegen die Vereinigten Staaten. Mehr als vier Millionen Deutsche unterschrieben den Krefelder Appell, der sich gegen die Nachrüstung und „eine Aufrüstung Mitteleuropas zur nuklearen Waffenplattform der USA“ aussprach.[40] Deren Ansehen hatte in einer breiteren deutschen Öffentlichkeit bereits durch den Vietnamkrieg gelitten. Aufgrund seiner scharfen antikommunistischen Rhetorik und der von ihm betriebenen massiven Aufrüstungspolitik befürchteten Teile der westeuropäischen Öffentlichkeit, dass die seit Anfang 1981 von Ronald Reagan geführten USA nicht nur das von Schmidt behauptete Ungleichgewicht beseitigen wollten, sondern einen gefährlichen Konfrontationskurs gegenüber der Sowjetunion steuerten. Der berühmte Künstler Joseph Beuys verlieh seiner Abneigung für das „Knitterface“ im Weißen Haus in für ihn ungewohnter Kunstform Ausdruck: Mit befreundeten deutschen Rock- und Popmusikern produzierte er den Song „Sonne statt Reagan“.[41] Es war dann ausgerechnet Reagan, der gemeinsam mit dem reformorientierten Sowjetführer Michail Gorbatschow im Dezember 1987 in Washington den Vertrag über Intermediate Range Nuclear Forces unterzeichnete, der auch den Abbau der in Westeuropa stationierten Mittelstreckenraketen beinhaltete.
Dass es die USA waren, die den deutschlandpolitischen Spielraum der Bundesrepublik in ähnlicher Weise mitbestimmten wie im Osten die Sowjetunion, erwies sich nach der Maueröffnung im November 1989 als Glücksfall. Präsident George W. Bush hatte bereits bei seinem Deutschlandbesuch im Sommer dieses Jahrs die Deutschen als „Partner in einer Führungsrolle“ bezeichnet.[42] Und er unterstützte früher als andere eine mögliche Wiedervereinigung: „Ich teile nicht die Besorgnis, die einige europäische Länder bezüglich eines wiedervereinigten Deutschlands haben, denn ich halte Deutschlands Verpflichtung und Anerkennung der Bedeutung der Allianz für unerschütterlich“, so Bush im Oktober 1989.[43]
Die NATO-Mitgliedschaft und die weitere Einbindung in den europäischen Einigungsprozess gehörten zu den Bedingungen für eine amerikanische Zustimmung. Helmut Kohl nutzte die Gunst der Stunde. Mit seinem am 28. November 1989 im Bundestag verkündeten „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas“, das letztendlich auf die deutsche Einheit zielte, überraschte der Bundeskanzler auch die Alliierten der Bundesrepublik. Nur Bush hatte er zuvor ins Vertrauen gezogen. Der von den USA maßgeblich unterstützte Zwei-plus-Vier-Vertrag machte dann den Weg zu einem geeinten Deutschland mit voller Souveränität frei, bei weiterem Verzicht auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen sowie der endgültigen Anerkennung der Ostgrenzen. Mit dieser Antwort auf die deutsche Frage und dem damit verbundenen Ende des Kalten Kriegs sollte das deutsch-amerikanische Verhältnis in eine neue Phase der Emanzipation und Normalisierung eintreten.
VI. Zwischen uneingeschränkter Solidarität und „Ich bin nicht überzeugt“
Das Ende des Kalten Kriegs brachte das Ende einer bipolaren Welt und stellte auch das Fundament in Frage, auf dem jahrzehntelang im Guten wie im Schlechten die deutsch-amerikanischen Beziehungen gebaut waren. Erneut waren die Ausgangsbedingungen sehr unterschiedlich. Während die USA zumindest kurzzeitig zu einer Hyperpower aufstiegen, war die Bundesrepublik lediglich eine wirtschaftliche, weiterhin eng in den europäischen Einigungsprozess eingebundene Großmacht. Das nun vereinte Deutschland baute wie viele der NATO-Verbündeten weiterhin auf die weit höheren Rüstungsausgaben der Vereinigten Staaten und deren größere Bereitschaft, das eigene Militär in internationalen Krisen einzusetzen. Die Bundesrepublik muss sich dafür von amerikanischer Seite den bis heute berechtigten Vorwurf eines unfairen Burden Sharing anhören. Doch die Gefahr eines Kriegs in und um das geteilte Deutschland bestand nun nicht mehr. Damit endete die jahrzehntelange Rolle der USA als Schutzmacht und die Notwendigkeit der doppelten Eindämmung. Und damit schwand auch die besondere Bedeutung Deutschlands für die USA. Das zeigte sich im weitgehenden Abzug der in der Bundesrepublik stationierten US-Truppen wie in der Schließung der Amerikahäuser. Der ehemalige Koordinator für deutsch-amerikanische Zusammenarbeit im Außenministerium, Karsten Voigt, brachte es auf den Punkt: Deutschland sei weniger abhängig von den Vereinigten Staaten geworden, aber zugleich auch weniger wichtig für die USA.[44] Diesen Wandel und den Bedeutungsverlust mögen manche bedauern. Aber die Relevanz beruhte vor allem darauf, dass das geteilte Deutschland einen der gefährlichsten Krisenherde im Kalten Krieg darstellte.
Nach 1990 begann eine Normalisierung des Verhältnisses zu den Vereinigten Staaten; noch nicht ganz auf Augenhöhe, aber verbunden mit einer weit größeren, auch außenpolitischen Emanzipation der Bundesrepublik. Das zeigte sich besonders deutlich in der Diskussion um den Krieg gegen den Irak. Einen Tag nach den Anschlägen vom 11. September 2001 versprach Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer Regierungserklärung den USA „uneingeschränkte Solidarität“. Die Bundesrepublik erklärte mit den anderen NATO-Staaten erstmals den Bündnisfall. Schröder stellte im Bundestag die Vertrauensfrage, um deutsche Soldaten im Rahmen des von den USA ausgerufenen Kriegs gegen den Terrorismus nach Afghanistan schicken zu können. In der Frage des Irakkriegs brach die rot-grüne Bundesregierung dann aber deutlich und öffentlich mit den USA. Kanzler Schröder machte explizit Wahlkampf mit seinem Nein zum Irakkrieg, was sein Verhältnis zu US-Präsident George W. Bush nachhaltig beschädigte. Am 8. Februar 2005 bot Außenminister Joschka Fischer dem amerikanischen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bei der Münchner Sicherheitskonferenz offen die Stirn mit seinem emotionalen Zwischenruf: „Entschuldigen Sie, ich bin nicht überzeugt.“ Das war ebenfalls ein Tabubruch, wie auch die New York Times schrieb: „eine Unabhängigkeitserklärung von den Vereinigten Staaten, das Ende eines halben Jahrhunderts fast automatischer Erfüllung amerikanischer Wünsche“.[45] Franz Eder sah in der Tatsache eines solchen Zerwürfnisses zurecht eine „(längst überfällige) Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen“ und beschrieb die offenere Verfolgung eigener nationaler Interessen auf deutscher Seite. Mit seiner These, dass das Nein zum Irakkrieg auch auf einem „befürchteten Machtverlust“ Deutschlands beim „Aufstieg zur Großmacht“ beruht habe, ging er jedoch zu weit.[46]
VII. „Gewissheiten gelten nicht mehr“
Der deutsche Blick auf die USA ist sehr stark abhängig von der Bewertung und Beliebtheit des jeweiligen Manns im Weißen Haus, von seinem Stil und seiner Rhetorik; erst dann auch von seiner Politik. Beim Senator aus Illinois, der schon während des Wahlkampfs eine umjubelte Rede vor gut 200.000 Menschen an der Berliner Siegessäule hielt, war es Liebe auf den ersten Blick. Nach der Wahl von Barack Obama zum Präsidenten am 4. November 2008 stieg fast über Nacht die Beliebtheit der Vereinigten Staaten von 31 auf 64 Prozent. Der extrem populäre Politiker startete in Deutschland mit einer Zustimmungsrate von über 90 Prozent. Der Spiegel zeigte ihn auf den Titelseiten als „Superstar“, mit „Messias-Faktor“ und als „Weltpräsident“. Acht Jahre später, bei der Wahl seines Nachfolgers Donald Trump, war es genau das Gegenteil. Wieder hatte nur noch ein Drittel der Deutschen eine positive Sicht auf die USA, und der neue Präsident bekam gerade noch elf Prozent Zustimmung. Der Spiegel zeigte Trump als wahnsinnigen „Hetzer“, als Gefahr für den Erdball, die Freiheitsstatue köpfend und mit dem rassistischen Ku-Klux-Klan sympathisierend.[47]
Doch auch bezüglich Obama schwand die anfangs blinde Verliebtheit. Die „Normalisierung“ der Beziehungen ging weiter. Dazu gehörte eine in Westeuropa mit Sorge betrachtete stärkere Abwendung von den transatlantischen Beziehungen hin zu denen im Pazifik. Handelskonflikte und die Aufdeckung flächendeckender NSA-Abhöraktionen, die selbst vor dem Handy von Kanzlerin Angela Merkel nicht Halt machten, führten zu einer gewissen Ernüchterung. „Schade,“ so der Titel einer Spiegel-Geschichte im Juni 2012, diesmal über „Obamas missglückte Präsidentschaft“.[48]
Doch bei aller unvermeidbaren Enttäuschung: Merkel und Obama hatten mehr als nur eine pragmatische Arbeitsbasis gefunden. Zum Ende seiner Amtszeit besuchte der Präsident die Kanzlerin noch einmal. „Sie war seine engste Partnerin in einer Welt mit wenig Freunden“, so Ben Rhodes, der Obama acht Jahre als stellvertretender Sicherheitsberater gedient hatte. Beim Abschied habe sich eine Träne in Merkels Augen gezeigt, „was noch keiner von uns je gesehen hatte“. Angela sei nun ganz auf sich alleine gestellt, so Obama.[49]
Der oftmals zu nostalgische Blick zurück in die Obama-Jahre erklärt sich auch aus dem, was folgte. Den Deutschen war von Anfang an klar, dass Trump nicht ihr Freund werden würde, und sie fühlen sich durch seine konfrontative Rhetorik und seine America First-Politik, seine Infragestellung multilateraler Organisationen und von kollektiver Sicherheit – und damit explizit der NATO – bestätigt. Der Vertrauensverlust ist ebenso groß wie die Unsicherheit. Oder um mit Hans-Peter Schwarz zu sprechen: „The old certainties are past.“[50] Der Historiker und Politologe aus Bonn schrieb diesen Satz im März 2003, also zu Beginn des Irakkriegs. Das Gefühl ist also nicht ganz neu in den deutschen-amerikanischen Beziehungen. Und selbst vor Trump und zum Teil auch in der Zeit von Obama haben die USA immer wieder unilaterale Lösungen bevorzugt, haben internationale Organisationen meist nur dann vorbehaltlos unterstützt, wenn dies in ihrem eigenen Interesse war. Aber auch unter Trump sind die USA weiterhin Mitglied der NATO, engagieren sie sich weiterhin mehr als alle anderen Mitglieder, und auf vielen Gebieten läuft die alte Zusammenarbeit weitgehend ungestört weiter.
VIII. Schluss
Ohne Zweifel, die Bundesrepublik und die USA haben sich nach einer langen und nicht immer einfachen Beziehung voneinander entfremdet. Es wird sicherlich nie mehr so wie früher – und das ist auch gut so. Make the German American Relations Great Again wäre ein nostalgischer, aber nicht unbedingt wünschenswerter Blick zurück in die gute/schlechte alte Zeit des Kalten Kriegs. Ob die aktuellen Entwicklungen auch tiefgreifende langfristige Folgen für das deutsch-amerikanische Verhältnis haben werden oder – wahrscheinlicher – letztendlich nur Entwicklungen in einem Normalisierungsprozess beschleunigen, die bereits begonnen hatten, steht noch nicht fest. Eine aktuelle Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zeigt, dass die Bundesrepublik nur für wenig mehr als zehn Prozent der Amerikaner zu den zwei wichtigsten internationalen Partnerländern gehört. Für 42 Prozent der Deutschen liegen die USA hinter Frankreich immerhin auf Platz zwei. Gleichzeitig hielten in den letzten Jahren mehr als zwei Drittel der Amerikaner die gegenseitigen Beziehungen für gut, eine ähnlich hohe Zahl der Deutschen jedoch für schlecht. Kategorien wie nicht (mehr) so wichtig entsprechen dabei ja durchaus der offiziellen US-Politik, ebenso wie andersherum weiterhin sehr wichtig, aber (leider) auch schwierig.[51]
Trump – und die Republikanische Partei – mögen zu einem eher düsteren Ausblick verleiten. Die Bewertung der USA vor allem über ihre Präsidenten ist zwar problematisch, andererseits kann sich das Bild schnell wieder wandeln, wenn es einen neuen Amtsinhaber gibt, der den Deutschen genehmer ist; umso mehr, wenn die jeweiligen Personen an der Spitze auch ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis entwickeln. Der oftmals sehr negative Blick auf die USA entspringt jedoch nicht unbedingt einem tief verwurzelten Antiamerikanismus, sondern einem insgesamt sehr positiven Amerikabild und aus der Enttäuschung, dass die USA immer wieder an der Einlösung ihrer Ideale scheitern.
Auch wenn die Strahlkraft des gelobten Lands gerade auch bei jungen Menschen deutlich nachgelassen hat und sie das tretmühlenartige Beschwören der gemeinsamen Wertegemeinschaft nicht mehr hören können, so verfügt weiterhin keine andere Nation für die Deutschen über eine vergleichbare Soft Power. Das wird auf absehbare Zeit so bleiben. Dass die USA auf vielen Feldern eine internationale Führungsrolle nicht mehr wahrnehmen wollen oder können, wird je nach Thema bedauert (Umweltpolitik) oder gut geheißen (Interventionen). Die deutsche Soft Power wird eher begrüßt, die wirtschaftlich-finanzielle oft kritisiert, die militärische für zu schwach befunden. Die Deutschen sind nach 1990 zwar keine Großmacht, aber doch wieder ein größerer Faktor der Weltpolitik geworden. Doch dass sie nicht bereit sind, die sich daraus ergebenden Verpflichtungen in größerem Maße zu akzeptieren, nicht zuletzt, weil der US-Faktor kleiner wird, wird wohl ebenfalls auf absehbare Zeit so bleiben.
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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